KAPITEL ZEHN
Inspector Ben Ross
Man hatte mich angewiesen, am Bahnhof nach Inspector Barnes Ausschau zu halten, meinem Kollegen in Harrogate. Ich fragte mich während meiner Reise, woran ich ihn erkennen sollte. Wie sich herausstellte, war er kaum zu übersehen, denn er war größer als jeder andere dort. Er hatte mich entdeckt und identifiziert, noch bevor ich einen Fuß auf den Bahnsteig gesetzt hatte, und stürzte auf mich zu.
»Sie müssen der Kollege aus London sein!«, dröhnte er und packte meine Hand. »Ross, wenn ich mich nicht irre?«
»Das ist richtig«, ächzte ich und zog meine Finger behutsam zurück. »Und Sie sind Inspector Barnes?«
»Höchstpersönlich! Bevor wir irgendetwas anderes machen – was denken Sie von dieser Bahnstation?« Er deutete mit einer massigen Pfote auf unsere Umgebung. »Wir sind sehr stolz darauf, wissen Sie? Es gibt sie noch nicht so lange, erst sechs Jahre. Davor hielten die Züge in der alten Brunswick Station, und verglichen mit diesem Bahnhof hier war Brunswick nicht viel mehr als ein Gartenschuppen. Sie haben nur die eine Tasche, nehme ich an?«
Er steuerte mich flinken Schrittes durch die Menge, während wir uns unterhielten. Es gelang mir zu erwähnen, dass die Station sehr geschäftig wirkte.
»Viele Leute kommen zu uns nach Harrogate«, informierte mich Barnes. »Das ist ja auch der Grund, aus dem wir einen neuen Bahnhof brauchten. Es ist wegen der Mineralquellen, wissen Sie? Viele Leute schwören auf ein Pint aus Harrogate. Die Pumpenhalle hat keinen Mangel an Besuchern. Sie kommen sogar aus dem Ausland, so berühmt ist unser Wasser. Es ist die hohe Konzentration an Mineralien, wissen Sie, die so gut wie alles heilt. Wenn Sie Zeit haben, bevor sie zurückfahren, sollten Sie selbst einen Abstecher zur Pumpenhalle machen und es ausprobieren.«
»Wie schmeckt das Wasser?«, fragte ich vorsichtig.
Barnes überlegte kurz. »Es ist, wie soll ich es sagen? Etwas für Kenner. Aber es ist unglaublich gesund, und wie meine gute alte Mutter immer sagte, keine ordentliche Medizin schmeckt.«
Ich entschied, dass dringende Angelegenheiten in London mir leider nicht die Zeit ließen, ein Pint des berühmten Wassers zu trinken.
»Ich habe bereits alles arrangiert«, fuhr Barnes fort. Für einen erschrockenen Moment dachte ich, er meinte ein Pint der gefürchteten Flüssigkeit, das für mich bereitstand. Zum Glück fuhr er fort: »Ich habe Ihnen ein Zimmer für die Nacht im Commercial Hotel gebucht. Dort werden Sie anständig schlafen. Meine Frau freut sich, Sie zum Abendessen an unserem Tisch zu begrüßen. Mrs. Barnes hat eine wunderbar geschickte Hand mit Pasteten.«
Das klang viel besser. Barnes ging davon aus, dass meine Angelegenheiten in Harrogate mir nicht gestatteten, noch an diesem Abend zurückzufahren, doch ich hatte Lizzie vorgewarnt, dass das der Fall sein könnte. Allerdings musste ich den Yard telegraphisch über meine Pläne in Kenntnis setzen. Vielleicht konnte ich zugleich meiner Frau eine Nachricht zukommen lassen. Laut antwortete ich, dass ich mich darauf freute, Mrs. Barnes kennenzulernen.
»So wie Sie reden, kommen Sie nicht aus dem Süden, wie?«, beobachtete Barnes.
»Ich stamme ursprünglich aus Derbyshire.«
»Das wird Mrs. Barnes gefallen«, sagte er wohlwollend. »Sie betrachtet die Leute aus dem Süden mit einem gewissen Misstrauen.«
»Es geht mir genauso, und ich lebe mitten unter ihnen«, verriet ich ihm. Er brüllte vor Lachen und schlug mir so herzlich auf die Schulter, dass ich beinahe flach auf das Gesicht gefallen wäre.
Erfreulicherweise hatte er bereits eine Droschke reserviert, und in diese wurde ich nun bugsiert. Barnes rief dem Kutscher eine Adresse zu und kletterte mir hinterher. Das Gefährt schaukelte und sank tiefer in die Federn. Ich selbst bin kräftig gebaut und verspürte Mitleid mit dem armen Pferd, das uns beide ziehen musste.
»Fahren wir zum Hotel?«, fragte ich zweifelnd, nachdem Barnes dem Kutscher nicht den Namen des Commercial genannt hatte.
»Ich hielt es für das Beste, wenn ich Sie direkt zum Büro von Newman und Thorpe bringe«, antwortete er. »Ich habe einen Termin mit Fred Thorpe vereinbart. Dem jungen Mr. Thorpe, heißt das.«
»Wie jung?«, fragte ich sofort. Ich wollte, falls möglich, mit Leuten reden, die mit Thomas Tapley zu tun gehabt hatten, bevor er auf den Kontinent gegangen war, und die ihn aus dieser Zeit persönlich kannten.
»Fred ist ungefähr in meinem Alter«, sagte Barnes. »Und ich bin einundvierzig. Sie nennen ihn den jungen Thorpe, um ihn von seinem Vater zu unterscheiden, dem alten Thorpe, der mit Vornamen ebenfalls Frederick heißt.«
»Der alte Mr. Thorpe ist im Ruhestand?«
»Er macht noch gelegentlich hier und da etwas. Die Menschen in dieser Gegend sind konservativ, und einige der älteren Klienten wollen mit niemand anderem reden. Aus diesem Grund würde ich nicht sagen, dass der alte Mr. Thorpe im Ruhestand ist, nein. Aber Mr. Thorpe Senior, der ist im Ruhestand. Er ist schon über achtzig.«
Also drei lebende Thorpes, mindestens. Ich rechnete schnell nach.
»Mr. Thorpe Senior wäre dann der Großvater von Fred – vom jungen Mr. Thorpe, meine ich?«
»Ganz richtig. Er ist der Vater vom alten Mr. Thorpe und der Großvater vom jungen Fred – wie wir ihn nennen. Eine sehr alte Firma, Newman und Thorpe.«
»Was ist mit Newman?«, fragte ich, während ich überlegte, wie alt er sein mochte.
»Tot«, sagte Barnes. »Sie sind noch nicht dazu gekommen, sein Namensschild von der Tür abzunehmen.«
»Ich verstehe. Und wann ist er gestorben?«
»Vor zwanzig Jahren. Hören Sie, ich werde Sie vorstellen, und wenn Sie mögen, bringe ich danach Ihre Tasche ins Commercial. Dann können Sie ins Hotel, wann Sie wollen, und müssen sich nicht nach einem Zeitplan richten. Ah, da sind wir ja.«
Ich wurde forsch aus der Droschke gezerrt, und der Kutscher erhielt den Befehl zu warten. Barnes bugsierte mich in das Vorzimmer von Newman und Thorpe, wo sich ein älterer Gehilfe mit ächzenden Gelenken erhob, um uns zu begrüßen. Er sah aus, als hätte er bereits als Lehrling in den Tagen von Mr. Thorpe Senior hier angefangen und sein gesamtes Berufsleben in der Kanzlei verbracht.
»Das ist er, Walter«, verkündete Barnes. »Inspector Ross vom Scotland Yard unten in London. Wir kriegen Besuch von den Spitzenleuten!« Er versetzte mir einen weiteren mächtigen Prankenhieb auf die Schulter. »Wir sehen uns später, Kollege«, sagte er und wandte sich zu meiner Erleichterung zum Gehen.
Walter musterte mich schweigend und misstrauisch von oben bis unten. Ich wusste nicht, ob ihm klar war, aus welchem Grund ich hergekommen war.
»Wenn ich richtig informiert bin, erwartet Mr. Thorpe – der junge Mr. Thorpe – mich bereits«, sagte ich.
»Ich habe keine Feuerglocke gehört«, entgegnete Walter. »Alles zu seiner Zeit, junger Mann. Die Leute aus London haben es immer furchtbar eilig, wie man hört. Ich bringe Sie zu ihm.«
Er schlurfte vor mir her zu einer Tür, öffnete sie und brachte es fertig, recht geschickt hindurchzuschlüpfen und sie hinter sich wieder ins Schloss zu werfen, sodass ich allein zurückblieb und auf die Eichenpaneele starrte.
»Es ist dieser Bursche aus London«, hörte ich ihn hinter der Tür sagen.
Ein Stuhl wurde gerückt, ein paar rasche Schritte, und dann wurde die Tür weit geöffnet.
»So kommen Sie doch herein!«, krähte ein gut gelaunt aussehender, rotgesichtiger Mann mit lockigen Haaren. »Setzen Sie sich! Ja, ja, Walter, es ist gut.« Er schloss die Tür und sperrte meine Eskorte aus. »Machen sie sich nichts aus Walter«, sagte er. »Er ist ein äußerst misstrauischer alter Bursche, wissen Sie? Er mag keine Fremden.«
»Dann haben Sie es hauptsächlich mit wiederkehrenden Klienten zu tun?«
»Hauptsächlich, ja«, pflichtete Thorpe mir bei. »Ein Glas Sherry?«
»Danke, gerne«, sagte ich. »Ich bin zwar im Dienst, aber es war eine lange Reise hierher.«
Thorpe beugte sich vor. »Wenn Sie möchten, schicke ich jemanden in ein Pub, um uns einen Krug Ale zu holen.«
»Das wäre noch besser«, gestand ich. »Aber wie lange braucht Walter, um ihn zu holen?«
Fred Thorpe kicherte. »Er wird nicht selbst gehen, keine Sorge. Er schickt Charlie, unseren Botenjungen.«
Ich fragte nicht, wie alt Charlie war. Wie die Dinge bei Newman und Thorpe standen, vermutlich wenigstens sechzig.
Fred lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Sie sind wegen dem armen alten Tom Tapley gekommen, richtig?«
»Das ist richtig. Offensichtlich haben Sie bereits gehört, dass er tot ist. Darf ich fragen – hat Barnes Ihnen davon erzählt, oder haben Sie es in der Zeitung gelesen?«
»Wir bekommen die Londoner Abendzeitungen nicht, aber heute Morgen stand ein Bericht in der Times.« Er klopfte auf eine zusammengefaltete Zeitung auf seinem Schreibtisch.
»Leider habe ich ihn nicht gelesen«, gestand ich bedauernd. Im Zug hatte ich die Frühausgabe des Morning Chronicle gelesen. Das Blatt hatte einen Großteil seiner heutigen Ausgabe der Forderung nach Reformen gewidmet. Der Tod des armen Tapley war kein Aufhänger für die sozialen Bedingungen gewesen. Er war nicht in einem heruntergekommenen Slum an Cholera gestorben, sondern im Haus einer respektablen Quäkerwitwe. Vielleicht wartete der Chronicle nach dem Bericht über den Fund des Toten ab, bis wir eine Verhaftung vorgenommen hatten. Er würde einen Reporter schicken, um über die Gerichtsverhandlung zu berichten und seine Zeilen mit sensationellen Einzelheiten füllen. Ich hoffte sehr, dass die Presse nicht viel länger warten musste. Schließlich war das der Grund für meine Fahrt nach Harrogate gewesen: die Suche nach einer Spur. Ich spürte einen kindischen Impuls, die Finger zu kreuzen.
»Wie es der Zufall will, hatte ich die traurige Neuigkeit bereits von Sam Barnes erfahren«, berichtete der Anwalt weiter. »Er kam gestern Abend her, um einen Termin für heute zu vereinbaren und sicherzustellen, dass ich im Haus bin, wenn Sie ankommen. Ich bin froh, dass Sie gekommen sind, Inspector Ross. Ich hätte mich ansonsten selbst mit Ihnen in Verbindung gesetzt.« Er zögerte. »Ich muss mit Jonathan Tapley in Kontakt treten, obwohl ich zu sagen wage, dass ich schon bald von ihm hören werde, auch wenn ich mich nicht melde.«
»Ich denke, da haben Sie ganz recht«, pflichtete ich ihm bei. »Mr. Jonathan Tapley denkt, dass er als Vollstrecker eingesetzt wurde oder zumindest einer der Vollstrecker von Thomas Tapleys Testament. Ist das richtig? Haben Sie das Testament hier?«
»Oh, ja, das haben wir. Das Testament und all seine anderen Papiere. Jonathan Tapley ist tatsächlich einer der beiden Vollstrecker. Mein Vater ist der andere.«
»Ich muss gestehen, ich hätte eigentlich lieber mit jemandem gesprochen, der Thomas Tapley persönlich kannte«, informierte ich ihn.
»Das können Sie. Sie können heute Abend mit meinem Vater reden, wenn er zurück ist.«
»Ich bin zum Essen mit Inspector Barnes verabredet, und ich möchte Mrs. Barnes nicht enttäuschen.«
»Oh, keine Sorge«, erwiderte Thorpe aufgeräumt. »In dieser Gegend wird früh zu Abend gegessen. Sie können nach dem Essen auf ein Glas Port bei uns vorbeikommen und mit meinem Vater sprechen. Bringen Sie Sam Barnes mit. Sie können auch gleich meinen Großvater kennenlernen, dann haben Sie uns alle zusammen. Mein Vater und mein Großvater kannten die Tapley-Familie sehr gut.«
»Danke sehr«, sagte ich. Wie es klang, wohnten die Thorpes alle zusammen unter einem Dach.
»Ich kannte Thomas Tapley ebenfalls, wissen Sie?«, fuhr der junge Fred mit einem spitzbübischen Glitzern in den Augen fort.
»Tatsächlich?«
Er wusste, dass er mich überrascht hatte, und kicherte fröhlich vor sich hin. Allmählich empfand ich seine unerschütterliche gute Laune genauso ermüdend wie Barnes’ ungestüme Art. Andererseits, wer tagtäglich mit Walter zu tun hatte, dem blieb gar nichts anderes übrig, als einen robusten Sinn für Humor zu entwickeln.
Wie auf ein Stichwort hin traf das Ale ein, hereingetragen von Walter. Charlie hatte wahrscheinlich keinen Zutritt zum inneren Heiligtum.
»Auf Ihr Wohl!«, prostete Thorpe mir zu, nachdem er unsere Gläser gefüllt hatte. Ich hob meines und erwiderte seinen Toast. Eine kurze Pause entstand, während wir unser Ale genossen. Ich bemerkte, dass es in der Tat ein sehr gutes Bräu war.
»Das ist unser Wasser«, sagte mein Gastgeber.
»Nicht etwa das Zeug aus dem Pumpensaal?«, fragte ich.
»Gütiger Himmel, nein! Dieses Zeug rühre ich nicht an. Aber mein Großvater schwört darauf.« Er wurde wieder geschäftlich. »Tatsache ist, Tom Tapley war zu Beginn des letzten Jahres persönlich hier.«
Natürlich. Jonathan Tapley hatte mich dahingehend informiert. Aber irgendwie hatte ich mir wohl vorgestellt, Thomas hätte den alten Thorpe besucht, nicht den jüngeren Mann.
»Es war Ende Januar, und wir hatten Schnee. Eine schwierige Zeit zum Reisen.« Fred nahm einen weiteren Schluck von seinem Ale. »Er trug einen abgewetzten alten Mantel und ein Reiseplaid darüber, wenn ich mich richtig erinnere. Walter war ganz außer sich, als er in das Vorzimmer kam. Er kannte ihn von früher und war erschüttert, Thomas so auf den Hund gekommen und halb erfroren zu sehen. Ich erschrak ebenfalls, als ich erfuhr, wer er war. Charlie wurde losgeschickt, um einen steifen Grog für ihn zu holen. Tapley hatte nach meinem Vater gefragt, doch der alte Herr war außer Haus bei einem einheimischen Landbesitzer, in einer geschäftlichen Angelegenheit, so wie heute auch. Ich erklärte Tapley, dass er entweder mit mir vorliebnehmen oder zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen müsste. Er sagte, dann würde er mit mir vorliebnehmen. Immerhin wäre ich ja ein Thorpe.
Er berichtete mir, dass er soeben aus Frankreich zurückgekehrt war, wo er eine Reihe von Jahren gelebt hatte. Er hatte ein paar Dokumente bei sich, die ich zu den anderen nehmen sollte, die wir bereits für ihn verwahrten. Er erklärte, dass er möbliert wohnte und mir seine Adresse zukommen lassen würde, sobald er eine permanente Unterkunft gefunden hatte. Das geschah nie, deswegen nehme ich an, dass er keine permanente Wohnung besaß?« Thorpe hielt inne und hob fragend die Augenbrauen und zur gleichen Zeit den Krug mit Ale an die Lippen.
»Er wohnte zunächst bei einer Lady in Southampton und dann in London bei einer Quäkerwitwe, in deren Haus er auch starb. Falls er noch woanders gewohnt hat, so wissen wir nichts davon.«
Thorpe stellte seinen Krug ab. »Er war sehr nervös, der arme alte Bursche. Ich habe es sofort bemerkt.«
Ah. Die Jovialität täuschte. Thorpe war ein scharfer, verschlagener Beobachter, wie es sich für einen Anwalt in der dritten Generation schickte.
»Wie hat sich das bemerkbar gemacht?«
»Auf beinahe jede nur erdenkliche Art und Weise. Ich mochte ihn übrigens. Er schien ein netter alter Gentleman zu sein, ungefähr im Alter meines Vaters, zweiundsechzig. Ich sagte ihm, dass mein Vater es sicher bedauern würde, ihn nicht gesehen zu haben, und dass er sicherlich wünschen würde, ihn zu sehen, doch Tapley meinte, er könnte nicht bis zum Abend warten, geschweige denn am nächsten Tag noch einmal wiederkommen. Er musste zurück nach Süden. Ich weiß nicht, warum er so in Eile war. Er hat es mir nicht gesagt.
Ich fragte ihn, was ihn vom Kontinent zurück nach England gebracht hatte und ob er vorhatte zu bleiben. Er sagte, dass er sich jetzt in England niederlassen wollte. Er erwähnte etwas von einer ›schlimmen Erfahrung‹ in Frankreich vor nicht allzu langer Zeit. Das war einer der Gründe, warum er es so eilig hatte, eine Schachtel mit all seinen privaten Papieren bei uns zu deponieren, gleich nach seiner Rückkehr. ›Damit sie niemand in die Finger kriegt‹, sagte er. Ich wollte wissen, was denn passiert wäre, ob jemand hinter seinen Papieren her wäre, aber er wurde nur noch aufgeregter und sagte, er wüsste es nicht, er könnte es nicht mit Sicherheit sagen. Er wäre eine Zeit lang krank gewesen in Frankreich, sechs oder sieben Monate vorher. Er hätte zwei volle Wochen im Delirium gelegen und beinahe einen Monat mit dem Tod gerungen. Folglicherweise hatte er eine Lücke in seiner Erinnerung. Ich schätze, was auch immer es war, es muss irgendwann im Verlauf des vorletzten Jahres passiert sein, während seiner Krankheit.«
Im vorletzten Jahr, dachte ich. Später im vorletzten Jahr war er von diesem Mr. Parker am Strand von Deauville gesehen worden, mit einer geheimnisvollen Frau am Arm. Er hatte Parker erzählt, dass er krank gewesen war und an der Küste, um wieder zu Kräften zu kommen.
»Mr. Thorpe«, sagte ich laut. »Welcher Art sind die Dokumente, die Thomas Tapley Ihnen zur Verwahrung gebracht hat?«
»Zum einen ein Reisepass, ausgestellt vom Foreign Office, den sich auszustellen er die Voraussicht gehabt hat, bevor er England verließ. Er ist abgewetzt und in einem traurigen Zustand, ganz ähnlich dem armen alten Tapley. Als Privatperson ohne diplomatische Mission und ohne geschäftliche Interessen benötigte er ein solches Dokument genau genommen nicht. Doch er rechnete damit, dass offizielle Stellen gelegentlich solch ein Dokument verlangen, insbesondere beim Überschreiten von Landesgrenzen. Außerdem deponierte er die zahlreichen Empfehlungsschreiben, die er auf seinen Reisen mit sich geführt hatte. Sie sind inzwischen so veraltet, dass ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, wem er sie noch zeigen wollte und wer sich davon hätte beeindrucken lassen. Dann gab es einen Beutel mit gemischter Korrespondenz, einige Briefe von uns, von denen wir selbstverständlich unsere eigenen Kopien besitzen, aber er wollte, dass wir auch die Originale verwahren. Dann die Korrespondenz von seiner Bank. Keine privaten Briefe. Er sagte, er wäre gezwungen gewesen, seine private Korrespondenz zu vernichten. Er nannte keinen Grund dafür, sagte nur, er wäre gezwungen gewesen. Das war eines der Dinge, die unterstrichen, wie nervös er war. Aus heutiger Sicht wünschte ich, ich hätte nachgefragt. Aber selbst wenn, ich bezweifle, dass er mehr verraten hätte. Ich sollte nicht verschweigen, dass er im Verlauf der Jahre immer wieder Bündel mit Korrespondenz zu uns geschickt hat, die wir für ihn aufbewahren sollten. Sonst hätte er wohl nicht nur eine Schachtel, sondern einen Schrankkoffer benötigt, um sie alle zu verwahren.«
»Er hat regelmäßig mit Ihrem Büro korrespondiert?«
»Ziemlich regelmäßig während seiner Jahre in Frankreich, ja. Deswegen zweifelte ich ja auch nicht daran, dass er uns seine neue Adresse in England mitteilen würde, sobald er eine hatte. Er ließ die meisten seiner Angelegenheiten durch uns oder seine Bank regeln. Wir waren zugleich seine Immobilien- und Landverwalter. Es mag ein wenig ungewöhnlich erscheinen, aber er wollte es so.«
»Landverwalter?«, ächzte ich. »Hat er denn so viel Land besessen?«
Thorpe schüttelte den Kopf und hob abwehrend die Hand. »So viel war es auch wieder nicht, aber gewiss nichts, über das man mit der Nase rümpfen könnte. Es gibt ein großes Anwesen, ein großes Haus mit Grundstück, und eine Farm, ursprünglich Teil des gleichen Grundstücks, aber inzwischen separat verpachtet. Das Haus ist seit vielen Jahren vermietet, an einen pensionierten Gentleman vom Militär, Major Griffiths. Die Farm hat einen anderen Pächter, eine Familie aus der Gegend.«
Was um alles in der Welt, fragte ich mich, machte Thomas Tapley dann in angemieteten möblierten Zimmern? Das Einkommen aus seinem Grundbesitz musste recht ansehnlich sein.
»Tatsächlich habe ich es eingerichtet, dass wir heute Nachmittag zu Tapleys Haus fahren, falls Sie keine Einwände haben«, sagte Fred Thorpe. »Ich dachte mir, Sie würden gerne einen Blick auf das Haus werfen und Major Griffiths kennenlernen. Der Major möchte Sie jedenfalls sehr gerne kennenlernen. Ich habe ihm eine Nachricht schicken lassen und ihn informiert, dass der Besitzer des Hauses gestorben ist, sobald ich die traurige Nachricht von Barnes erfahren habe.«
Eines musste ich Barnes, Thorpe, Griffiths und all den anderen, die kennenzulernen ich noch nicht die Ehre gehabt hatte, zugestehen: Sie waren allesamt außerordentlich effizient. Sie hatten meine Zeit bis zur letzten halben Stunde meines Aufenthalts in Harrogate generalstabsmäßig verplant.
»Dieser Grundbesitz«, sagte ich. »Er bildet einen Teil des Nachlasses des verstorbenen Mr. Tapley? Er wird in seinem Testament genannt?«
»Das ist richtig«, sagte Thorpe.
Mir kam ein Gedanke. »Unter den Papieren, die der Verstorbene letztes Jahr zu Ihnen brachte, befand sich kein neues Testament, oder?«
Thorpe schüttelte den Kopf. »Nein. Allerdings habe ich die Angelegenheit seines Testaments zur Sprache gebracht. Ich fragte ihn, ob er vielleicht einige Änderungen vornehmen wollte, da das ursprüngliche Testament nun bereits viele Jahre alt wäre. Der arme alte Kerl sah mich so erschrocken an, dass ich dachte, er würde ohnmächtig werden. Er beharrte mit aller Entschiedenheit darauf, dass er keine Änderungen an seinem Testament wollte.«
»Darf ich fragen …«, begann ich vorsichtig, »… darf ich fragen, wer der Hauptnutznießer seines Testaments ist?«
»Seine Tochter, Miss Flora Tapley«, antwortete Thorpe. »Es gibt keinen Grund, warum ich Ihnen das nicht verraten sollte. Sie wohnt in London bei Mr. Jonathan Tapley und seiner Frau.«
»Ich habe die junge Dame kennengelernt«, sagte ich. »Das Grundstück, das gegenwärtig an Major Griffiths vermietet ist, bildet ebenfalls einen Teil des Vermächtnisses, das an Miss Tapley fällt?«
»So ist es.«
»Major Griffiths war bestimmt erschrocken, als er von Tapleys Tod erfuhr? Aber der Mietvertrag läuft sicherlich noch für eine Weile? Seine Position als Mieter ist nicht unmittelbar bedroht?«
»Der gegenwärtige Mietvertrag läuft noch zwei weitere Jahre, es sei denn, der neue Besitzer des Hauses wünscht, die Vereinbarung vorher zu beenden. Es gibt eine entsprechende Klausel im Vertrag. Ich könnte mir jedoch denken, dass der neue Besitzer einfach abwarten wird, nachdem nur noch so wenig Zeit bis zum Ende des Vertrages vergehen muss. Es wäre fast genauso schnell wie der Versuch, die Mühlen des Gesetzes zu bemühen und den Mieter aus dem Haus zu klagen. Major Griffiths ist dennoch begierig darauf, Sie zu sehen, Inspector. Dürfte ich vorschlagen, dass wir nun zu ihm fahren? Ich habe einen Pferdewagen mit Pony reserviert, der uns zu ihm bringt.«
Inzwischen hätte ich nichts anderes mehr erwartet. »Dann lassen Sie uns fahren«, sagte ich und nahm meinen Hut. Die ganze Geschichte entwickelte sich mehr und mehr zu einem Abenteuer. Welche Überraschungen würde der Major enthüllen?
Unsere Fahrt zum Haus von Major Griffiths führte über offenes Moor und Landstraßen, die den Pferdewagen rattern und hüpfen ließen und Konversation größtenteils unmöglich machten. Thorpe gab dennoch sein Bestes.
»Ah, London! Sie treffen all diese Exzentriker!«, rief er mir zu und drückte sich den Hut auf den Kopf wegen des steifen Windes.
»Tapley scheint auf seine Weise auch nicht gerade wenig exzentrisch gewesen zu sein«, brüllte ich zurück und folgte seinem Beispiel, was den Hut anging.
»Alle Tapleys sind ein wenig exzentrisch«, rief unser Kutscher über die Schulter nach hinten. »Sie sind berüchtigt dafür. Nicht wirklich verrückt, aber anders, wenn Sie verstehen.«
»William ist ein Einheimischer«, erklärte Thorpe und deutete auf den Fahrer. »Er hat Recht, die Tapleys galten ausnahmslos als anders, jedenfalls in den Tagen, als sie noch hier lebten. Die Leute hatten keine Probleme damit, oder, William?«
»Die Leute waren daran gewöhnt«, antwortete William einfach. »Aber ich hab seit Jahren keinen Tapley mehr in der Gegend gesehen. Mr. Thomas ist tot, sagen Sie?«
»Ermordet!«, rief Thorpe. »In London!«
»Ah!«, erwiderte der Fahrer. »Wo sonst, wenn nicht in London. Hier in unserer Gegend wäre er bestimmt nicht ermordet worden.«
Wir folgten seit einigen Minuten einer Steinmauer zu unserer Rechten. Nun hielten wir vor einem geschlossenen schmiedeeisernen Tor. Unser Fahrer kletterte vom Bock und zupfte an einer Glockenschnur an der Wand. Es läutete laut und misstönend, und das Echo brach sich um uns herum und verdrängte die Stille genauso brutal, wie ein Büchsenschuss es getan hätte. Als Antwort öffnete sich die Tür eines kleinen Pförtnerhauses, und ein stämmiger Bursche in Gamaschen und Moleskin-Weste kam zum Vorschein, der aussah wie ein Wildhüter. Er öffnete die beiden Torflügel, und wir klapperten hindurch.
Der Torwächter/Wildhüter hob grüßend die Hand und starrte mich unfreundlich an, oder zumindest hatte ich den Eindruck. Sein Leben und sein Zuhause waren mit dem Tod des Hausbesitzers und dem nur noch zwei Jahre laufenden Vertrag auf einmal unsicher geworden – genau wie bei allen anderen, die in den Diensten des Majors standen. Der Pächter der Farm und seine Familie waren sicher genauso nervös. Ich musste damit rechnen, dass man mich als den Überbringer schlechter Nachrichten betrachtete.
Bald darauf hatten wir das Haus erreicht. Es war ein massiver jakobinischer Bau von gleichmäßigen Proportionen mit Reihen identischer Fenster. Er stand bereits so lange hier, dass er sich in die Landschaft einfügte wie ein natürliches Objekt, und seine hohen, schlanken Schornsteine schienen aus dem moosbewachsenen Dach zu springen wie langhälsige Vögel, die die Köpfe gen Himmel reckten.
»Das ist The Old Hall«, sagte Thorpe, während wir ausstiegen. »Es heißt so, weil die Familie, der es ursprünglich gehörte, um 1790 herum beschloss, ein neues, moderneres Haus zu bauen, The New Hall. The Old Hall kam durch Heirat in den Besitz der Tapley-Familie. Thomas Tapleys Mutter brachte es als Aussteuer mit.«
»Eine hübsche Aussteuer«, beobachtete ich und musste an das denken, was Jonathan mir über seinen Onkel erzählt hatte, Thomas’ Vater, der reich geheiratet hatte. In diesem Haus also war Thomas Tapley aufgewachsen, behütet von seiner Mama und all den anderen hingebungsvollen weiblichen Verwandten. Ich betrat es mit wachem Interesse.
Major Griffiths stellte sich als genauso massiv gebaut heraus wie das Haus. Er war ein Mann von über siebzig Jahren, doch mit der aufrechten Haltung des einstigen Soldaten und einer dichten Mähne silberner Haare.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Inspector!«, begrüßte er mich. »Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie sich die Zeit genommen haben, nach hier draußen zu kommen. Hat Mr. Thorpe Ihnen erzählt, warum ich so begierig darauf bin, Sie zu sprechen?«
»Äh … nein«, antwortete ich mit einem Seitenblick zu Thorpe.
»Ich hielt es für das Beste, wenn Sie es dem Inspector selbst erklären, Major«, sagte der Anwalt. »Der Inspector wird sicherlich Fragen haben, und ich hätte sie nicht beantworten können.«
»Ganz recht, ganz recht. Machen Sie es sich doch bequem, Gentlemen. Ich kann uns Tee bringen lassen oder ein Glas Madeira, falls Ihnen mehr danach ist.«
Nach unserer Knochen durchschüttelnden Reise hierher entschieden wir uns dankbar für den Madeira. Er traf auf dem Tablett eines ältlichen Butlers ein, in Begleitung eines einfachen Kuchens.
»Ich erkläre Ihnen alles, so schnell ich kann, Inspector«, begann Griffiths. »Ich vermute, dass Sie noch andere Dinge zu erledigen haben, bevor Sie nach London zurückkehren. Als Mr. Thorpe mir gestern eine Nachricht zukommen ließ und mich darüber informierte, dass Sie erwartet werden, schickte ich mit dem gleichen Boten eine Nachricht an ihn zurück, in der ich mein Anliegen offenkundig machte, dringend mit dem Inspector zu reden. Zumindest erscheint es mir dringend. Ich bin – oder war – der Mieter von Thomas Tapley, wie Sie sicher wissen. Mein Mietvertrag läuft noch für weitere zwei Jahre, es sei denn, der neue Besitzer möchte den Vertrag früher auflösen. Ich hoffe, dass wir zu einem Arrangement diesbezüglich kommen, Thorpe! Ich würde den Vertrag gerne bis zum Ende laufen lassen! In zwei Jahren bin ich dann gerne bereit auszuziehen und mich in eine Gegend mit milderem Klima zurückzuziehen. Ich habe eine Vorliebe für den Südwesten, die Gegend von Sidmouth, und möchte meine letzten Tage am Meer verbringen. Ich weiß, dass der verstorbene Duke of Kent, der Vater unserer gnädigen Königin, dort erkrankte und schließlich an den Folgen verschied, aber es gefällt mir trotzdem dort. Wo war ich stehen geblieben? Ah, richtig. Ross.«
Zu meiner Erleichterung richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf mich. Wenn das Erzählen war, so schnell er konnte, dann stand mir eine unangenehm lange Erklärung bevor. Ich wurde schon vorher ungeduldig.
»Ich bekomme nicht viel Besuch hier, wissen Sie? Die wenigen, die kommen, kommen auf meine Einladung hin. Es ist ein abgelegener Ort. Doch Anfang letzten November hielt eine Mietdroschke vor dem Haus, und ein Paar stieg aus, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Die beiden baten darum, das Haus besichtigen zu dürfen! Sie waren auf einer Rundreise durch Yorkshire, wie sie sagten. Ich dachte bei mir, ziemlich spät im Jahr. Es war bereits kalt geworden. Sie waren Ausländer, Franzosen. Der Mann stellte sich als Monsieur Hector Guillaume vor und die Dame als seine Schwester.
Major Griffiths schnaubte. »Ich bin ein alter Soldat, Sir. Ich bin weit herumgekommen. Sie war genauso wenig seine Schwester wie meine! Mehr noch, sie war von der Sorte, die ich, wäre sie jünger gewesen, als Wanderhure bezeichnet hätte! Sie war sehr attraktiv, keine Frage. Schöne Augen, doch der Blick darin war misstrauisch, und ihr Mund war hart. Das sind Dinge, die eine Frau von fragwürdigem Hintergrund immer verraten. Sie hielt sich vornehm. Ich nehme an, die dunkelrote Farbe ihrer Haare rührte von Henna her. Sie hatte eine Menge Haare, alle zu einer komplizierten Frisur hochgesteckt. Sie sah aus wie knapp über vierzig, wohlwollend betrachtet, aber sie war wohl eher Anfang fünfzig. Ich bin kein Experte, was die Beurteilung des Alters von Frauen angeht. Farbe und Puder vertuschen das Fortschreiten der Jahre, und diese Lady hatte reichlich von beidem aufgetragen.
Der Mann war Mitte fünfzig, würde ich sagen. Er war nicht unansehnlich, allerdings hatte er sich auf eine Weise angezogen, von der er vermutlich meinte, dass es sich so gehört, wenn man auf das Land fährt, noch dazu in England. Tweedjacke und Knickerbocker in ziemlich auffälligem Karo-Muster, dazu Duftöl im Haar, was sicherlich kein Gentleman vom Land in meinem Bekanntenkreis getan hätte! Ich weiß nicht, was in der Stadt in Mode ist dieser Tage. Aber ich weiß, dass ich keinem Kerl über den Weg traue, der sich parfümiert. Ich fand seine Art sehr …«, Griffiths suchte nach dem passenden Wort.
»Irgendetwas war nicht richtig an ihm«, schloss er. »Ich kann nicht sagen, dass er unhöflich gewesen wäre. Ich hätte andernfalls beiden sofort die Tür gewiesen. Aber nein, ganz im Gegenteil, er war äußerst höflich – viel zu höflich für meinen Geschmack. Beide lächelten ununterbrochen. Ich hätte keinem von ihnen über den Weg getraut.
Auf der anderen Seite kommen viele Ausländer wegen unseres Wassers nach Harrogate. Sie sind kein ungewohnter Anblick in unserer Gegend. Und wenn sie zu Besuch kommen, nutzen sie oftmals die Gelegenheit zu einer Rundfahrt durch Yorkshire und tauchen vor alten Landhäusern auf. The Old Hall ist zweifellos ein Blickfang. Diese beiden Reisenden hatten ihre Bitte sehr höflich vorgetragen. Und wenn es übertrieben geklungen hatte, dann vielleicht nur deswegen, weil sie nervös waren. Wie dem auch sei, ich befand mich in einer Zwickmühle. Ich wollte nicht ungastlich oder gar unfair erscheinen. Man kann schließlich nicht erwarten, dass sich ein Ausländer wie ein gut erzogener Engländer benimmt, und ich wollte nicht voreingenommen erscheinen. Also sagte ich, dass ich ihnen das Erdgeschoss gerne zeigen würde, aber nicht die oberen Etagen, und verlieh meinem Bedauern Ausdruck, dass ich ihnen nicht mehr anbieten konnte.
Sie versicherten mir, dass sie nur die unteren Räume sehen wollten, den Salon und die anderen Gesellschaftsräume. Ich hatte kein Problem damit. Aber sie stellten Fragen, das kann ich Ihnen sagen, sie fragten mir geradezu Löcher in den Bauch! Zuerst wollten sie wissen – das war ja noch einigermaßen verständlich –, wie alt das Haus war und welche Geschichte es hatte. Dann fragten sie, ob es schon lange im Besitz meiner Familie wäre. So weit, so gut. Als ich erwiderte, dass ich nur Mieter war, gaben sie ihrer nicht gelinden Überraschung Ausdruck. Im Anschluss daran wurden ihre Fragen immer spezieller und grenzten für meinen Geschmack an Unverschämtheit. Was denn mit dem Besitzer wäre? Sein Name? Tapley? Sie waren überrascht, dass er nicht selbst hier wohnte, in so einem schönen Haus. Ob es denn keine anderen Tapleys gäbe, die hier leben wollten? Und was ihn veranlasst hätte auszuziehen? Wo er jetzt lebte?«
Major Griffiths gab einen Ton von sich, der wie ein Knurren klang. »Auf die letzte Frage erwiderte ich, dass ich überhaupt keine Idee hätte, wo der Besitzer lebte, und dass ich nicht selbst mit ihm korrespondierte. Ich war inzwischen sehr darauf erpicht, die beiden loszuwerden, und bedauerte zutiefst, dass ich ihrer Bitte überhaupt nachgegeben hatte. Ich empfahl ihnen, sich mit Newman und Thorpe in Harrogate in Verbindung zu setzen, falls sie mehr über Mr. Tapley zu erfahren wünschten, und führte sie zur Tür. Offen gestanden, nachdem sie erkannten, dass ich nicht wusste, wo Tapley zu finden war, zeigten sie keinerlei Interesse mehr, noch länger zu bleiben, jedenfalls hatte ich den Eindruck. Sie verabschiedeten sich ziemlich hastig, und ich instruierte Hartwell, meinen Wildhüter, der im Pförtnerhaus wohnt und den Sie bei Ihrer Ankunft wohl gesehen haben, dass er sie nicht wieder hereinlassen sollte, falls sie noch einmal auftauchten. Außerdem schrieb ich einen Brief an Thorpe hier, in dem ich ihm von der Begebenheit berichtete. Ich warnte ihn, dass sie möglicherweise in seinem Büro auftauchen würden.«
»Aber das geschah nicht«, sagte Fred Thorpe, der die ganze Zeit über zustimmend genickt hatte. »Wir haben darüber gesprochen, mein Vater und ich, und uns gefragt, ob wir deswegen mit Jonathan Tapley in Verbindung treten sollten. Wir wussten schließlich auch nicht, wo Thomas Tapley steckte. Wie ich bereits erklärt habe, hatte er mir seine gegenwärtige Adresse trotz gegenteiligen Versprechens nicht mitgeteilt, aber wir dachten, dass Jonathan vielleicht Bescheid wusste. Letzten Endes haben wir uns aber nicht an ihn gewandt, wie ich gestehen muss, weil wir eigentlich nichts Spezifisches zu berichten hatten. Das Paar hatte die Gegend wieder verlassen. Ich hatte mich davon überzeugt, indem ich Erkundigungen einzog. Die beiden waren zumindest nicht mehr in Harrogate. Vielleicht waren sie tatsächlich Besucher, wie sie behauptet hatten, und wenn ihr Verhalten auch merkwürdig erschien, sie waren Ausländer. Wir haben alle möglichen Arten von Leuten hier in Harrogate, wie der Major schon sagte, und die Umgebung ist jederzeit einen Besuch wert. Alle möglichen Leute kommen hierher, Künstler, Poeten, und … und Touristen.«
Jetzt war die Reihe an Major Griffiths, zustimmend zu nicken. »Das ist richtig«, sagte er. »In der Woche, bevor dieses seltsame Paar auftauchte, hatte Hartwell gemeldet, dass er einen Burschen mit einer zusammengeklappten Staffelei über der Schulter und einem Beutel für Farben und so weiter in der Hand im Moor getroffen hatte, wo er die Vögel aufscheuchte. Er hat ihn weggeschickt. Wären die Guillaumes zu Fuß gekommen, er hätte sie ebenfalls weggeschickt. Aber sie trafen mit einer Kutsche ein, und das brachte den armen Burschen aus der Fassung. Er nahm an, dass es Herrschaften waren.«
»Ich verstehe«, sagte ich. »Ich bin sehr froh, Major, dass Sie mir das alles erzählt haben.«
»Ich dachte mir, dass Sie es erfahren sollten«, erwiderte Griffiths. »Und ich bin froh, dass ich es endlich aus dem Kopf habe.«
»Um ehrlich zu sein, Ross – ich wünschte, ich hätte Jonathan Tapley wegen der Guillaumes angeschrieben«, vertraute Thorpe mir an, als wir allein draußen vor dem Haus standen und auf das Eintreffen unserer Kutsche warteten. »Gut möglich, dass ich einen Fehler begangen habe.«
»Es hätte keinen Unterschied gemacht«, tröstete ich ihn. »Jonathan wusste ebenfalls nicht, wo sein Cousin lebte. Er hat versucht, ihn zu finden.«
»Wie dem auch sei, letztendlich war es Jonathan, der sich an uns wandte und wissen wollte, ob wir wüssten, wo er seinen Cousin erreichen kann. Wir mussten seine Anfrage verneinen. Jonathan Tapley hatte, wie es aussah, vergeblich versucht, mit seinem Bruder unter der französischen Adresse in Kontakt zu treten. Er gab an, er hätte nicht gewusst, dass sein Cousin zurück in England war. Ich fürchte, wir erwecken den Eindruck, nachlässig gewesen zu sein.« Der Anwalt schüttelte zerknirscht den Kopf.
»Wenn jemand verschwinden will, dann zeigt er bemerkenswerten Einfallsreichtum, das ist meine Erfahrung als Polizeibeamter«, sagte ich zu ihm. »Thomas Tapley ist Ihnen durch die Lappen gegangen, wie wir beim Yard zu sagen pflegen.«
»Trotzdem, wir hätten es früher merken müssen. Sie glauben auch, dass diese beiden Ausländer versucht haben, ihn zu finden, oder?« Er sah mich an und blinzelte in der frischen Brise.
»Das tue ich, ja.«
»Wäre es angesichts dieser Umstände möglich, dass er niemandem seine Adresse gab, weil er sich vor ihnen versteckte?«, fragte Fred unverblümt.
»Allerdings, Mr. Thorpe. Ich halte es nicht nur für möglich, sondern durchaus für wahrscheinlich.«
Die Kutsche kam um die Ecke und hielt wartend neben uns.
»Die Sache gefällt mir nicht«, sagte Fred Thorpe heftig. »Angesichts dessen, was dem armen Tapley zugestoßen ist, gefällt sie mir ganz und gar nicht. Wenigstens haben sie keine Adresse von Major Griffiths erhalten.«
Nein, dachte ich, doch das sagte ich nicht laut. Eine Adresse haben sie zwar nicht erhalten, aber sie konnten einen gründlichen Blick auf den Besitz werfen. Das allein hat ihnen verraten, dass Thomas Tapley ein wohlhabender Mann war.
Und ein verängstigter obendrein.