KAPITEL SIEBEN

Inspector Benjamin Ross

Es war ein frustrierender Gedanke, dass Lizzie uns beim Haus der Witwe Jameson nur knapp verpasst hatte. Natürlich war ich begierig, mich mit Kohlenhaus-Joey zu unterhalten. Wenn wir ihn erst hatten, würde ich das auch sicherlich tun. Doch das konnte noch eine Weile dauern. Joey würde wissen, dass wir ihn suchten, und uns aus dem Weg gehen. Doch er konnte sich nicht für immer verstecken. Das Gebiet um die Waterloo Bridge Station war sein Revier. Hier bettelte er nach eigener Aussage an den Hintertüren der Haushalte und Gaststätten. Hier kannte man ihn, und hier wusste er, wo man ihm wohlgesonnen war. Er würde nicht hungern, wenn er hier seine regelmäßigen Almosen und Essensreste bekam. Er würde für eine Weile untertauchen, doch dann würde er zurückkehren. Der Hunger würde ihn treiben, und Hunger war stärker als Vorsicht.

Nach dem Wortwechsel mit Dunn war Lizzie mit fliegenden Röcken aus dem Zimmer geeilt. Ihr Verhalten ließ mich vermuten, dass sie an irgendeiner Aussage Dunns Anstoß genommen hatte. Das war bedauerlich, da ich aus Dunns eigenem Mund wusste, wie sehr er ihren scharfen Verstand schätzte. Doch Frauen reagieren eben manchmal aus völlig unerklärlichen Gründen empfindlich. Eine harmlose Bemerkung über die etwas trockenen Schweinekoteletts wird augenblicklich als völlig misslungene Mahlzeit und schwere Kritik am Koch ausgelegt. Eine als Kompliment gedachte Bemerkung, dass ein bestimmtes Kleid der Ehefrau besonders gut stand, führte unweigerlich zu der säuerlichen Erwiderung, man müsse stets das Gleiche anziehen und habe zu wenig Garderobe. Machte man zu viele Komplimente, so war das verdächtig. Machte man keine, so lief man Gefahr, als unaufmerksam und gefühlskalt beschimpft zu werden. All das gilt natürlich nicht für Lizzie. Sie ist viel zu intelligent und einfühlsam, und ich denke, dass wir einander gut genug verstehen, um solch törichte Zankereien zu vermeiden. Ich spreche mehr im Allgemeinen, gestützt auf die Klagen meiner verheirateten Kollegen. Mrs. Morris beispielsweise ist, wie man mir gesagt hat, äußerst sensibel, was ihre Fertigkeiten als Köchin betrifft.

Sei es, wie es wolle, am nächsten Morgen setzte ich meine Hoffnungen zunächst auf die Berichte über den Mord, die am Abend zuvor in den Zeitungen erschienen waren. In London gab es eine Menge Vermisster und noch mehr Leute, die nach ihnen suchten. Mit ein wenig Glück würden Letztere schon bald einen Weg zum Scotland Yard finden.

Und tatsächlich, bis zum frühen Nachmittag hatte ich bereits drei erwartungsvolle Besucher gehabt, alle aufgrund der Zeitungsmeldung, und alle waren fest überzeugt, bei dem Toten würde es sich um die gesuchte Person handeln. Unglücklicherweise stimmten in keinem der drei Fälle die Beschreibungen der vermissten Personen mit dem Erscheinungsbild Tapleys überein.

Doch das wollten die Besucher nicht hören. Sie beharrten darauf, dass es sich bei dem Leichnam um ihren abtrünnigen Ehemann, säumigen Mieter oder den Mann handelte, der sie dazu überredet hatte, in eine todsichere Sache zu investieren oder ihr Geld an der Börse anzulegen. In zwei Fällen gab es keinerlei Grund für Optimismus. Ich schickte den Mann, dessen Mieter sich bei Nacht und Nebel davongemacht hatte, in Begleitung Biddles zum Leichenhaus, obwohl die Wahrscheinlichkeit äußerst gering war, dass er die Leiche kannte. Biddle kam denn auch mit der Nachricht zurück, dass der Gentleman den Toten nicht hatte identifizieren können und höchst aufgebracht mit den Worten gegangen wäre, das Scotland Yard hätte seine kostbare Zeit verschwendet.

Es war kurz nach zwei Uhr nachmittags. Ich hatte noch nicht zu Mittag gegessen, und der quälende Hunger lenkte mich von meiner Arbeit ab. Ich überlegte gerade, ob ich Biddle losschicken sollte, um Kalbspasteten zu kaufen, als er aufgeregt in meinem Büro erschien und atemlos verkündete, ein gewisser Mr. Jonathan Tapley wünschte mit mir zu sprechen. Er hielt mir die Karte mit vor Aufregung zitternden Händen hin.

Tapley! Mein Herz machte einen Sprung. »Schicken Sie ihn rein!«, wies ich Biddle an und erhob mich zur Begrüßung. Ich hätte mir besser einen Moment Zeit genommen, um die kleine weiße Visitenkarte zu lesen, die Biddle mir hinhielt. So wäre ich vorgewarnt gewesen. Doch in der Erwartung, jemanden mit dem Namen Tapley sprechen zu können, unterließ ich es. Ich legte die Karte achtlos auf den Tisch und wartete. Ich war ähnlich aufgeregt wie Biddle, doch ich hoffte, dass man mir das nicht so offenkundig ansah.

Da ich Thomas Tapley mitunter in der Nachbarschaft begegnet war (und seinen Leichnam aus nächster Nähe gesehen hatte), erwartete ich vermutlich, jemanden mit einer ähnlichen Erscheinung zu sehen, vielleicht sogar einen Doppelgänger. In jedem Fall eine recht kleine und möglicherweise abgerissene Person. Umso überraschter war ich, als ein sehr großer, schlanker und eleganter Gentleman mein Büro betrat, umgeben von einer Aura der Autorität. Er trug einen meisterhaft geschneiderten Gehrock und einen Malakka-Gehstock mit elfenbeinfarbenem Knauf. Er nahm unaufgefordert Platz und legte seinen makellosen Zylinderhut auf meinem Schreibtisch ab. Sein schwarz gelocktes Haar wurde an den Schläfen grau. Ohne Zweifel war er ein attraktiver Mann.

»Sie sind Inspector Ross?«, erkundigte er sich. Seine Stimme war nicht wirklich laut, doch sie hatte einen eindrucksvollen Klang und füllte die kleine Abstellkammer, die das Yard mir als Büro zugeteilt hatte, völlig aus. Sein Verhalten erweckte den Eindruck, als würde ich ihm Umstände bereiten.

Irgendetwas lief grundlegend falsch. Hier hatte ich das Sagen, und ich beeilte mich, die Situation zu korrigieren.

»Ja, der bin ich«, bestätigte ich. »Und Sie sind …« Ich warf einen demonstrativen Blick auf die Karte und las erschrocken vor: »J. G. Tapley Q.C., Rechtsanwalt.«

Natürlich hatte ich bereits von ihm gehört. Er war Mitglied in zahlreichen altehrwürdigen Kammern. Doch er war darauf spezialisiert, die Angelegenheiten der wohlhabenden Bevölkerung zu vertreten. Er arbeitete nicht als Strafverteidiger, weswegen ich ihm noch nie zuvor persönlich begegnet war. Als Biddle den Besucher angekündigt hatte, hatte ich nicht damit gerechnet, dass es sich um diesen Jonathan Tapley handeln könnte. Die Tatsache, dass ein so berühmter Anwalt höchstpersönlich hier im Yard erschien, ließ die Umstände, die dazu geführt hatten, dass Thomas Tapley als Untermieter im Obergeschoss der Witwe Jameson gelebt hatte, noch geheimnisvoller erscheinen. Vorausgesetzt, dass diese beiden Männer in einer Verbindung zueinander standen. Zumindest schien mein Gast Grund zu der Annahme zu haben, dass es so war. Dennoch wollte mir der Gedanke, dass der Tote in unserem Leichenhaus und dieser angesehene Gentleman hier in meinem bescheidenen Büro miteinander in Verbindung standen, nicht so recht in den Kopf.

Ich bemühte mich, mir meine Verwirrung nicht anmerken zu lassen. »Ihr Name ist mir wohlbekannt, Mr. Tapley. Ich fühle mich geehrt, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, Sir. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« So weit, so gut. Doch dann platzte es gegen meinen Willen aus mir heraus. »Haben Sie Informationen für uns?«

Tapley parierte mühelos. »Eigentlich hoffe ich, dass Sie Informationen für mich haben, Inspector.«

Er legte seine behandschuhten Hände auf den elfenbeinernen Knauf seines Gehstocks und sah mich erwartungsvoll an. Der starre Blick seiner dunklen Augen erinnerte mich an meinen alten Schullehrer. Ich fühlte mich auf unangenehme Weise in meine Kindheit zurückversetzt, wo ich als Zwölfjähriger beschuldigt wurde, mich mit meinen Schulkameraden geprügelt zu haben. Eilig setzte ich mich wieder. »Vielleicht teilen Sie mir zunächst einmal mit, was Sie zu uns führt, Mr. Tapley.«

Falsch, Ross, du dummer Junge! Denk daran, dass du durch einen Akt der Wohltätigkeit hierhergekommen bist. Wenn du nicht möchtest, dass der gute Ruf dieser alten und angesehenen Schule leidet, und du deinem Wohltäter keine Schande machen willst, solltest du zumindest deine Sinne beisammenhalten. Mein Gegenüber sagte nichts dergleichen, doch sein Blick sprach Bände.

»Die Berichte in den gestrigen Abendzeitungen dürften Ihnen nicht unbekannt sein, Inspector. Möglicherweise sind Sie sogar der Urheber. Berichte, denen zufolge man einen ermordeten Mann in seiner Unterkunft nahe der Waterloo Bridge Station gefunden hat.«

»Durchaus richtig«, gestand ich. »Der Leichnam wurde vorgestern Abend gefunden. Ich habe dafür gesorgt, dass die Nachricht am nächsten Tag in den Nachrichten war. Wir sind nicht sicher, was die Identität des Verstorbenen angeht. Seine Vermieterin weiß nur wenig über ihn. Er hat ihr gegenüber nichts von einer Familie erwähnt. Uns ist niemand aus seiner Verwandtschaft bekannt. Daher konnte er bis jetzt noch nicht von einer nahestehenden Person identifiziert werden. Es wäre möglich, dass er der Vermieterin einen falschen Namen genannt hat. Nicht zu wissen, wer er ist, behindert unsere Ermittlungen.«

Jonathan Tapley hob eine glacé-behandschuhte Hand und unterbrach mich. »Ich möchte den Leichnam sehen. Stellt das ein Problem dar?«

»Nein, Sir, keineswegs. Dürfte ich fragen, aus welchem Grund …?«

»In dem Artikel stand nichts über die Todesursache«, unterbrach er mich erneut. »Doch da es ein Mord war, ist er offensichtlich keines natürlichen Todes gestorben.«

»Er hat üble Verletzungen im Bereich des Kopfes, Mr. Tapley.«

»Sind die Verletzungen im Gesicht?« Für den Fall, dass unser Besucher unter Umständen ein Verwandter des Toten war, hörte er sich ausgesprochen gelassen an.

»Nein, Mr. Tapley. Die Hiebe haben ihn am Hinterkopf getroffen.«

»Nun denn«, entgegnete mein Gast, indem er sich erhob und seinen Zylinder nahm. »Vielleicht hätten Sie die Güte, mich zur gegenwärtigen Ruhestätte des Leichnams zu geleiten.«

Ich brannte geradezu darauf. Möglicherweise ließ Tapley sich auf dem Weg dorthin herab, mir seine Beweggründe mitzuteilen. Doch wie sagt man so schön? Er ließ sich nicht in die Karten blicken. Wenn ihm der Tote unbekannt war, würde er vermutlich wieder verschwinden, ohne mir eine Erklärung zu liefern. Doch irgendeine geheime Befürchtung hatte ihn hierher getrieben. Ich fragte mich, ob seine Fassade bröckeln würde, wenn er den Toten sah. Doch dem war nicht so. Zumindest äußerlich schien er völlig gefasst.

»Ja«, äußerte er knapp, während sein Blick auf dem wachsbleichen Gesicht ruhte.

»Sir?«

»Was?« Er starrte mich für einen Moment verblüfft an, als wären seine Gedanken davongewandert vor dem traurigen Anblick. »Ja, ich kann ihn identifizieren«, riss er sich sogleich wieder zusammen. »Bei dem verstorbenen Gentleman handelt es sich um meinen Cousin, Thomas Tapley.«

Er sah erneut auf den Leichnam hinunter. »Ist das der Name, den er benutzt hat? Er hat der Vermieterin seinen richtigen Namen genannt?«

»Nachdem Sie uns bestätigt haben, dass es sein richtiger Name war – ja.«

Jonathan Tapley warf einen letzten Blick auf seinen toten Cousin. Dann wandte er sich ab. »Seltsam«, bemerkte er.

Draußen vor der Leichenhalle setzte er seinen Hut auf. »Nun muss ich meiner Familie die traurige Nachricht überbringen, Inspector. Sie werden verstehen, dass dies keine Verzögerung duldet. Vielleicht möchten Sie mich später in meiner Kanzlei in der Gray’s Inn Road aufsuchen? Sagen wir um fünf?«

»Nun ja«, widersprach ich. »Wenn Sie sich vorher einen kurzen Moment Zeit für ein paar Fragen nehmen könnten, die uns weiterhelfen …?«

»Ich bezweifle, dass ich Ihnen weiterhelfen kann, Inspector. Es ist eine ganze Weile her, seit ich meinen Cousin zum letzten Mal gesehen oder sonst wie mit ihm in Kontakt gestanden habe. Mir war nicht bekannt, dass er sich in London aufhielt. Doch ich bin genauso begierig wie Sie zu erfahren, was passiert ist. Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis?«

»Natürlich, Sir.« Die Fragen brannten mir auf der Zunge, doch ich hielt mich zurück. Es war sinnlos, ihn zu bedrängen. Er würde reden, wenn er bereit war, und ich hatte dies zu akzeptieren. Ich befürchtete nur, dass er und die restlichen Mitglieder seiner Familie in der Zwischenzeit ihre Aussagen abgleichen könnten.

Er hob seinen Gehstock und schwenkte ihn grüßend zum Abschied. Mir fiel auf, dass der elfenbeinfarbene Knauf die Form eines Totenschädels hatte. Er machte einen ausgesprochen massiven Eindruck.

Jonathan Tapley war geschult darin, die Reaktionen von Zeugen zu lesen. Er verzog das Gesicht zu einem freudlosen Lächeln. »Ja, Inspector, es ist ein wunderschönes Stück. Malayische Handwerkskunst. Ich habe ihn immer dabei. Doch ich habe ihn nicht benutzt, um meinem Cousin den Schädel einzuschlagen. Guten Tag, Inspector. Bis um fünf Uhr.«

Er schritt davon, und ich sah, wie er ein weiteres Mal den Stock erhob, diesmal um eine Kutsche anzuhalten.

Bis zu meinem Termin mit Jonathan Tapley waren es nur wenig mehr als zwei Stunden, und ich gab mein Bestes. Ich versuchte so viel wie möglich über Jonathan Tapley und alle anderen Mitglieder der Familie herauszufinden. Ich schickte Sergeant Morris zum Somerset House und begab mich zur nächstgelegenen Bibliothek. Kurz bevor ich mich auf den Weg zu Tapleys Kanzlei aufmachte, trafen wir uns und tauschten kurz aus, was wir an Informationen zusammengetragen hatten.

Der Rechtsanwalt war mühelos in den Adressbüchern ausfindig zu machen. Er war der Sohn eines Colonels der Foot Guards der Britischen Armee. Geboren im Jahr 1819, war er zum jetzigen Zeitpunkt, im Frühling des Jahres 1868, zweiundfünfzig Jahre alt. Vielleicht, spekulierte ich müßig, hatte der Soldatenvater seinen Teil dazu beigetragen, Napoleons Ambitionen auf dem Schlachtfeld von Waterloo zunichtezumachen, um sich hernach in Friedenszeiten als verheirateter Familienvater niederzulassen.

Wie dem auch sein mochte, nach einem Studium in Oxford hatte Jonathan Tapley unermüdlich an seiner juristischen Karriere gearbeitet. Im Jahre 1846 hatte er eine gewisse Maria Harte geheiratet. Über die Heirat existierten keine weiteren Aufzeichnungen. Seine Londoner Adresse befand sich am Bryanston Square. Des Weiteren besaß er einen Landsitz in Buckinghamshire. Mr. Jonathan Tapley Q. C. war ein ebenso erfolgreicher wie wohlhabender Mann. Hatte er sein Vermögen geerbt, hatte er es im Verlauf seiner erfolgreichen Karriere als Anwalt verdient, oder hatte er, wie man so schön sagt, in Geld hineingeheiratet?

Sein Cousin Thomas war ein ganz anderes Kaliber. Ich fand keinerlei Hinweise auf ihn. Sein Geburtsdatum war womöglich im Taufverzeichnis der Gemeinde aufgezeichnet, in der er geboren war. Doch ich hatte keine Ahnung, wo das war; das Datum lag weit vor der gesetzlichen Bestimmung, dass alle Geburten bei einer offiziellen Behörde registriert werden mussten. Er war in keinem der öffentlichen Verzeichnisse juristischer, ärztlicher oder geistlicher Berufe geführt und erschien auch in keiner Liste des Militärs oder der Marine.

Morris war um einiges erfolgreicher gewesen als ich. Er hatte zwar ebenfalls kein Geburtsdatum gefunden, doch in den Aufzeichnungen von Somerset House hatte er Einzelheiten über eine Hochzeit im Jahre 1848 gefunden, zwischen Thomas Tapley, Gentleman, wohnhaft in Harrogate, und Eulalia Sanders, Tochter von Alexander Sanders, Gentleman. Die Hochzeit hatte in Harrogate stattgefunden. Handelte es sich hierbei um unseren Thomas Tapley oder nur um einen Namensvetter? Jonathan konnte mir mehr dazu erzählen. Morris hatte bei seinen intensiven Nachforschungen in Harrogate auch einen Eintrag über ein kleines Mädchen namens Flora Jane entdeckt, geboren 1848 als Tochter von Thomas Tapley, Gentleman, und seiner Ehefrau Eulalia. Er hatte keinen Hinweis über weitere aus dieser Ehe entsprungene Kinder gefunden.

»Die Sache wird allmählich interessant, Morris!«, rief ich aus. »Mag sein, dass wir der falschen Fährte nachjagen, doch wenn dieser Thomas Tapley mit unserem Ermordeten identisch ist, wo sind dann heute seine Frau und sein Kind?«

»Wahrscheinlich ist er abgehauen und hat sie im Stich gelassen«, entgegnete Morris, dessen Erfahrungen als Polizeibeamter dazu geführt hatten, dass seine Meinung in Bezug auf die menschliche Natur stark gelitten hatte.

»Wir werden sehen …«, erwiderte ich, setzte meinen Hut auf und machte mich auf den Weg.

Der Bürovorsteher von Tapleys Kanzlei war ein nichtssagender Zeitgenosse, dessen Hautfarbe den Eindruck entstehen ließ, dass er nur selten ans Tageslicht kam. Er trug einen Kneifer, den er abnahm und in der Hand hielt, während er mich in Tapleys Bau führte.

»Inspector Ross ist da, Sir«, kündigte er mich mit einer Stimme an, die ebenso trocken war wie der Rest von ihm.

Tapleys Arbeitszimmer war komfortabel eingerichtet. Im Stillen verglich ich den Raum mit meinem Büro im Yard, einem Produkt übertriebener polizeilicher Sparsamkeit. Im Kamin knisterte ein Feuer. Zwei lederbezogene Sessel standen zu beiden Seiten davon, und auf einem niedrigen Tisch stand griffbereit eine Karaffe mit Sherry. Der Schreibtisch war aus Mahagoni, und an den Wänden reihten sich ledergebundene Folianten. Ich warf einen kurzen Blick darauf und erkannte, dass sie ausnahmslos verschiedenste Themen der Jurisprudenz behandelten. Sollte Tapley einmal unsicher sein, so musste er nur die Hand ausstrecken und konnte alles nachschlagen.

Mein forschender Blick war nicht unbemerkt geblieben.

»Der Raum ist zwar gemütlich, doch recht klein für seine Zwecke«, bemerkte Tapley. »Ich habe einen Partner, doch er hält sich derzeit außerhalb auf, so dass wir ungestört sind.«

Er bedeutete mir mit einem eleganten Wink Platz zu nehmen. Ich ließ mich in einen der Lehnsessel sinken. Tapley hingegen blieb stehen. Dies verschaffte mir einen Nachteil, da er mich überragte. Der Anwalt Tapley wusste um all die kleinen Tricks, die man im Gerichtssaal anwandte, dachte ich säuerlich.

»Einen Sherry, Inspector?«

»Danke sehr, doch es ist uns nicht gestattet, im Dienst zu trinken«, erwiderte ich. Und das ist dir ganz bestimmt bekannt, nicht wahr?, hätte ich beinahe gefaucht.

»Natürlich.« Er ging zum Fenster und blieb mit auf dem Rücken verschränkten Händen davor stehen, während er nach draußen sah.

»Hatten Sie mittlerweile Gelegenheit, Ihrer Familie die traurige Neuigkeit zu überbringen?«, nahm ich das Gespräch in die Hand, entschlossen, mich nicht wie eine Marionette von ihm beeinflussen zu lassen.

Er drehte sich um und kam auf mich zu. »Gewiss. Genauer gesagt, ich habe es meiner Gattin erzählt. Es hat sie sehr getroffen. Ich musste es ihr überlassen, meine Nichte Flora zu unterrichten.« Er nahm in dem anderen Lehnsessel mir gegenüber Platz.

Flora?, überlegte ich. Es sah mehr und mehr danach aus, als handelte es sich bei dem von Morris in Harrogate ausfindig gemachten Thomas Tapley tatsächlich um den kürzlich verstorbenen, unglückseligen Untermieter der Witwe Jameson.

»Ich wäre dankbar für jedes noch so unbedeutende Detail bezüglich ihres verstorbenen Cousins, das Sie mir mitteilen können.«

Er nickte. »Ich werde mich bemühen, auch wenn es schmerzlich ist und mich in Verlegenheit bringt.« Er atmete tief durch. »Wir stehen beide in Diensten des Gesetzes, Inspector. Wir wissen beide, dass selbst die angesehensten Bürger und die ehrbarsten Familien ihre Geheimnisse haben, von denen sie nicht möchten, dass sie an die Öffentlichkeit gelangen. Wir wissen auch, dass ein Mord ausgiebige Ermittlungen nach sich zieht. Üblicherweise führen sie zu der Person, die das Verbrechen ausgeübt hat. Sie fördern allerdings auch Geheimnisse zutage, ob man das nun will oder nicht. Die erforderliche gründliche Vorbereitung, um einen solchen Fall vor Gericht zu verhandeln, verwandelt das Leben manches Betroffenen in ein offenes Buch.«

Er hatte reichlich Zeit gehabt, um sich diese hübsche Rede zurechtzulegen. Doch ich las leichter zwischen den Zeilen, als er es mir zutraute. Ich antwortete, wie er es von mir erwartete.

»Selbstverständlich müssen dem zuständigen Ermittler Geheimnisse offengelegt werden. Doch sie sind lediglich von Interesse, wenn sie in direktem Zusammenhang mit dem Verbrechen stehen. Was für die Öffentlichkeit nicht interessant ist und keinen Bezug zum Verbrechen aufweist, nun, das muss selbstverständlich nicht für jedermann ruchbar werden.«

Ich glaubte Erleichterung bei ihm zu sehen. »Ganz recht«, stimmte er mir zu. »Ich danke Ihnen, Inspector.«

Bedauerlicherweise musste ich ihm gleich wieder einen Dämpfer versetzen. »Ich muss Sie nicht daran erinnern, dass die Herren von der Presse das ganz anders sehen. Es ist gar nicht so einfach, ihnen etwas zu verheimlichen. Ich habe keinen Einfluss darauf, was sie mit den gefundenen Informationen anstellen.«

»Ich bin mir dessen bewusst«, entgegnete er bitter. »Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie die Presse in Schach halten, Ross. Es ist an mir selbst, das zu versuchen, hoffentlich mit Erfolg. Mir ist bewusst, dass es mir möglicherweise nicht gelingt.«

»Andererseits könnte uns die Presse auch von großem Nutzen sein«, merkte ich an. »Wäre es mir nicht möglich gewesen, die Meldung über das Auffinden einer Leiche in den Abendausgaben der Londoner Zeitungen zu inserieren, wären Sie nicht darauf aufmerksam geworden. Wir würden jetzt nicht diese Unterredung führen. Weitere Hinweise zu diesem Fall führen vielleicht dazu, dass sich irgendwo irgendjemand an irgendetwas erinnert und uns weitere wichtige Informationen liefert. Wir versuchen den schlimmsten Sensationsjournalismus zu vermeiden, sonst würden wir womöglich mit haarsträubenden Geschichten und wilden Behauptungen nur so überschüttet. Wir werden versuchen alles Persönliche und für die Familie Peinliche herauszuhalten. Doch wenn wir wollen, dass die Zeitungen uns helfen, müssen wir ihnen im Gegenzug etwas anbieten. Es ist eine Gratwanderung, Mr. Tapley.«

Er nickte, atmete tief durch und legte die Spitzen seiner langen, schlanken Finger aneinander. »Ich hoffe, Sie nehmen mir meine Worte nicht übel – doch Sie machen auf mich einen feinsinnigeren Eindruck als die meisten anderen Polizeibeamten. Ich hatte im Verlauf meiner Karriere mit einigen unglaublich phantasielosen Gestalten zu tun – manche davon richtige Schafsköpfe. Offensichtlich gehören Sie nicht in diese Kategorie. Ich bin sicher, Sie werden alles, was ich Ihnen mitteile, vertraulich behandeln.« Er hielt inne. »Haben Sie vor, sich Notizen dazu zu machen?« Er hob fragend die Augenbrauen.

Ich merkte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. »Wenn Sie gestatten, so werde ich ein paar Notizen machen, Sir. Damit ich Sie nicht unnötigerweise noch einmal belästigen muss.«

Ich angelte nach meinem Notizbuch und dem Bleistift und machte mich bereit.

»Nun denn …«, begann er. »Mein Vater war der jüngere von zwei Brüdern. Er wurde Soldat. Sein älterer Bruder ging die Dinge anders an. Er heiratete eine reiche Erbin. Im Jahr 1806 wurde mein Cousin Thomas geboren. Möglicherweise wissen Sie bereits, dass ich 1816 geboren wurde …«

Wieder spürte ich, wie mir die Röte in die Wangen stieg. Ich hoffte, dass es unbemerkt blieb oder dass er es der Hitze des Feuers zuschrieb, während ich darüber sinnierte, dass Tapley all die kleinen mentalen Tricks eines Anwalts beherrschte und dass ich auf der Hut sein musste, um nicht die Kontrolle über das Gespräch zu verlieren. Bisher schien er mir stets einen Schritt voraus zu sein.

»… folglich war Tom volle zehn Jahre älter als ich. Das erklärt, warum wir als Jungen nicht so viel miteinander zu tun hatten. Ich war ein kleiner Schreihals, als er sich bereits einbildete, ein ganzer Kerl zu sein. Als ich zehn Jahre alt war, war Tom draußen in der weiten Welt unterwegs. Seine Kindheit war überschattet vom Tod seines Vaters, meines Onkels, der starb, als Tom sieben Jahre alt war. Danach wurde er von seiner Mutter großgezogen, die sich hingebungsvoll um ihn kümmerte. Er wurde zu Hause unterrichtet, da sie entschieden hatte, dass er zu sensibel war, um eine normale Schule zu besuchen …«

Jonathan Tapley stockte für einen Moment, bevor er hinzufügte, was man für trockenen Humor oder aber auch Verbitterung halten konnte. »Bei mir hat sich niemand Gedanken gemacht, ob ich zu sensibel sein könnte, um fernab von zu Hause mit den Unbilden einer Internatsschule zurechtzukommen!«

»Ich habe mit zehn Jahren in den Kohleminen von Derbyshire gearbeitet.« Ich konnte mir den schroffen Unterton nicht verkneifen.

Endlich hatte ich ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Er starrte mich überrascht an. »Tatsächlich?« Er musterte mich lange und ausgiebig, bevor er fortfuhr. »Mein Cousin Tapley hatte ein weitaus leichteres Leben als wir beide. Wenn ich mir die Frage erlauben darf, wie sind Sie aus den Kohleminen entkommen und zur Polizei gelangt?«

»Ein großzügiger Wohltäter, ein ortsansässiger Arzt, hat sich meiner und eines weiteren Jungen angenommen. Er hat uns aus den Minen geholt und unsere Ausbildung bezahlt«, klärte ich ihn auf.

»Dann haben Sie es Ihrem Wohltäter mehr als vergolten.«

Bedauerlicherweise hatte Dr. Martin nicht lange genug gelebt, um zu sehen, wie aus seinem Mündel ein Police Inspector geworden war, der sogar seine Tochter geheiratet hatte. Letzteres war vielleicht besser so.

Tapley setzte seine Erzählung fort. »Tom blieb also vorerst zu Hause und hing am Zipfel seiner fürsorglichen Mutter sowie einer Schar von Tanten und anderen alten Frauen. Es gibt ein Porträt von ihm, auf dem man sieht, dass er ein hübscher Knabe gewesen ist. Es fiel ihm nicht schwer, die ganze ihn umgebende Weiberschar zu umgarnen. Er besaß einen wachen Verstand und wäre bei entsprechender Ermutigung ein erstklassiger Gelehrter geworden. Doch wie die Dinge lagen, verkam er zu einem Dilettanten, der sich an Literatur versuchte, an Kunst und an Naturwissenschaften, je nachdem, wie es ihm gerade in den Sinn kam.«

»In seiner Unterkunft, wo er auch starb, hatte er eine recht umfangreiche Bibliothek.«

»Armer Tom«, entgegnete sein Cousin. »Er liebte Bücher, mied allerdings die Themen, die sein langjähriger Hauslehrer ihm antrug. Doch eine Sache hat er aus der Art seiner Erziehung gelernt, Ross, und zwar gründlich. Er fand heraus, wie er mit den zarten Gemütern älterer Frauen umgehen musste. Er gelangte zu der Überzeugung, dass es immer eine weibliche Seele geben würde, die sich um ihn kümmerte. Als er älter wurde, starben die Frauen seiner Kindheit oder verschwanden aus seinem Leben. Seine Mutter starb, als er Ende zwanzig war. Doch er schien stets einen Ersatz zu finden, der ihre Stelle einnahm.«

So wie Mrs. Jameson und vor ihr die Vermieterin aus Southampton, die ihn so wärmstens empfohlen hatte.

Zum ersten Mal, seitdem wir uns begegnet waren, bemerkte ich in Jonathan Tapleys Blick Unbehagen. »Er wurde nach Oxford geschickt, doch er blieb nur für kurze Zeit dort. Er verließ die Universität, wie sagt man gleich, bei Nacht und Nebel. Es gab einen Zwischenfall …« Tapley war jetzt eindeutig gestresst. »Er wurde mit einem weiteren Studenten bei etwas überrascht, das nach dem Gesetz als widernatürliche Handlung gilt und unter Strafe steht. Damals, all dies passierte 1824, wurde man dafür gehängt. Diese furchtbare Strafe wurde inzwischen Gott sei Dank abgeschafft, aber die Tat wird weiterhin mit Zuchthaus bestraft. Deswegen hat sich eine Kultur der Verschwiegenheit um das ganze Thema gebildet. Doch wem erzähle ich das, Sie sind schließlich Polizist.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Damals reagierte man schnell, effizient und vertraulich. Es war im besten Interesse der beiden Familien und der Universität, ganz zu schweigen von den unglückseligen Jungen. Tom war damals gerade achtzehn und völlig von Sinnen angesichts der über ihm schwebenden Gefahr. Doch es war nicht genug, als dass er hernach ein lebenslanges Zölibat gewählt hätte. Es gab weitere Zwischenfälle, die vertuscht wurden. Es schien offensichtlich, dass Frauen in Toms Augen zwar für den häuslichen Komfort sorgten, sich dies jedoch nicht auf ein gemeinsames Schlafzimmer erstreckte. Seine persönliche Vorliebe in dieser Hinsicht galt eindeutig dem eigenen Geschlecht.«

Tapley verstummte. Ich dachte an die Geschichte, die Kohlenhaus-Joey erzählt hatte, und den heimlichen Besucher bei Thomas, während seine Vermieterin außer Haus gewesen war. Hatte es sich womöglich um ein Rendezvous gehandelt? Andererseits, warum sollte Tapley ein solches Risiko auf sich nehmen und einen jungen Liebhaber in seine Wohnung bestellen? Es gab anonymere Orte, wo er sich hätte verabreden können, ohne Angst vor Entdeckung haben zu müssen. Doch wenn körperliches Verlangen den Verstand überrollte, verhielten sich viele Leute töricht.

Ich sah keine Veranlassung, Tapley gegenüber Joeys Geschichte zu wiederholen. Ich hatte noch nicht persönlich mit dem Jungen gesprochen und kannte die Geschichte nur aus Lizzies Erzählungen. Abgesehen davon, wenn man sich auf ein Spiel mit Jonathan Tapley einließ, achtete man besser darauf, sich nicht vorzeitig in die Karten schauen zu lassen.

»Ich verstehe«, sagte ich laut. »Trotzdem hat Ihr Cousin später geheiratet?«

»Ja, seine Erfahrungen in Oxford hatten Tom gelehrt, wie wichtig Diskretion ist. Unsere Gesellschaft zeigt einen hohen Grad an Scheinheiligkeit, Ross. Das wissen Sie sicher selbst. Solange man nicht darüber redet, kümmert sich auch kein anderer darum. Doch die Angst vor Entdeckung und dem öffentlichen Skandal mitsamt rascher Vergeltung ist allgegenwärtig. Ich weiß nicht, wie Sie persönlich zu diesem Thema stehen, Inspector. Doch ich weiß, dass Sie genau wie ich für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen haben. Ich persönlich würde das Gesetz gerne ändern. Doch darauf müssen wir wohl noch lange warten. Tom konnte genauso wenig für seine Natur wie wir anderen für unsere. Doch wie die meisten Menschen mit seiner Neigung war er gezwungen, ein Doppelleben zu führen, ständig in der Angst, sich eines Tages im Steinbruch von Dartmoor wiederzufinden.

Als er älter wurde, wuchs die Versuchung zu heiraten und sich dadurch einen gewissen Schutz zu beschaffen, wie es viele andere Gleichgesinnte vor ihm auch schon getan hatten. Abgesehen davon, dass es die einzige Möglichkeit war, einen Skandal zu verhindern, erreichte er damit, dass eine liebevolle Frau der respektablen Sorte seinen Haushalt führte, das Essen kochte und den Platz all der hingebungsvollen weiblichen Verwandten aus seinen Kindertagen einnahm. Selbstverständlich war die Dame seiner Wahl völlig ahnungslos, was seine sexuellen Vorlieben anging, und niemand würde es ihr erzählen. Frauen aus gutem Haus sind im Allgemeinen recht unbedarft, was dieses Thema angeht, und in unserer Gesellschaft scheint es eine stillschweigende Vereinbarung zu geben, dass es auch so bleiben soll. Tom heiratete im Jahre 1848. Er war bereits Anfang vierzig. Sein fortgesetztes Junggesellenleben zog Gerede nach sich – vergessen Sie nicht, dass er gutsituiert war und sich eine Heirat durchaus hätte leisten können. Er wählte sorgfältig. Seine Frau war nicht mehr jung, bereits Ende dreißig. Ihre Familie hatte sich bereits gesorgt, sie könnte als alte Jungfer enden und einem Verwandten zur Last fallen, bis sie schließlich starb. Ihr selbst schien dieser Gedanke auch nicht zu gefallen. Sie war entzückt über die Gelegenheit, Herrin über ihren eigenen Hausstand zu werden. Mein Vater pflegte mit dem derben Humor eines Soldaten stets zu sagen, achtundvierzig wäre wahrhaftig das Jahr der Revolutionen, nachdem selbst Tom Tapley den Gang zum Altar gewagt hatte.«

Jonathan Tapley musste tatsächlich lächeln. »Zu unser aller Überraschung erwies sich die Verbindung als sehr glücklich, und entgegen jeder Erwartung trug sie sogar Früchte. Noch im gleichen Jahr wurde eine Tochter geboren, fast auf den Tag neun Monate nach der Hochzeit. Ihr Name ist Flora, und sie ist heute neunzehn Jahre alt. Tom entwickelte sich nach der ersten Überraschung zum stolzesten Vater, den ich je gesehen habe.

Bedauerlicherweise starb seine Frau, als Flora gerade drei Jahre alt war. Ärzte hatten mir und meiner Frau gesagt, wir müssten uns damit abfinden, niemals eigene Kinder zu haben. Wir erboten uns, Flora bei uns aufzunehmen und sie aufzuziehen. Tom war dankbar. Meine Frau und ich waren außer uns vor Freude, und das ist keine Übertreibung. Für uns war es ein Geschenk des Himmels. Flora hat unser Leben verändert, Inspector. Eine leibliche Tochter hätte uns nicht lieber sein können.«

Er verstummte, und ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Zu hören und zu sehen, wie dieser selbstbewusste, arrogante Wichtigtuer seine menschliche Seite und seine Verwundbarkeit offenbarte, war sehr bewegend.

»Demzufolge handelt es sich bei der erwähnten Nichte also in Wirklichkeit um eine junge Cousine zweiten Grades?«, stellte ich fest.

Jonathan Tapley rang sichtlich um seine Fassung. »Ja. Angesichts ihres jungen Alters fanden wir es praktischer, sie als eine Nichte auszugeben und uns von ihr Onkel und Tante nennen zu lassen.«

Es verschleiert auch das Verwandtschaftsverhältnis zu Thomas Tapley, ihrem Vater, dachte ich bei mir. Solange die ganze Welt Flora als deine Nichte kennt, denkt niemand an Tom und die Geschichten, die über ihn erzählt werden.

»Sie sehen, alles war wunderbar arrangiert …«, sagte Jonathan. »Bis auf eine Sache. Flora wuchs heran und entwickelte sich mehr und mehr zu einer außerordentlich hübschen und charmanten jungen Lady. Wir mussten uns Gedanken um ihre Zukunft machen. Sie war zehn Jahre alt, als meine Frau und ich beschlossen, dafür zu sorgen, dass keine Unbill ihren Schatten auf Floras Zukunft werfen sollte. Mit zehn ist man noch ein Kind, doch die Jahre verfliegen, und schneller, als man denkt, geht sie in die Welt hinaus. Wir hatten die Hoffnung, dass sie einen standesgemäßen jungen Mann finden und eine glückliche Ehe führen würde.« Er verstummte erneut und schien darauf zu warten, dass ich das Problem laut beim Namen nannte, obwohl es offensichtlich schien.

»Wenn der Name ihres Vaters in Verbindung mit einem Skandal auftauchen oder bekannt werden würde, dass er in gewissen Kreisen verkehrte, und wenn herauskam, dass Flora seine Tochter war, würde das ihre Aussichten auf eine gute Partie vernichten«, führte ich aus. »Familien mit gutem Namen achten auf ihren Ruf. Sie vermeiden jedes öffentliche Aufsehen. Die Tatsache, dass Sie sie als Ihre Nichte ausgaben, hätte als Täuschungsversuch ausgelegt werden können. Eine gute Partie für Miss Flora wäre somit ausgeschlossen gewesen.«

Abgesehen davon hätte es wohl auch deinen guten Namen in Mitleidenschaft gezogen, überlegte ich bei mir, doch das sagte ich nicht laut.

»Ganz recht«, pflichtete Tapley mir bei. »Obwohl ich mich entschieden gegen Ihre Andeutung verwahre, wir hätten Flora als unsere Nichte ›ausgeben‹ wollen. Wir hatten zu keiner Zeit vor, jemanden zu täuschen. Das war nicht unsere Absicht. Damals schien es normal, dass sie mich Onkel nannte. Sie war ein Kleinkind, als sie zu uns kam.

Ich wusste, dass meinem Cousin das Wohlergehen seines Kindes am Herzen lag, obwohl er die kleine Flora kaum gesehen hatte, seit sie ihre Mutter verloren hatte und zu uns gekommen war. Bisweilen besuchte er sie und brachte ein kostspieliges Geschenk mit. Ich glaube, die Besuche waren recht schwierig für ihn. Doch er wollte, dass sie glücklich war.

Eines Tages nahm ich ihn beiseite und machte ihm einen Vorschlag. Er sollte seine Angelegenheiten regeln und Flora in einem Testament als Erbin einsetzen sowie mich als ihren Vormund. Dann sollte er ins Ausland gehen und nicht wieder zurückkehren. Wo und wie er leben würde, war ihm freigestellt. Doch er musste außerhalb Englands bleiben.«

»Ein ausgehaltener Exilant …«, murmelte ich. Das passte.

»Genau genommen nicht, denn ich habe ihn nicht dafür bezahlt, dass er sich fernhielt«, korrigierte mich Tapley. »Tom war selbst ein wohlhabender Mann. Er konnte bei einer Bank Geld abheben, wo auch immer er sich aufhielt. Er verfügte über Einkommen aus seinen Kapitalanlagen und Mieten. Er stimmte mir zu, dass es das Beste für Flora wäre. Nebenbei machte es vermutlich auch ihm das Leben ein Stück weit leichter. In Europa, Inspector, sind die Gesetze in Bezug auf Toms Neigung ganz allgemein milder als hier. In Frankreich zum Beispiel ist der Vorfall, der Tom als Student beinahe an den Galgen gebracht hätte, seit Ende des letzten Jahrhunderts nicht mehr strafbar.

Mein Cousin stimmte also bereitwillig zu. Er reiste ab, nachdem alles Nötige in die Wege geleitet worden war. Gelegentlich hörte ich von ihm, jedoch nicht besonders häufig. Für eine Weile lebte er in Italien, dann in Südfrankreich. Dann hörte ich eine Weile gar nichts mehr. Ich überlegte, ob ich Erkundigungen einziehen sollte, als die Sache dringend wurde. Flora ist vergangenen Herbst neunzehn Jahre alt geworden. Ein höchst vorteilhafter junger Mann aus den höchsten Kreisen hat um ihre Hand angehalten. Flora hat sich verliebt. Die Familie des jungen Mannes ist einverstanden. Natürlich ist sie noch sehr jung, doch meine Frau und ich sind sicher, dass die Zuneigung aufrichtig ist. Selbstverständlich kam der junge Bursche zuerst zu mir und bat mich um die Erlaubnis, ihr einen Antrag machen zu dürfen …«

»Und Sie mussten ihm mitteilen, dass Floras leiblicher Vater noch lebt und man zunächst seine Einwilligung einholen müsse, da Flora noch keine einundzwanzig Jahre alt ist«, unterbrach ich ihn.

Er nickte. »Ja. Von diesem Moment an wurden die Dinge kompliziert. Ich schrieb an die letzte mir bekannte Adresse in Frankreich, weil ich dachte, dass Thomas sich noch dort aufhielt. Ich erklärte ihm die Umstände und versicherte ihm, dass die Absichten des jungen Mannes ehrenwerter Natur seien. Ich bat ihn um Antwort und Erteilung der Einwilligung, die er bei einem Notar beglaubigen lassen sollte. Es wäre nicht notwendig, dass er nach Hause käme.

Der Brief kam ungeöffnet zurück. Ich schrieb weitere Briefe, ohne eine Antwort zu erhalten. Verzweifelt, wie ich war, schrieb ich an unsere Botschaft in Paris. Schließlich erhielt ich von dort die Information, dass Tom zuletzt in einem Vorort der französischen Hauptstadt gelebt hätte, doch dort wäre er nicht länger gemeldet. Der Botschaft war nichts über seinen neuen Wohnort bekannt. Es gab keine Meldungen über einen britischen Toten dieses Namens in Frankreich. Wir nahmen daher an, dass er noch lebte. Doch der Kontinent ist voll mit umherreisenden Engländern. Möglicherweise war er nach Italien zurückgekehrt oder hatte sich entschlossen, die Schweizer Alpen zu besichtigen, oder er war einem Impuls folgend aufgebrochen, um das Österreichische Imperium zu erforschen oder das Osmanische Reich. Kurz gesagt, er hätte überall sein können.«

Tapley zog ein Taschentuch aus feinem Batist hervor und wischte sich über die Stirn. »Ich teilte dem jungen Paar mit, dass es in jedem Falle bis zu Floras zwanzigstem Geburtstag warten müsste, bevor eine Hochzeit stattfinden könnte. Das verschaffte mir ein wenig Zeit. Zunächst stellte ich hier Nachforschungen an und fand heraus, dass Tom weiterhin ein Einkommen aus seinen Kapitalanlagen bezog, somit war er noch am Leben. Jedoch, und das ist das Erschütternde daran, war es von Anfang an nur ein bescheidenes Einkommen gewesen. Er hat all die Jahre sicher nicht sehr komfortabel gelebt. Ich bin sicher, er wollte Flora so viel wie möglich von seinem Vermögen hinterlassen. Der arme Kerl hat sich in jeder Hinsicht eingeschränkt.«

»Er machte in der Tat einen heruntergekommenen Eindruck«, stimmte ich ihm zu. »Seine Kleidung war abgetragen. Die Kommode in seiner Wohnung enthielt nur eine Garnitur Wäsche. Er besaß lediglich einen Gehrock. Wenn er für etwas Geld ausgab, dann für gebrauchte Bücher.«

Jonathan schloss die Augen. »Der arme Kerl«, murmelte er erneut. »Er war so ein liebenswürdiger, gutmütiger Mensch, und doch wurde er von seinem eigenen Land verfolgt.«

Das war nicht der Augenblick, um über das Gesetz in Bezug auf Homosexualität zu diskutieren. Jonathan hatte Recht mit seiner Aussage, dass wir beide verpflichtet waren, für die Einhaltung der Gesetze zu sorgen, so wie sie waren.

Jonathan lehnte sich zurück, als wappnete er sich innerlich. »Dann erfuhr ich etwas, das mich zutiefst schockierte. Nachdem ich keine Nachricht aus Frankreich bekam, kontaktierte ich die Sozietät in Harrogate, die mit der Verwaltung von Toms Geschäften betraut war und immer noch ist. Ich erfuhr, dass Tom zu Beginn des letzten Jahres dort war, im Januar, persönlich! Er war nach England zurückgekehrt! Sie können sich meine Reaktion vorstellen, meine Benommenheit! Dem Büro hatte er mitgeteilt, dass er derzeit noch über keine reguläre Adresse verfüge und sie unverzüglich informieren würde, sobald sich dies änderte. Sie warten immer noch auf seine Nachricht. Sie hatten angenommen, ich wüsste, wo er zur Zeit lebt. Offensichtlich hatten wir ihn schon wieder verloren.«

Das merkwürdige Verschwinden von Thomas Tapley warf Fragen auf. Was war der Grund für sein Verhalten? Fürchtete er womöglich die Missbilligung seines Cousins Jonathan, wenn dieser herausfand, dass Thomas wieder in England war und somit die neun Jahre zuvor getroffene Vereinbarung gebrochen hatte? Er konnte schließlich nicht wissen, dass Jonathan auf der Suche nach ihm war und dass seine Tochter Flora beabsichtigte sich zu verloben. Doch selbst als er bei Mrs. Hampton in Southampton ausgezogen war, um sich in London bei Mrs. Jameson einzumieten, hatte er seinen Anwalt nicht informiert – oder seinen Cousin, der am anderen Ende der Stadt in der vornehmen Gegend von Bryanston Square lebte. Auch hatte Thomas Tapley die Witwe Jameson getäuscht, indem er angab, dass er nach London zurückkehren wollte, weil er früher hier gelebt hatte. Tatsächlich hatte er im Norden gelebt, bevor er das Land in Richtung Kontinent verlassen hatte. In Wirklichkeit hatte er hierher zurückkehren wollen, weil er hier eine Tochter hatte. Hatte er vorgehabt, ihr einen Besuch abzustatten, und dann den Mut verloren?

»Mr. Tapley«, sagte ich forsch. »Soweit ich es verstanden habe, waren Sie mit ihrem Cousin in schriftlichem Kontakt, während er sich außer Landes aufhielt.«

Für einen Moment blickte Jonathan unbehaglich. »Nicht regelmäßig, wie ich gestehen muss. Vielleicht einmal im Jahr, um ihn wissen zu lassen, dass es Flora gut ging und alles beim Alten war. Er hat selten geantwortet.«

»Das ist regelmäßig genug. Es gibt Leute in unserem Land, die noch weniger Kontakt zu ihren Verwandten haben. Haben sie ihn jemals persönlich in Europa besucht? Wann wurde er zuletzt in Frankreich, Italien oder einem anderen Land gesichtet, bevor er hierher zurückkehrte? Das ist von großer Bedeutung, da es uns helfen würde, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem er vermutlich zurückgekehrt ist. War es, kurz bevor er im Januar seine Anwälte in Harrogate aufsuchte? Es stellt sich noch eine andere Frage. Hatte er seine persönlichen Dokumente mit ins Ausland genommen, seine Geschäfte betreffend, oder zum Beispiel eine Abschrift seines Testaments? In seiner Unterkunft wurde nichts dergleichen gefunden.«

»Das ist schnell beantwortet. Er muss einige persönliche Dokumente bei sich geführt haben, doch die meisten sind bei der Firma Newman und Thorpe in Harrogate in Verwahrung, dem besagten Anwaltsbüro. Sie nehmen seit etlichen Jahren die Interessen meines Cousins wahr, und das ist ein kluger Entschluss für einen Mann, der ein Leben auf Wanderschaft führt, ständig in Hotels und Pensionen wohnt. Ich schlage vor, Sie setzen sich mit Newman und Thorpe in Verbindung. Ich sollte Ihnen wohl ebenfalls kurz Nachricht geben. Wie ich das sehe, bin ich einer seiner Nachlassverwalter. Ich kann Ihnen Ihre Frage beantworten, wann man ihn zuletzt auf dem Kontinent gesehen hat, doch das gibt wahrscheinlich weitere Rätsel auf.«

Er stand auf und fing an, mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Im vorletzten Jahr bin ich einem alten Bekannten begegnet, einem Schulkameraden. Wir unterhielten uns über dies und das und tauschten Geschichten aus, wie man das eben so macht. Plötzlich machte er eine Bemerkung, die mich völlig unvorbereitet traf.

›Übrigens bin ich kürzlich Tom Tapley über den Weg gelaufen. Ist er nicht dein Cousin?‹ Ich war völlig überrascht – und erschrocken. Hatte Tom sein Versprechen, außerhalb Englands zu bleiben, etwa gebrochen? ›Wo?‹, hakte ich nach. ›Beim Spaziergang am Strand von Deauville‹, berichtete er.

Wie es aussieht, war Parker, das ist der Name meines alten Schulfreundes, am Strand von Deauville spazieren gegangen. Ein Gentleman mit einer weiblichen Begleitung am Arm kam ihm entgegen. Als sie sich genähert hatten, erkannte er Tom, dem er vor Jahren in London ein paar Mal begegnet war. Er sprach ihn an und fragte, ob er Thomas Tapley sei. Tom bestätigte dies und erkundigte sich, was Parker nach Deauville verschlagen hätte. Er antwortete, dass er gekommen sei, um sich die Pferderennen anzusehen. Tom erzählte, dass er mittlerweile in Frankreich wohnte und sich hier in Deauville von einer Krankheit erholte. Sie stimmten darin überein, wie belebend die Luft an der Küste war. Parker brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass Tom bald wieder genesen möge, und sie verabschiedeten sich. Parker hatte den Eindruck, dass Tom kein Interesse daran gehabt hatte, sich noch länger zu unterhalten, und dass ihm die Begegnung unangenehm gewesen war. Beide Parteien hatten ihre peinlichen Momente.«

»Und die Begleiterin?«

»Oh. Das war nach Parkers Worten das Merkwürdigste an der Sache. Sie klammerte sich während des ganzen Gesprächs an Tom, lächelte einfältig und machte Parker schöne Augen! Ich gebe nur wieder, was ich von Parker gehört habe. Tom machte keine Anstalten, seine Begleiterin vorzustellen, was mehr als seltsam war. Parker glaubt, dass sie Französin war, gut gekleidet und bereits in einem gewissen Alter. Vielleicht Anfang vierzig. Doch ihr Verhalten und ihre Ausstrahlung machten ihn nervös. Seiner Meinung nach war sie entschieden halbseiden. Er war ziemlich überrascht, denn er wusste, dass Tom sich nicht für Frauen interessierte, zumindest nicht in dieser Hinsicht. Tom war der Letzte, den man mit einer Kurtisane zu sehen erwartet hätte.«

»Was hielten Sie davon?«, hakte ich nach.

»Ich nahm an, dass Tom eine weitere ältere Lady getroffen hatte, die ihn umsorgte. Doch ich teilte Parkers Unbehagen – die älteren Frauen, die ihn bisher unter ihre Fittiche genommen und ihn umsorgt hatten, waren stets von untadeligem Ruf gewesen. Andererseits besuchen heutzutage selbst Personen von makelloser Reputation das Seebad Deauville! Ich glaube, selbst die Kaiserin Eugénie wurde bereits dort gesehen. Doch das Seebad ist auch als ein Ort bekannt, wo Männer sich eine Geliebte suchen, auch wenn es dort vielleicht nicht ganz so schlimm sein mag wie im benachbarten Trouville. Küstenstädte haben oftmals einen fragwürdigen Ruf, hier wie dort. Deshalb war Parker auch so verblüfft.«

»Haben Sie Ihrem Cousin darüber geschrieben?«

»Ich hatte zur Feder gegriffen, doch ich habe den Brief unbeendet zerrissen. Es ging mich nichts an. Mein Cousin war ein freier Mann. Abgesehen davon, was wäre gewesen, wenn Tom geantwortet hätte, die Frau wäre die Ehefrau eines Freundes gewesen, die er aus Gefälligkeit begleitet hatte? Ich hätte wie ein Narr geklungen, wenn ich ihm etwas anderes unterstellt hätte. Wenn eine Sache sicher ist, dann, dass Tom noch nie eine Geliebte hatte.«

»Eine letzte Frage noch, Mr. Tapley«, sagte ich, während ich Vorbereitungen traf, mich aus den Tiefen des Sessels zu schälen. »Sie haben mich umgehend aufgesucht, nachdem Sie gelesen haben, dass eine Leiche entdeckt wurde. Was führte Sie zu der Annahme, es könnte sich bei der Leiche um ihren Cousin handeln?«

Jonathan Tapley zog die schwarzen Augenbrauen hoch. »Werter Inspector, mein Cousin war verschwunden! Er hatte es versäumt, seine Anwälte über seinen neuen Wohnort in Kenntnis zu setzen, wie er es zugesagt hatte. Er hatte keinen Versuch unternommen, mich oder meine Frau zu kontaktieren. Obwohl er sich beinahe neun Jahre außer Landes aufgehalten hatte, machte er keine Anstalten, seine Tochter zu besuchen. Im Zeitungsartikel stand, die Polizei vermutet, der Tote könne in Southampton gewohnt haben. Es ist eine Hafenstadt am Kanal. Ich hatte bereits die Befürchtung, Tom könnte ein Unglück widerfahren sein. Offen gestanden war ich kurz davor, ihn als vermisst zu melden.«

»Auch auf die Gefahr hin, dass ich Ihren Kummer vergrößere …«, sagte ich, »… so muss ich doch sagen, dass Sie und ich vielleicht nicht hier sitzen würden, wenn Sie ihn als vermisst gemeldet hätten. Thomas Tapley wohnte in unserer Nachbarschaft, auf der Südseite des Flusses, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ich hätte den Namen erkannt und Sie zu ihm gebracht.«

Jonathan runzelte die Stirn. »Das macht es in der Tat nicht besser. Aber das konnte ich nicht ahnen! Ja, ich gebe Ihnen Recht, ich hätte die Polizei früher einschalten müssen. Aber Sie dürfen nicht vergessen, es bestand die Möglichkeit, dass er England wieder verlassen hatte. Er hätte nach Frankreich zurückgekehrt sein können. Das hätte auch erklärt, warum er Newman und Thorpe keine Adresse hat zukommen lassen.«

Ich dachte bei mir, dass Mr. Jonathan Tapley dabei war, sich eine glaubhafte Erklärung – andere hätten es Ausrede genannt – für sein Zögern zu konstruieren, mit der Polizei in Kontakt zu treten. Ich fragte mich, ob die Wahrheit tatsächlich so einfach war.

»Soso«, sagte Dunn gedankenverloren, als ich ihm die Neuigkeiten berichtete. »Das ist ja eine ganz schön bewegte Vergangenheit, die Thomas Tapley hatte. Vielleicht hätten Sie Constable Biddle statt zu den Kaffeehäusern lieber zu den Bädern schicken sollen, Ross.« Er lehnte sich zurück und blickte mich stirnrunzelnd an.

Das hieß nicht, dass er unzufrieden gewesen wäre. Es bedeutete lediglich, dass er im Geiste alles noch einmal überdachte und im Begriff stand, einen Aspekt vorzubringen, der ihm nicht gefiel. Er wählte seine Worte mit Bedacht.

»Wir dürfen Jonathan Tapley nicht gegen uns aufbringen, Ross«, setzte der Superintendent vorsichtig an. »Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass wir in irgendeiner Hinsicht stümperhaft ermitteln. Er ist ein angesehener Anwalt, und sollten wir einen Fehler machen, beschwören wir damit den Zorn Tapleys und all seiner Kollegen auf uns herab! Nebenbei gesagt hat er viele hochrangige Freunde. Er hat Adlige vertreten, Parlamentsabgeordnete, alle möglichen Größen der Gesellschaft. Es darf keine Fehler geben! Jeglicher unnötige Skandal muss vermieden werden. Keine Schauergeschichten in der Boulevardpresse! Von nun an müssen sämtliche Nachforschungen mit dem größtmöglichen Fingerspitzengefühl erfolgen. Halten Sie Biddle da raus, es sei denn, es geht um die Befragung von Dienstpersonal. Das meiste kann Morris erledigen, aber keinesfalls soll er mit dem Anwalt reden. Die sensiblen Aufgaben werden Sie persönlich in die Hand nehmen.«

»Wir können Jonathan Tapley nicht als Verdächtigen ausschließen, Sir.« Ich bemühte mich um Nachdruck, ohne streitlustig zu klingen. »Es sei denn natürlich, er hat ein Alibi für den Zeitraum, als der tödliche Überfall stattfand. Der Todeszeitpunkt kann relativ genau bestimmt werden. Der Pathologe ist sich sicher, dass Thomas Tapley noch nicht lange tot war, als er gefunden wurde. Die Gerichte hatten um diese Zeit bereits Feierabend. Doch falls Jonathan in seiner Kanzlei war, haben andere ihn dort gesehen. Falls er zu Hause war, kann jemand aus seinem Haushalt für ihn bürgen. Doch wir müssen herausfinden, wo er sich aufgehalten hat, und gehe ich recht in der Annahme, dass diese Aufgabe mir zufällt?«

»Selbstverständlich, Ross!«, grollte Dunn verärgert. »Haben Sie mir nicht zugehört? Sie kümmern sich um die Dinge, die Takt erfordern. Nun verschwinden Sie schon, und sehen Sie zu, dass Sie diesen distinguierten Anwalt noch mal aufsuchen. Wenn es Ihnen gelingt, ihn zu Hause zu befragen, umso besser. Der Mann ist kein Dummkopf. Er wird damit rechnen, dass Sie wissen wollen, wo er zum fraglichen Zeitpunkt war.«

»Und wird sich bereits ein Alibi beschafft haben, lange bevor er mich im Yard aufgesucht hat. Wie Sie bereits sagten, Sir, er ist kein Dummkopf.«

Dunn blickte mich von der Seite an. »Halten Sie es ernsthaft für möglich, dass er seinem Cousin den Schädel eingeschlagen hat?«

»Man könnte argumentieren, dass er ein Motiv hatte. Er und seine Frau betrachten die junge Flora als ihr eigenes Kind. Sie steht im Begriff, eine äußerst vorteilhafte Ehe einzugehen … mit dem jüngeren Sohn eines Lords. Es ist der Gipfel all dessen, was sie sich für Flora wünschen können.«

Dunn räusperte sich missbilligend, doch ich ignorierte ihn und fuhr fort.

»Er hatte seinen Cousin um dessen schriftliche Einwilligung zur Hochzeit gebeten. Er wollte nicht, dass er hier auftauchte, um sein Recht als Vater einzufordern und die Braut zum Altar zu führen.«

Dunn räusperte sich erneut und zeigte mit dem Finger auf mich.

»Wir müssen den Schuldigen so schnell wie möglich finden, Ross. Je länger sich die Sache hinzieht, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Presse Wind von der Geschichte bekommt. Denken Sie nur mal an die Akteure in diesem Drama! Eine wunderschöne, unberührte junge Frau – ich unterstelle, dass Flora Tapley beides ist –, die im Begriff steht zu heiraten. Der Sohn eines Angehörigen des Hochadels. Ein angesehener Anwalt. Eine geheimnisvolle Französin mit zweifelhaftem Hintergrund, die zusammen mit dem Opfer in einem Vergnügungsbad am Strand gesehen wurde. Menschenskind, Ross, dieser Fall hat alles, was es zu einem billigen Groschenroman braucht!«