KAPITEL ACHT

Elisabeth Martin Ross

»Wenn du mich fragst, haben er und seine Frau sich äußerst selbstsüchtig, ja geradezu grausam verhalten«, sagte ich an diesem Abend zu Ben, als er mir in kurzen Worten von seinem Gespräch mit Jonathan Tapley berichtet hatte. »Genau genommen hat er seinen Cousin ins Exil getrieben, so dass er weiterhin die Vormundschaft über die kleine Flora behalten konnte. Wie konnte er es überhaupt wagen, seinen Cousin später anzuschreiben und um eine schriftliche Einwilligung zur Hochzeit nachzufragen, die zudem auch noch notariell beglaubigt sein sollte … und dem armen Mann zugleich zu verbieten, nach Hause zu reisen, um persönlich seine Einwilligung zu geben und zu sehen, wie seine Tochter heiratet?«

Ich war empört über die Ungerechtigkeit, die man dem armen Thomas hatte zuteilwerden lassen, und fuhr energisch fort: »Wäre es wirklich ein Skandal gewesen, wenn Thomas aufgetaucht wäre? Niemand hätte sich an ein Ereignis erinnert, das vor vierzig Jahren in Oxford stattgefunden hatte, oder an irgendwelche Gerüchte bezüglich seiner Neigung zwischen diesem Vorfall und dem Zeitpunkt seiner Abreise. Er war fast zehn Jahre fort!«

»Jonathan und Maria Tapley waren diesbezüglich nicht so sicher«, entgegnete Ben nachsichtig.

Doch davon wollte ich nichts hören. »Es überrascht mich nicht, dass Thomas still und heimlich nach Hause zurückgekehrt ist, ohne seinen Cousin zu informieren. Er wollte seine Tochter sehen, das ist doch verständlich! Ich weiß genau, wäre er mein Vater gewesen –«

»Er war aber nicht dein Vater«, unterbrach mich Ben schroff. »Als dein Vater plötzlich zum Witwer mit einem kleinen Kind wurde, hat er es auf sich genommen, dich alleine großzuziehen. Thomas hatte nichts Eiligeres zu tun, als seine Tochter seinem Cousin zu überlassen. Andererseits kann man es ihm nicht verdenken. Vergiss nicht, in welch schwieriger Situation er sich befand. Es mag ja sein, dass Dr. Martins Tochter bestens informiert und tolerant ist, was das Thema Sex angeht, doch die meisten der hübschen jungen Mädchen werden in beklagenswerter Unwissenheit großgezogen. Stell dir vor, Thomas Tapley wäre in einen weiteren Skandal verwickelt worden. Wer hätte es der jungen Flora beibringen sollen? Thomas wusste, dass es besser war, außer Landes zu gehen. Und sei dir nicht allzu sicher, was seine Motive angeht, nach Hause zurückzukehren. Wenn er seine Tochter so dringend sehen wollte, warum hat er dann erst bei Mrs. Holland in Southampton ein Quartier bezogen und ist dann Untermieter bei Mrs. Jameson geworden, alles ohne Jonathan zu informieren? Oder den Versuch zu unternehmen, seine Tochter zu sehen?«

»Vielleicht hat er den Mut verloren?«, schlug ich vor. »Der arme Mann, das Mädchen weiß noch nicht einmal, wie er aussieht – aussah –, nehme ich zumindest an. Vielleicht wollte Thomas auch nur seine Einwilligung hinauszögern?«

Ben bedachte mich mit einem triumphierenden Blick. »Du übersiehst einen wichtigen Punkt, Lizzie. Thomas wusste nicht, dass Flora verlobt war und heiraten wollte. Jonathan hat den Brief mit diesen Neuigkeiten an die zuletzt bekannte Adresse in Nizza geschickt, doch er kam zurück, und auch alle weiteren Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten, schlugen fehl. Thomas’ Anwälte haben ihn im Januar des vergangenen Jahres zum letzten Mal gesehen. Er versprach, ihnen seine neue Adresse zukommen zu lassen, sobald er eine Bleibe gefunden hatte, doch das ist nie geschehen. Du überschätzt seine edlen Beweggründe. Statt ihn als gelehrten ältlichen Gentleman zu betrachten, dessen Vermieterin Mitglied der Quäkergemeinde ist, tätest du besser daran, in ihm den Mann zu sehen, der mit Damen von zweifelhafter Herkunft in Deauville Strandspaziergänge unternimmt!«

Mit diesem Volltreffer beendete er seine Ausführungen und wartete nun darauf, dass ich meine Argumente in seine Richtung feuerte.

Ich war bereit. »Er sah davon ab, Jonathan zu informieren, weil er wusste, wie dieser reagieren würde. Der erste Brief kam zurück. Jonathan schickte noch weitere Briefe, nicht wahr? An alle ihm bekannten Adressen, wo Thomas je gewohnt hatte? Kamen alle diese Briefe zurück? Wie will man ausschließen, dass Thomas nicht doch einen davon erhalten hat?«

»Weil Thomas zu dieser Zeit bereits wieder in England war«, lautete Bens prompte Antwort. »Wie wir wissen, ist er in das am anderen Ende des Landes gelegene Southampton zurückgekehrt, nachdem er seine Anwälte in Harrogate aufsuchte und mit dem leeren Versprechen abspeiste, mit Ihnen in Verbindung zu bleiben. Warum hatte er es so eilig, Harrogate zu verlassen? Befürchtete er, dem einen oder anderen alten Bekannten über den Weg zu laufen und erkannt zu werden? Von Februar bis Juli logierte er in Southampton. Hatte er vor, nach Frankreich zurückzukehren? Wenn dem so war, so verwarf er diese Idee wieder, wie es scheint, denn er reiste nach London, und das nicht mit der Absicht, seinen Cousin aufzusuchen. Von Juli bis zu seinem gewaltsamen Tod in diesem Frühjahr lebte er leise und unauffällig bei der Witwe Jameson. Thomas hielt den Kopf unten, wie man so schön sagt.

Jonathan fing im Oktober vergangenen Jahres an, den Kontinent mit Briefen zu bombardieren, kurz nach Floras neunzehntem Geburtstag, nachdem der Verehrer um ihre Hand angehalten hatte. Doch es war reine Zeit- und Papierverschwendung. Tom Tapley war bereits wieder nach Hause zurückgekehrt. Es ist nicht verwunderlich, dass keiner der Briefe ihn erreichte. Er hatte sich in Frankreich aus dem Staub gemacht und war nach England zurückgekehrt … und der Grund dafür war nicht, dass er beabsichtigte, mit seinem Cousin oder seiner Tochter in Verbindung zu treten.«

Einen Augenblick herrschte Stille zwischen uns, und Ben griff nach dem eisernen Haken und schürte das Feuer. Missmutig saß ich daneben, hatte ich doch fürs Erste klein beigeben müssen. Doch ich hatte mein Pulver noch nicht ganz verschossen. Es war an der Zeit, Ben von dem Clown zu erzählen. Ich hätte es ihm bereits in der Nacht, als Thomas Tapley starb, erzählen müssen, doch irgendwie war mir die Begebenheit entfallen, als ich bei Mrs. Jameson auf dem Sofa gesessen hatte.

»Ich glaube, es geht bei dieser Sache um mehr als lediglich die Erlaubnis zu einer Heirat«, setzte ich an. »Ich habe dir noch nichts von dem Clown erzählt.«

»Clown?« Ben stellte den Schürhaken zum Kaminbesteck zurück und setzte sich.

»Ja, dem Clown, den Bessie und ich am neuen Ufer beobachtet haben, wo er die Passanten unterhielt. Das heißt, er unterhielt sie bis zu dem Moment, als er sich an Thomas Tapleys Fersen heftete und ihn bis über die Brücke verfolgte.«

Ben stöhnte und vergrub seinen dichten Schopf schwarzer Haare in den Händen. Dann blickte er auf, und mit tonloser Stimme erwiderte er: »Dunn nennt das Ganze einen Groschenroman. Nun wirfst du einen Clown dazu und machst das alles zu einem Jahrmarkt? Was ist mit diesem Clown, Herrgott noch mal?«

Ich erzählte ihm meine Geschichte, und als ich geendet hatte, schwieg Ben minutenlang, bevor er in einer Art zu mir zu reden anfing, die ich seine »Vernunftsstimme« nenne. »Es tut mir leid, dass du und Bessie diesem Kerl am Ufer begegnet seid. Ich weiß, was du von Clowns hältst. Aber ich glaube, dass deine persönlichen Erfahrungen in diesem Fall deine Sichtweise beeinflussen. Sie verfälschen das Bild, das du von Jonathan Tapley, seiner Frau und dem Verhalten der beiden hast. Sie beeinflusst auch deine Sicht in Bezug auf Thomas’ Motive, nach England zurückzukehren. Deine von einem Zirkusbesuch herrührende kindliche Angst beeinflusst deine Einschätzung des Vorfalls.«

»Nein!«, protestierte ich. »Ich habe gesehen …«

»Du hast einen Mann in greller Kleidung gesehen, mit einem bemalten Gesicht, der am Ufer mit Bällen jongliert hat. Der Anblick hat dir Angst gemacht.« Er beugte sich vor und ergriff meine Hand. »Später hast du die gleiche Angst auslösende Gestalt vor dir auf der Brücke gesehen. Der Clown selbst hat dir nach eigener Aussage keine Beachtung geschenkt. Lediglich du hast seine Anwesenheit wahrgenommen. Wie es zufällig scheint, war Thomas ein wenig früher auf der Brücke und befand sich daher vor dem Clown. Für dich in deiner Panik sah es danach aus, als würde der Clown Thomas verfolgen …«

Ich öffnete den Mund, um zu protestieren, doch er signalisierte mir zu warten, bis er mit seinen Ausführungen fertig war.

»Für dich, das musst du dir bewusst machen, ist der Clown eine finstere Gestalt und muss demzufolge auch eine finstere Absicht haben. In deinen Augen kann er kein bloßer Straßenkünstler sein, der lediglich versucht, ausreichend Pennies einzusammeln, die er nach Hause bringen kann, wo womöglich Frau und Kinder auf ihn warten. Sie müssen ernährt und die Miete muss gezahlt werden. Er hat kein anderes Einkommen. Ich könnte mir vorstellen, Lizzie, meine Liebe, dass du dich insgeheim für deine irrationale Angst schämst. Daher suchst du nach einer Rechtfertigung. Dieser Clown muss einfach böse sein. Aber so ist es nicht, Liebling.«

Es stimmt, dass dies mehr oder weniger meine eigenen Gedanken gewesen waren am Abend des Tages, als ich den Clown gesehen hatte. Ich selber hatte mir versucht einzugestehen, dass meine Angst um Thomas Tapley Ausdruck meiner eigenen Angst vor dem Clown war. Doch ich mochte nicht, dass Ben es mit solcher Bestimmtheit äußerte, nicht nach allem, was in der Zwischenzeit passiert war. Ich entzog ihm meine Hand. »Also schön«, antwortete ich steif. »Ich werde den Clown nicht wieder erwähnen. Doch ich bleibe bei meiner Meinung. Außerdem war ich dort, du hingegen nicht.«

»Das streite ich nicht ab. Ich möchte überhaupt nicht mit dir streiten. Doch auf die Gefahr hin, dass ich dich ein weiteres Mal kränke, Lizzie, muss ich dir mitteilen, dass ich morgen erst spät am Abend nach Hause kommen werde. Ich werde in einem Lokal zu Abend essen. Koch bitte nichts für mich.«

»Wohin gehst du?«, fragte ich neugierig.

»Ich will versuchen, Jonathan Tapley zu Hause zu erwischen. Ich möchte ihn in seinen eigenen vier Wänden befragen. Ich möchte Mrs. Tapley und insbesondere Miss Flora Tapley kennenlernen. Ich möchte den beiden mein Beileid aussprechen. Sein Haus steht übrigens am Bryanston Square, nicht weit entfernt von deiner Tante Parry in Marylebone.«

»Sie sind in Trauer«, mahnte ich ihn. »Sie werden es nicht gut finden, wenn du dort auftauchst, insbesondere, wenn du unangemeldet kommst.«

Ben schenkte mir ein grimmiges Lächeln. »Niemand mag es, wenn die Polizei an der Tür klingelt, und es ist eine schlechte Angewohnheit von uns, unangemeldet aufzutauchen. Ich gebe dir Recht, dass Jonathan nicht begeistert sein wird, doch er wird keineswegs überrascht sein. Ich bin der Sohn eines Bergarbeiters, und gesellschaftliche Konventionen sind mir fremd. Ich habe keine Gewissensbisse, einen Gentleman nach Tisch bei seinem Port und seiner Zigarre zu stören. Bisher hat mich dieser Mann auf äußerst geschickte Art manipuliert. Es ist an der Zeit, den Herrn, der die Tricks aus dem Gerichtssaal so gut beherrscht, in seine Schranken zu weisen.«

»Du magst ihn nicht«, stellte ich fest, und in meine Stimme schlich sich ein triumphierender Unterton. »Genauso wenig wie ich.«

»Du bist ihm doch noch gar nicht begegnet«, tadelte er mich.

»Das ist auch nicht nötig. Ich missbillige die Art, wie er sich verhält. Außerdem magst du ihn nicht, und wie es aussieht, habe ich deine Meinung zu respektieren und darf mir kein eigenes Urteil bilden. Du hast Recht in Bezug auf den Clown und in Bezug auf Jonathan Tapley.«

Erneut herrschte Stille zwischen uns. »Die Sache ist noch nicht ausgestanden, stimmt’s?«, fragte Ben resigniert.

»Nein, Inspector Ross, selbstverständlich nicht! Aber keine Sorge. Ich bringe das Thema nicht mehr zur Sprache, bevor ich keine neuen Informationen für dich habe. Das heißt, sofern du überhaupt Interesse hast an dem, was ich möglicherweise herausfinde.«

»Lizzie …«, warnte er mich. »Sei vorsichtig.«

»Oh, ich habe nicht vor, Superintendent Dunn zu verärgern!«, versprach ich.

»Da du heute Abend nicht zum Essen da sein wirst«, sagte ich beim Frühstück zu Ben, »denke ich, dass ich meine Tante Parry besuchen werde. Es ist schon eine Weile her, dass ich sie gesehen habe. Sie beklagt sich ständig, ich würde sie vernachlässigen. Ich mache mich heute Nachmittag auf den Weg. Bessie wird mich begleiten und ihre früheren Freunde vom Personal besuchen.«

Bevor Bessie ihre Stellung bei uns angetreten hatte, war sie Küchenmagd im Haushalt meiner Tante gewesen.

»Wie willst du dorthin kommen?«, fragte er mich, während er den Kaffee hinunterstürzte und sich erhob.

»Wir gehen zu Fuß bis zum Bahnhof und nehmen dort am Stand eine Droschke.«

»Schön, richte deiner Tante herzliche Grüße von mir aus.« Während er sprach, mühte er sich in seinen Mantel. »Ich sehe dich heute Abend.« Er griff nach einem Stück Toast und eilte durch die Tür.

Bessie war erfreut über die Aussicht, einen weiteren Tag außer Haus zu verbringen. Wie abgesprochen brachen wir am frühen Nachmittag auf. Auf dem Weg zum Bahnhof hielt ich nach Joey Ausschau, doch es war nichts von ihm zu sehen. Bessie hatte die ganze Straße abgeklappert, um in Erfahrung zu bringen, ob er irgendwo an den Hintertüren aufgetaucht war, doch niemand hatte ihn gesehen. Uns blieb wohl nichts anderes übrig, als zu warten, bis er von alleine wieder auftauchte, was nach Bens Meinung über kurz oder lang der Fall sein würde.

Ich hatte ebenso gehofft, Wally Slater in der Reihe der wartenden Droschken zu entdecken, doch er war nicht da. Offensichtlich waren mehrere Züge beinahe zeitgleich eingetroffen, denn es gab lediglich eine geschlossene Kutsche, die wir dann auch nahmen. Der Kutscher war ein mürrischer Mann, an dessen Nase man seinen Hang zur Flasche erkennen konnte und dessen Pferd schlecht genährt und vernachlässigt aussah. Als wir unser Ziel erreicht hatten, sprach ich ihn darauf an (auf den Zustand seines Pferdes, heißt das). Er entgegnete, dass ich nichts von Pferden verstünde und sein Pferd bestens in Form sei. Ich bemerkte daraufhin, dass das Geschirr des Pferdes verdreckt war und schlecht saß. Er erwiderte, dass ich frei gewesen wäre, eine andere Kutsche zu nehmen, wenn mir diese hier nicht gefiel. Außerdem wäre er ein arbeitender Mann, der sich seinen Lebensunterhalt verdienen müsste, und er hätte nicht die Zeit, um sich mit reichen Frauen zu unterhalten, die ihm erzählen wollten, wie er seine Arbeit zu machen habe.

Ich hätte entgegnen können, dass ich keineswegs vermögend war, doch in Anbetracht der Tatsache, dass er mich soeben zu einem Haus in einer teuren Wohnlage gebracht hatte und der Butler in Erwartung meiner Person bereits die Tür geöffnet hatte, hätte er mich wohl ausgelacht.

Meine Tante Parry erschien nie vor Mittag. Sie verbrachte die Vormittage im Bett, wo sie ein leichtes Frühstück zu sich nahm und sich ihrer Korrespondenz widmete. Um ein Uhr jedoch war sie angezogen und bereit, ein üppiges Mittagessen einzunehmen. Als wir um drei Uhr ankamen, war sie im Salon und trank mit ihrer Gesellschafterin Tee.

Ursprünglich war ich nach London gekommen, um diese Position zu bekleiden. Bei der Gelegenheit hatte ich Ben wiedergetroffen, zum ersten Mal seit unserer Kindheit, und alles hatte sich für mich zum Guten gewandt. Tante Parry hingegen war nicht glücklich über die Entwicklung gewesen. Ich hatte sie in die missliche Lage gebracht, sich um eine neue Gesellschafterin bemühen zu müssen, auch wenn es ihr nicht schwergefallen war, mich gehen zu lassen. Ich war zu geradeheraus, und mein Verhalten kam ihr absonderlich vor. Ungeachtet dessen warf sie mir immer noch vor, ich hätte sie in selbstsüchtiger Weise zurückgelassen, um zu heiraten – noch dazu einen Polizisten.

Seitdem ich weggegangen war, hatten drei Gesellschafterinnen in schneller Folge den Hauhalt durchlaufen. Nun »versuchte« Tante Parry es mit der vierten bedauernswerten Person. Ich fand die beiden am Feuer vor, meine Tante in rotblaue Atlasseide gekleidet, die Gesellschafterin namens Laetitia Bunn hingegen in einem Kleid aus dunkelgrün glänzender Baumwolle. Beide waren recht klein und von untersetzter Gestalt, und es wirkte, als wenn eine reife Pflaume von einem kleinen runden Baum gefallen war.

»Oh, Elizabeth, meine Liebe!«, krähte Tante Parry. »Endlich! Ich hatte bereits befürchtet, du hättest London den Rücken zugekehrt und wärst zurückgegangen nach – wie hieß das noch gleich? Irgendein Ort in Derbyshire. Ich habe nicht ein Wort von dir gehört! Wie geht es dir, und wie geht es Inspector Ross?« Bevor ich die Gelegenheit erhielt zu antworten, stellte sie mir Miss Bunn vor und fügte an: »Dies hier ist Mrs. Ross, meine Nichte, Laetitia. Ich habe Ihnen bereits von ihr erzählt.«

Um genau zu sein, war ich nicht ihre Nichte. Sie war die Witwe meines Paten. Doch wir hatten uns auf die Anrede »Tante« geeinigt.

Ich wusste nicht, was meine Tante Parry ihrer Gesellschafterin über mich erzählt hatte, doch das arme Ding starrte mich an, als wäre ich aus einem Wanderzirkus entflohen.

»Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Miss Bunn«, sprach ich sie an. »Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt?«

»Oh ja«, flüsterte Miss Bunn. »Selbstverständlich. Mrs. Parry ist sehr freundlich.«

Sie machte den Eindruck einer unscheinbaren Person, die sich aus Angst vor einer Kündigung bemühte zu gefallen. Eine schlimme Situation, in der sich die meisten Gesellschafterinnen befanden. Ich hatte Mitleid mit ihr. Dort draußen gab es Tausende wie sie, unglückliche Mädchen aus respektablen Familien, die keinerlei Verwandtschaft mehr besaßen, die sie hätte aufnehmen können. Ich war nicht immer einer Meinung mit Tante Parry, doch ich hatte mich in der gleichen Lage wie Miss Bunn befunden, als Tante Parry mich einlud, zu sich nach London zu kommen. Zu jener Zeit war ich dankbar dafür gewesen, und im Geiste ermahnte ich mich, das nicht zu vergessen.

»Es ist recht zugig hier drinnen«, äußerte sich Tante Parry. »Wenn Sie eben klingeln würden, Laetitia, so dass Simms den Tee auffüllen kann. Und holen Sie mir doch bitte mein Schultertuch – das aus hellblauer Kaschmirwolle. Ich danke Ihnen, meine Liebe.«

Miss Bunn sprang auf die Füße; sie zog derart fest am Glockenstrang, dass es ein Wunder war, dass das Seil nicht abriss. Danach eilte sie aus dem Zimmer, um das Tuch zu holen.

»Oh, meine liebe Lizzie«, vertraute sich Tante Parry mir ohne Umschweife an, als die Gesellschafterin den Raum verlassen hatte. »Sie macht mich völlig verrückt. Sie spielt fürchterlich schlecht Whist – sie kann nicht rechnen, das arme Ding. Sie wirft ihr ganzes Blatt durcheinander. Sie kann keine Konversation betreiben. Sie ist beklagenswert ungebildet. Wenn sie mir vorliest, so stockt sie vor jedem längeren Wort, um zu überlegen. Sie stottert und betont die falschen Silben und, nun ja, es ist eine Qual, ihr zuhören zu müssen. Wie sehr ich dich vermisse, meine liebe Elizabeth, und wie sehr ich mir wünsche, du wärst immer noch bei mir. Aber nein, du musstest dich ja davonmachen und diesen Polizisten heiraten.«

Glücklicherweise blieb es mir erspart, darauf antworten zu müssen, da in diesem Moment Simms, der Butler, auftauchte. Er wurde mit dem Auftrag fortgeschickt, neuen Tee zu bringen sowie eine weitere Tasse für mich. »Und vielleicht noch ein wenig Gebäck!«, ergänzte Tante Parry strahlend, wobei sie die Tatsache zu ignorieren schien, dass das Mittagessen noch nicht lange zurücklag.

»Bist Du wohlauf, Tante Parry?«, erkundigte ich mich. »Was gibt es an Neuigkeiten hier im Haus? Arbeitet Nugent noch hier?«

Nugent war die leidgeprüfte Kammerzofe.

Allein der Gedanke, sie müsste womöglich ohne Nugent auskommen, entlockte Tante Parry ein erschrockenes Quieken. »Wenn ich Nugent nicht hätte, so wäre ich in einer furchtbaren Lage! Und nein, ich bin nicht wohlauf. Ich habe schreckliche Magenprobleme, und kein Pülverchen macht es auch nur ein Stück besser!«

Womöglich würde es helfen, wenn sie weniger äße, dachte ich bei mir.

»Mrs. Simms vermisst die Küchenmagd, die du mitgenommen hast«, setzte Tante Parry die Liste ihrer Beschwerden fort. »Selbstverständlich habe ich umgehend ein anderes Mädchen eingestellt, um diese, wie war noch ihr Name? Bessie? Um diese Bessie zu ersetzen. Sie ist ebenfalls auf der Straße aufgewachsen. Mrs. Simms beschwert sich, dass sie so langsam lernt. Du musstest Bessie ja unbedingt mitnehmen, als du gegangen bist. Weißt du, Lizzie, auch wenn ich dir wohlgesonnen bin, so muss ich sagen, dass du meinen Haushalt ins Chaos gestürzt hast. Du hättest ruhig ein wenig Rücksicht auf mich nehmen können. Oh, da sind Sie ja, Laetitia. Warum hat es so lange gedauert?«

Die nächsten fünf Minuten verbrachten wir damit, das blaue Tuch um Tante Parrys mollige Schultern zu wickeln, bis schließlich Simms erschien und die Kanne mit frischem Tee sowie das Gebäck brachte. Es dauerte somit eine Weile, bevor das Gespräch wieder in Gang kam. Zuerst sprachen wir über Frank Carterton, Tante Parrys echten Neffen. Er arbeitete mittlerweile für das Auswärtige Amt und hielt sich gegenwärtig mit der von Ihrer Majestät, der Königin neu gegründeten Gesandtschaft in Peking auf, worüber meine Tante mehr als bekümmert war. Jahrelang hatten sich die Chinesen standhaft gegen einen offiziellen Vertreter der britischen Barbaren in Peking gewehrt. Letztendlich hatte man den Kaiser unter Druck gesetzt, bis er sich dem Willen der Engländer gebeugt hatte; nichtsdestotrotz machten die Chinesen unmissverständlich klar, dass die Langnasen mit der hellen Haut in ihrer Hauptstadt nicht willkommen waren. Ausnahmsweise war Tante Parrys Sorge einmal berechtigt. Doch wie es für sie typisch war, machte sie sich zuallererst Gedanken, Frank könnte kein anständiges Essen erhalten.

»Bestimmt bekommt er immer nur Reis, der arme Junge«, sagte sie und tupfte sich die Butter vom Kinn. »Ganz bestimmt! Er schrieb mir, dass seine Kost sehr abwechslungsreich sei, wenngleich alles auf landestypische Weise zubereitet würde, da dies die einzige Art zu kochen wäre, die die Köche dort verstünden. Ich denke, dass er mich nur zu beruhigen versucht. Ich mache mir Sorgen um den armen Frank. Ich habe mir bereits Sorgen um ihn gemacht, als er noch in Russland bei den Kosaken war, und nun sorge ich mich, weil der chinesische Kaiser so überaus unaufrichtig ist.«

»Ich bin sicher, dass ihm nichts passieren wird, Tante Parry. Frank ist sehr findig, was das angeht.«

»Er hätte ohne Weiteres hier bei mir bleiben können. Da hast Du mich schon allein gelassen, und dann ist Frank auch noch gegangen! Ich weiß nicht, was ihr beide für Vorstellungen habt, was ich hier so ganz alleine machen soll! Ich wage zu behaupten, dass nicht einer von euch einen Gedanken an mich verschwendet. So ist das mit den jungen Leuten. Natürlich habe ich jetzt Laetitia, die sich um mich kümmert.« Tante Parry starrte betrübt in Richtung der Gesellschafterin, die vor Schreck mit der Tasse klapperte und den Mund erst öffnete, um ihn dann – ohne ein Wort gesagt zu haben – wieder zu schließen und in banger Haltung zu verharren.

»Gibt es Neuigkeiten in der Nachbarschaft?«, fragte ich. Ich suchte nach einem Weg, um das Gespräch auf die Familie Tapley zu lenken, die Ben zufolge ganz in der Nähe lebte. Möglicherweise besuchten alle dieselbe Gemeindekirche; oder vielleicht kannte man sich vom Sehen.

Wie sich herausstellte, reichte diese einfache Frage bereits aus.

»Meine liebe Elizabeth, stell dir vor!«, Tante Parry beugte sich vor und fasste auf pathetisch anmutende Weise nach dem Tuch, das ihre Brust bedeckte. »Die Tapleys, eine äußerst respektable Familie – mag sein, dass du noch nicht von Ihnen gehört hast, Elizabeth. Mr. Tapley ist ein bekannter Anwalt. Soll man es für möglich halten? Mr. Tapleys Cousin wurde tot in London aufgefunden, obwohl man glaubte, dass er sich in Frankreich aufhielt, oder war es Italien? Eins von beiden jedenfalls. Und seine Tochter, ich meine die des Ermordeten, hat Zeit Ihres Lebens bei Mr. Tapley und seiner Frau gewohnt, die sie wie ein eigenes Kind aufgezogen haben. Bevor all dies passiert ist, dachte ich immer, sie sei ein leibliches Kind. Die arme kleine Flora Tapley … soweit ich weiß, gibt es da einen jungen Mann mit höchst standesgemäßem Hintergrund, der sie gerne heiraten würde. Vielleicht nimmt er nun davon Abstand, wo doch ein Mord innerhalb dieser Familie geschehen ist! Man kann schließlich nie wissen, wer der Nächste ist.«

Laetitia Bunn gab zu erkennen, dass ihr Verstand weitaus schärfer war, als Tante Parry vermutete. »Ist Ihr Ehemann, der Police Inspector, vielleicht mit diesem Fall betraut, Mrs. Ross?«

Die beiden Ladies richteten ihre Blicke auf mich.

»Ich nehme an, dass er darüber Bescheid weiß«, entgegnete ich. »Seit er beim Scotland Yard arbeitet, ist er eigentlich dazu verpflichtet, über solche Dinge Bescheid zu wissen. Sind die Tapleys denn aus der Nachbarschaft, Tante Parry?«

»Es ist nur ein kurzer Fußweg bis zum Bryanston Square«, erwiderte Tante Parry. »Das ist alles in allem zu viel Aufregung. Dies war immer ein sehr ruhiger Stadtteil. Zumindest bis du aufgetaucht bist, Elizabeth, und Madeleine Hexham ermordet wurde.«

»Ich glaube mich erinnern zu können, Tante Parry, dass Madeleine Hexham ermordet wurde, bevor ich hier angekommen bin«, erhob ich Einspruch. »Schließlich kam ich als Ersatz für sie hierher.«

»Miss Hexham war Gesellschafterin hier in diesem Haus?«, beeilte sich Miss Bunn zu fragen. Sie starrte ihre Arbeitgeberin aus leicht vorstehenden hellblauen Augen an.

Tante Parry blickte für einen Moment unbehaglich drein. »Ja, doch ihr Tod hatte nichts mit diesem Haus zu tun. Sie war ein dummes Mädchen, von der Sorte, die sich ständig in Schwierigkeiten bringt. Ich erinnere mich nicht an die Einzelheiten.«

Miss Bunn blickte nachdenklich drein.

Als Simms mich zur Vordertür geleitete, kam Bessie die Treppe vom Untergeschoss hochgerannt, wo sie ihre alten Freunde besucht hatte.

»Ich vermute, Mrs. Simms und die anderen haben sich gefreut, dich zu sehen«, sagte ich zu ihr, als wir uns auf den Weg machten. »Lass uns Richtung Oxford Street gehen. Es sollte nicht schwer sein, unterwegs eine Kutsche zu finden, die uns nach Hause bringt.«

»Wir haben uns nett unterhalten«, berichtete Bessie mit Genugtuung. »Natürlich dreht sich hier im Moment alles nur um den schrecklichen Mord an Mr. Tapleys Cousin. Das ganze Personal, und das schließt Mr. und Mrs. Simms mit ein, war höchst fasziniert, dass ich dem armen Mann noch kurze Zeit vorher begegnet bin.« Ein Lächeln überzog Bessies Gesicht bei dem Gedanken an den glanzvollen Augenblick, als sie diese Neuigkeit zum Besten gegeben hatte. Sie fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Wilkins, sie ist hier das Hausmädchen, geht mit dem Diener der Tapleys aus. Von ihm weiß sie, dass sich der ganze Haushalt in Aufruhr befindet; niemand weiß, was in der nächsten Minute passiert. Natürlich ist es sehr schade um Mr. Thomas Tapley, wenngleich ihn niemand vom Personal gekannt hat, da er in Frankreich lebte. Am meisten leid tut es ihnen wegen Miss Flora.«

»Sie hat ihren Vater verloren, ihren richtigen Vater«, sagte ich. »Da ist es verständlich, dass sie verzweifelt ist.«

»Ich denke, sie hat ihn kaum gekannt«, erwiderte Bessie unverblümt. »Wie ich das sehe, war sie noch sehr klein, als er ins Ausland ging und sie bei ihrem Onkel und seiner Frau zurückließ. Doch nun macht ihr ein sehr feiner junger Herr den Hof. Er ist der jüngere Sohn eines Lords. Sollte seinem älteren Bruder irgendetwas passieren, erbt Miss Floras Verehrer den Titel. Die Tapleys können daher keinen Skandal in der Familie gebrauchen. Mrs. Tapley ist aus diesem Grund in sehr schlechter Verfassung; und Mr. Jonathan Tapley ist so aufgebracht, dass niemand vom Personal sich traut, ihn anzusprechen.«

Gut möglich, dass Jonathan Tapley momentan verärgert war, dachte ich, doch wenn Ben an diesem Abend auf seiner Türschwelle erschien, würde er wahrscheinlich vor Zorn rasen.

Wir waren am Bryanston Square angekommen, einer vornehmen und weitläufigen Gegend, wo viele elegante Zweispänner klappernd auf und ab fuhren. Modisch gekleidete Menschen schlenderten über die Gehwege.

»Ich kann nirgendwo eine Droschke entdecken«, sagte Bessie, während sie die Hand an die Stirn hob, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen. »Es ist wohl das Beste, wenn wir weiter in Richtung Oxford Street gehen.«

»Ich wünschte, ich wüsste, welches Haus den Tapleys gehört«, bemerkte ich, während ich die Reihen schwarz lackierter Haustüren mit prüfenden Blicken musterte.

In diesem Moment überholte uns ein Gassenjunge, wie Joey einer war, und streifte haarscharf an mir vorbei. Ich umklammerte meinen Pompadour, da ich befürchtete, dass er es darauf abgesehen hatte. Doch stattdessen bemerkte ich überrascht, wie ein spitzer Gegenstand in meine Hand gedrückt wurde. Ich öffnete die Hand und stellte fest, dass es sich um eine kleine, längliche Karte handelte, eine Visitenkarte. Der Junge war bereits wieder in der Menge untergetaucht.

»Es wird eine Werbung sein«, sagte Bessie altklug.

»Horatio Jenkins. Privater Ermittlungsagent. Verschwiegenheit ist garantiert«, las ich die Beschriftung der Karte vor. Daran an schloss sich eine Adresse in der Camden High Street.

»Ja, es ist Werbung«, sagte ich langsam zu Bessie und drehte die Karte um. Auf der Rückseite standen vier in Druckbuchstaben geschriebene Worte: ICH WÄRE IHNEN VERBUNDEN.

»Ich bin nicht sicher, wofür«, fügte ich hinzu und schob die Karte in meine Tasche.

Inspector Benjamin Ross

Ich sah meinem unangemeldeten Besuch bei Jonathan Tapley und seiner Familie zu Hause mit gemischten Gefühlen entgegen. Ich beging nicht den Fehler, Jonathan Tapley zu unterschätzen. Vermutlich rechnete er mit einer solchen Aktion. Doch ein gerissener Kerl wie er hatte sicher rechtzeitig seine Vorbereitungen getroffen. Vermutlich war er auf jede Frage gefasst, ebenso wie seine Frau und Miss Flora. Die älteren Herrschaften hatten es bestimmt nicht versäumt, ihre Nichte vorzubereiten. Es lag schließlich auch in ihrem Interesse, dass diese Sache nicht ausuferte. Floras geplante Hochzeit hing davon ab. Falls der Mord nicht bereits dazu geführt hatte, dass die Hochzeit auf unbestimmte Zeit verschoben worden war und vielleicht niemals mehr stattfinden würde.

Ich wählte den Zeitpunkt meines Läutens mit Bedacht. Das Abendessen sollte inzwischen vorbei sein. Der Butler öffnete mir die Tür und bedachte mich mit einem Blick, der mir deutlich machte, dass ich mich am Dienstboteneingang hätte melden sollen. Er nahm meine Karte, als würde ihn der bloße Kontakt damit beschmutzen. Nachdem er einen kurzen Blick darauf geworfen hatte, winkte er mich herein und schloss rasch hinter uns die Tür, um zu verhindern, dass ein vorübergehender Passant bemerkte, wie ich das Haus betrat. Dann verschwand er, um seinen Herrn darüber in Kenntnis zu setzen, dass ich das Parkett mit meinen Stiefeln beschmutzte.

Nach kurzer Zeit kehrte er zurück und führte mich in einen kleinen Salon, wo er mich erneut allein ließ. Nach wenigen Minuten näherten sich Schritte. Die Tür flog auf und gab den Blick auf einen vor Wut schäumenden Jonathan Tapley frei.

»Das ist inakzeptabel, Inspector!« Er marschierte in das Zimmer, und die Tür fiel hinter ihm laut ins Schloss. »Unsere Familie befindet sich in Trauer! Wir haben uns bereits zweimal unterhalten, einmal in Ihrem Büro, einmal in meinem. Es gibt keinen wie auch immer gearteten Grund für Sie, zu dieser späten Stunde herzukommen und uns beim Abendessen zu stören.«

»Sie sitzen noch beim Essen?«, fragte ich. »Das tut mir leid. Ich bin extra spät gekommen, um Sie nicht zu stören, bevor Sie fertig waren. Hoffte ich zumindest.«

Er schnaubte, und wäre er ein Bulle gewesen, hätte er womöglich mit den Hufen gescharrt. »Tatsächlich? Nun, jetzt sind Sie hier. Setzen Sie sich, und sagen Sie mir, was Sie wollen. Machen Sie es kurz, wenn ich bitten darf.«

»Ich muss ein paar Dinge klären. Und ich würde mich gerne mit den Damen unterhalten, Sir, wenn es gelegen ist.«

»Nein, das ist es nicht, verdammt!«, brüllte er mich an.

Die Luft erzitterte, und über unseren Köpfen klirrten die Glastropfen des Lüsters. Vielleicht ernüchterte ihn das.

»Es ist leider kaum gelegen«, fuhr er in etwas gemäßigterem Ton fort. »Seitdem die Damen vom Tod meines Cousins erfahren haben, sind sie in einem schweren Schock.«

Ich nickte mitfühlend. »Doch eine der beiden, Miss Flora Tapley, ist die nächste Verwandte des Verstorbenen, seine leibliche Tochter. Ich kann verstehen, dass Miss Flora und Ihre Frau zutiefst schockiert sind. Doch Sie werden auch verstehen, Mr. Tapley, dass ich mit Miss Flora sprechen muss. Es ist unumgänglich. Ich bin der zuständige Ermittlungsbeamte. Selbstverständlich erwarte ich nicht, dass die junge Dame zum Scotland Yard kommt. Ich dachte, es wäre Ihnen lieber, wenn ich hierherkäme.«

»Haben Sie dies tatsächlich gedacht?«, erwiderte er sarkastisch. Er wusste genau, dass ich ihn soeben ausmanövriert hatte.

Langsam wurde ich des albernen Spiels überdrüssig. Gut möglich, dass Tapleys Sarkasmus das Zünglein an der Waage war. »Nun kommen Sie, Mr. Tapley«, entgegnete ich forsch. »Es sollte Sie wirklich nicht besonders überraschen, mich hier zu sehen. Wir haben beide den Text gesagt, den dieses Theaterstück uns vorgegeben hat. Sie haben Ihrer Empörung Ausdruck verliehen. Ich habe mich entschuldigt. Nun muss ich einige Fragen stellen. Das ist schließlich meine Aufgabe als Ermittler. Meine erste Frage – die Sie sicherlich leicht beantworten können – betrifft Ihren Aufenthaltsort zum Zeitpunkt von Thomas Tapleys Tod. Sie werden verstehen, dass diese Frage notwendig ist, um Sie von den weiteren Ermittlungen auszunehmen. Zweifellos können Sie mir sagen, wo Sie waren, und mir die Namen der Zeugen nennen. Dann könnten wir weitermachen.«

Als ich geendet hatte, befürchtete ich für einen Moment, er würde mich eigenhändig packen und hinauswerfen oder einige seiner Lakaien rufen. Doch zu meiner Verwunderung gab er lediglich ein leises Schnauben von sich. Er musterte mich erneut aus zusammengekniffenen Augen und sagte: »Langsam fange ich an zu glauben, dass Sie im falschen Berufszweig arbeiten, Inspector. Sie wären ein sehr guter Prozessanwalt geworden. Sie kleben am Thema und wissen, wann Sie deutlich werden müssen.«

Ich schwieg. Schließlich setzte er sich und sagte: »Wie Sie sagten, starb Thomas am Tag vor dem Erscheinen des Zeitungsberichts. War es Ihnen möglich, den genauen Todeszeitpunkt zu ermitteln?«

»Gemäß den Worten des Pathologen, der den Tod festgestellt hat, starb das Opfer zwischen fünf und sieben Uhr am Abend.«

Er nickte. »Am fraglichen Datum habe ich mich den ganzen Tag im Gericht aufgehalten. Um vier Uhr in etwa habe ich mich in Richtung meiner Kanzlei in der Gray’s Inn Road aufgemacht. Ich hatte lediglich ein leichtes Mittagessen gehabt, und da ich nicht wusste, wie spät es an diesem Abend werden würde, schickte ich den Pagen los, mir ein halbes Brathähnchen zu holen. Der Junge kann den Zeitpunkt bestätigen. Ich aß hastig in meinem Büro, wo wir beide uns unterhalten haben. Ich hatte eine Fallkonferenz anberaumt und erwartete in jeder Minute die betroffenen Parteien. Sie kamen, und unsere Besprechung begann um Viertel nach fünf und endete deutlich nach sechs Uhr. Ich schreibe Ihnen die Namen auf. Gegen halb sieben verließ ich mein Büro und rief eine Droschke. Der Schreiber kann dies bestätigen. Um kurz nach sieben kam ich zu Hause an. Meine Frau und die Dienerschaft können dies bezeugen! Es war viel Verkehr an diesem Abend. In High Holborn war ein Karren umgestürzt, und die Ladung lag überall verteilt und sorgte noch Straßen weiter für Chaos. Ich erfuhr, dass das Pferd in der Deichsel tot umgefallen war, das arme Tier. Sie können das alles leicht überprüfen. Die Polizei war ebenfalls vor Ort. Das Abendessen stand schon bereit, und so machte ich mich kurz frisch und setzte mich an den Tisch, um mit meiner Frau und Flora zu essen. Dann habe ich mein Arbeitszimmer hier im Haus aufgesucht und meine Post abgearbeitet, die ich mit nach Hause genommen hatte. Da war es ungefähr neun Uhr. Meine Frau, Flora und die Belegschaft können sich für mich verbürgen. Der Butler Harris brachte mir wenig später etwas Kaffee, so gegen zehn. Ich informierte ihn, dass ich ihn nicht länger benötigte. Zu diesem Zeitpunkt war mein Cousin bereits seit einigen Stunden tot, wenn ich Sie richtig verstanden habe.«

»Das müsste genügen«, sagte ich. Ich hatte mein Notizbuch hervorgenommen und alles mitgeschrieben. »Und jetzt würde ich gerne mit den Damen sprechen, wenn es genehm ist, insbesondere mit Miss Flora.«

Er erhob sich und griff nach der Klingelschnur. Dann ließ er die Hand wieder sinken. »Ich gehe sie holen«, meinte er.

Er will sicherstellen, dass sie die richtigen Antworten parat haben, bevor sie auf mich treffen, dachte ich bei mir.

Ich hatte erwartet, dass er mit den Damen zurückkehren würde, doch als sich die Tür wieder öffnete, traten nur die beiden Frauen in raschelnden Röcken ein. Die Ältere ging voraus. Sie war eine stattliche Frau, gekleidet in schwarzen Taft mit eingestickten schwarzen Glasperlen und einer schwarzen Spitzenhaube auf dem Kopf. Sie sah mir geradewegs in die Augen, als ich zur Begrüßung auf die Füße sprang, doch ihr Gesicht zeigte keine Regung. Ich fühlte mich an eine griechische Statue erinnert. Die jüngere der beiden Frauen hielt den Blick gesenkt. Sie war in einfache schwarze Seide gekleidet. Der einzige Schmuck waren ein paar Bänder auf jeder Schulter. Um ihren Hals lag eine schlichte Goldkette mit Kreuz.

Sie setzten sich Seite an Seite auf eine vergoldete Sitzbank aus dem vorigen Jahrhundert. Die Ältere schlang die in Spitzenhandschuhen steckenden Finger ineinander, die Jüngere legte die Hände in den Schoß. Ihre Hände waren klein und mollig und sahen aus wie von einem Kind, doch als sie den Raum betreten hatten, war mir aufgefallen, dass sie annähernd die Größe ihrer Tante besaß. Da Thomas Tapley von kleiner Statur gewesen war, war womöglich ihre verstorbene Mutter groß gewesen.

Ich verneigte mich höflich, während sich die Zimmertür leise hinter den Frauen schloss. Ich vermochte nicht zu sagen, ob es Jonathan war, der dort in der Halle stand, oder Harris, der Butler.

»Ich bedauere, dass ich Ihren Abend stören muss«, eröffnete ich die Unterhaltung. Wie es aussah, lag es an mir anzufangen. Keine der beiden Frauen machte Anstalten zu sprechen. Man hatte mich nicht aufgefordert, mich zu setzen, also tat ich es einfach.

Maria Tapley antwortete mit einer Stimme, die ähnlich ausdruckslos war wie ihr Gesicht. »Ich nehme an, dass es unumgänglich war, Inspector.«

Sie hätte genauso gut sagen können, dass sie glaubte, ich wüsste es nicht besser, denn dies war offensichtlich das, was sie dachte.

Ich wandte mich an Flora. Da sie das Gesicht gesenkt hielt, fiel mein Blick auf den Ansatz ihres hellbraunen Haares, das sie in der Mitte gescheitelt trug. Von dort zog es sich in glänzenden Schwingen seitlich um den Kopf, bis es schließlich in einem gedrehten Knoten auf dem Hinterkopf endete. Um den Knoten hatte sie ein schwarzes Band gewunden, dessen Enden ihr in den Nacken fielen. Ein beunruhigendes Bild kam mir in den Sinn, wie eine der Frauen von Heinrich dem Achten, ich meinte, mich erinnern zu können, dass es Anne Boleyn gewesen war, den Kopf auf den Richtblock gelegt und dem Henker ihren zierlichen Nacken dargeboten hatte.

»Ich bedauere Ihren Verlust, Miss Tapley. Ihr Vater war für kurze Zeit ein Nachbar von mir und meiner Frau.«

Mrs. Tapley kniff die Augen zusammen, und die junge Frau blickte überrascht auf.

»Nichtsdestotrotz muss ich gestehen, dass ich ihn kaum kannte«, fuhr ich fort. »Ich bin ihm lediglich ein paar Mal auf der Straße begegnet. Ich glaube, meine Frau hat sich hin und wieder kurz mit ihm unterhalten.«

Flora lächelte unsicher. Sie besaß ein rundes Kinn und weit auseinanderliegende Augen unter geraden, dunklen Brauen. Sie war nicht wirklich schön, besaß jedoch eine gewisse Ausstrahlung, und wäre ich ein Künstler gewesen, hätte ich sie vermutlich gerne porträtiert.

»Ich danke Ihnen für Ihre Freundlichkeit, Inspector Ross«, erwiderte sie.

Es schien wenig Sinn zu machen, sich mit Maria Tapley zu unterhalten. Sie fungierte als Anstandsdame und Spitzel ihres Ehemannes. Ich konzentrierte mich daher auf Flora. Ich hatte das Gefühl, als wäre sie mir nun etwas wohlgesonnener. Von der Feindseligkeit, die ihre Tante versprühte, war bei ihr nichts zu spüren. Ich dachte von den Tapleys als Onkel und Tante, da Flora dies ebenfalls tat. Tatsächlich nannte Lizzie Mrs. Parry ebenfalls Tante, obwohl sie nicht mit ihr blutsverwandt war. Es war eine dienliche Bezeichnung. Ich hätte Jonathan gegenüber den Vorwurf besser vermieden, er und seine Frau hätten versucht, das Verhältnis zu dem Kind in ihrer Obhut verschleiern zu wollen.

»Es tut mir leid, wenn ich Ihnen nun ein paar unangenehme Fragen stellen muss«, sagte ich. »Doch leider funktionieren polizeiliche Ermittlungen auf diese Art. Fragen müssen gestellt und beantwortet werden. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie Ihren Vater nicht besonders gut kannten?«

»Ich war gerade zehn Jahre alt, als er England verlassen hat«, antwortete sie. »An meinem zehnten Geburtstag hat er mich ein letztes Mal besucht, mir alles Gute gewünscht und mir ein Geschenk gegeben.« Ihre Finger tasteten nach dem Kreuz an der goldenen Kette um ihren Hals. »Es war dieses Kreuz hier. Er brachte mir außerdem ein kleines Kästchen mit Intarsien aus Elfenbein. Er sagte, es stamme aus Indien und wäre für meine ›Juwelen‹, wie er es nannte. Damals besaß ich lediglich die Halskette, die er mir gegeben hatte, und eine silberne Armspange von meiner Taufe. Wie Kinder sind, brach es aus mir heraus: ›Aber ich habe doch gar keine Juwelen!‹ Er lachte und meinte: ›Eines Tages, meine liebe Flora, wirst du viele Diamanten haben, du wirst schon sehen!‹«

Sie lächelte traurig und schwieg. Ich dachte über Thomas’ Worte nach. Hatte er andeuten wollen, dass sie eines Tages, wenn er gestorben war, wohlhabend sein würde? Er hatte all die Jahre über nur wenig Geld für seinen Lebensunterhalt ausgegeben. Jonathan hatte vermutet, dass Thomas seiner Tochter ein anständiges Erbe hinterlassen wollte. War ihm daran gelegen gewesen, dass sie begütert war, wenn er von ihr ging? Es war wichtig, dass ich Kontakt zu diesen Anwälten in Harrogate aufnahm, überlegte ich. Wie groß war Thomas’ Vermögen gewesen? Geld war eines der ältesten Motive der Welt, wenn es um Mord ging.

»Machte er Andeutungen, dass er im Begriff stand, England zu verlassen? Erinnern Sie sich an irgendetwas?«, fragte ich so behutsam wie möglich.

»Ich erinnere mich an alles, was er sagte«, erwiderte sie schlicht.

Ich hörte das Rascheln von Taft, als Maria Tapley sich neben Flora auf der Bank bewegte.

»Er sagte, dass er bald fortgehen würde. Er wünschte sich, ich möge ein gutes Mädchen sein und meine Angehörigen achten, die mich so gütig bei sich aufgenommen hätten. Und dass ich nicht meine Gebete vergessen sollte, bevor ich zu Bett ging, und dass ich ihn darin bedenken sollte.«

In ihren Augen sah ich Tränen funkeln. Sie blinzelte und sah erneut zu Boden.

»Ist dies wirklich von Bedeutung?«, fragte Maria Tapley unfreundlich. »Was sich am zehnten Geburtstag eines Kindes ereignet hat? Welche Bedeutung könnte es für diese schlimme Sache haben, die aktuell passiert ist?«

»Ich weiß nicht, was möglicherweise von Bedeutung ist und was nicht, Mrs. Tapley, daher muss ich nach allem fragen«, entgegnete ich, ohne sie dabei anzusehen. Ich beobachtete Flora. Sie hatte ein spitzenbesetztes Tuch hervorgezogen und betupfte sich damit die Augen. Dann legte sie das unzulängliche Taschentuch beiseite und sah mich direkt an. Die Tränen waren versiegt.

Sie war in einer guten Schule bei ihrem Onkel und ihrer Tante, dachte ich bei mir. Sie hatten sie gelehrt, dass es unschicklich war, Gefühle zu zeigen. Das arme Kind. Womöglich hatte Lizzie doch Recht gehabt. Thomas hätte hierbleiben und darauf achten sollen, nicht in einen Skandal verwickelt zu werden, und sein Kind mithilfe einer Gouvernante selber großziehen. Vielleicht hatte er sich von Jonathan und Maria zu voreilig überreden lassen, dass es das Beste wäre, wenn sie seine Tochter in ihre Obhut nähmen. Thomas war gerade erst Witwer geworden und verletzlich. Ich konnte mir nicht helfen, ich hatte das Gefühl, dass die Tapleys, kinderlos, wie sie waren, auch in ihrem eigenen Interesse gehandelt hatten, als sie ihn überredeten, Flora in ihre Obhut zu geben.

»Hat Ihnen Ihr Vater jemals geschrieben, nachdem er fortging, um auf dem Festland zu leben?«

»Nein«, sagte sie.

Sie hatte sich nun unter Kontrolle, und auch wenn es schmerzlich für sie war, ließ sie sich nichts anmerken, und ihre Stimme klang gefasst. Ich wünschte, ich hätte ausführlicher darauf eingehen können.

Warum hat er nicht geschrieben?, fragte ich mich. Warum hat er sie nicht öfter besucht, bevor es zu dieser traurigen Trennung an Floras zehnten Geburtstag kam? Jonathan hatte mir gegenüber erwähnt, dass Thomas die Besuche als »schwierig« empfunden hatte. Wie konnte er das wissen? Hatte Thomas sich so selten blicken lassen, weil Jonathan ihm eingeredet hatte, ein »sauberer Schnitt« wäre das Beste? Dass es dem kleinen Mädchen leichter fallen würde, sich bei den neuen Eltern einzuleben, wenn es keinen Kontakt mit dem leiblichen Vater gab? Natürlich waren das alles lediglich Spekulationen meinerseits. Es war eine tragische und schwierige Situation für Thomas und für sein Kind gewesen. Wahrscheinlich hatten alle beteiligten Erwachsenen stets nur geglaubt, im besten Sinne zu handeln. Vielleicht hatten sie das auch? Wer war ich, dass ich wagte, Kritik zu äußern?

Ich rief mir ins Gedächtnis, dass es letztendlich kein völlig glatter Schnitt gewesen war. Flora war drei Jahre alt gewesen, als sie in die Obhut von Jonathan und seiner Frau gegeben worden war. Doch es war kurz vor ihrem zehnten Geburtstag gewesen, als man Thomas überredet hatte, England auf Nimmerwiedersehen den Rücken zu kehren. Im Alter von drei bis zehn hatte Thomas mit ihr Kontakt gehalten. Wie hatte sich Thomas wirklich gefühlt, als er seine Sachen gepackt hatte, um nach Frankreich zu gehen, und sein Kind zurücklassen musste?

Und wie hatte Flora sich gefühlt? Hatte sie seinen spärlichen Besuchen entgegengefiebert? Aufgrund der wenigen Worte, die sie geäußert hatte, hegte ich die Vermutung, dass sie ihren abwesenden Vater geliebt hatte oder zumindest den Gedanken daran, einen Vater aus Fleisch und Blut zu haben, auch wenn er sich sonstwo aufhielt.

Ich wollte das Mädchen nicht noch länger peinigen und erhob mich. Zum ersten Mal war auf dem wie in Stein gemeißelten Gesicht von Maria Tapley eine Gefühlsregung erkennbar. Sie sah erleichtert aus.

»Ich danke Ihnen beiden für Ihre Geduld«, sagte ich.

Bevor Flora etwas entgegnen konnte, zerrte Maria an der Klingelschnur.

»Harris bringt sie zur Tür«, sagte sie kurz angebunden. »Komm, Flora.«

In einem Wirbel aus schwarzem Taft und glänzenden Perlen rauschte sie aus dem Zimmer. Flora warf mir einen entschuldigenden Blick zu und eilte hinterher.

Ich blieb alleine zurück, doch nur für kurze Zeit. Harris erschien, um mich nach draußen zu führen. Er hielt mir ein silbernes Tablett hin, auf dem ein weißer Umschlag mit meinem Namen lag.

Ich öffnete ihn. Er beinhaltete die Liste mit Namen, die Jonathan Tapley mir versprochen hatte. Es war eine sehr lange Liste. Ich schob das Blatt in den Umschlag zurück und steckte diesen in meine Tasche.

»Hier entlang, Sir«, forderte Harris mich auf.

Ich folgte seiner steifen Erscheinung bis zur Vordertür und wurde mit nicht mehr als dem absolut notwendigen Maß an Höflichkeit hinausbefördert.

Ich war erst wenige Schritte weit gekommen, als ich bemerkte, wie sich die Tür hinter mir erneut öffnete. Eine weibliche Stimme rief meinen Namen.

Ich hörte, wie jemand leichten Fußes hinter mir hertrippelte, und drehte mich um. Zu meinem Erstaunen erblickte ich Miss Flora, die mit gerafften Seidenröcken in einer Art und Weise auf mich zugerannt kam, die ihre Tante nicht gutgeheißen hätte.

»Inspector!«, keuchte sie atemlos, als sie bei mir angelangt war.

»Lassen Sie Sich Zeit, und kommen Sie erst mal zu Atem, Miss Tapley«, forderte ich sie auf. »Ich kann warten.«

Sie holte tief Luft und sah mich prüfend an. Ich versuchte, ihren Blick aufmunternd zu erwidern, offensichtlich ohne Erfolg.

»Bevor Sie gehen, wollte ich Ihnen nur sagen, dass Sie den Mann finden müssen, der meinen Vater getötet hat«, platzte es aus ihr heraus.

»Das ist meine Absicht«, erwiderte ich milde. »Das ist der Grund, warum ich Sie heute Abend aufgesucht habe.«

»Sie werden den Mörder nicht in diesem Haus finden!«, sagte sie heftig. Ihre Wangen glühten, die glatten Strähnen ihres Haars waren leicht in Unordnung geraten, und sie sah aus, als wäre sie jünger als die neunzehn Jahre, die sie tatsächlich alt war. »Ich weiß nicht, wo Sie ihn finden, doch Sie müssen ihn finden! Versprechen Sie es!«

Ich antwortete nicht sofort, sondern sah sie nachdenklich an, was sie zu verunsichern schien.

»Warum tun Sie es nicht?«, fragte sie. Sie hob eine Hand und begann nervös, die abtrünnigen Strähnen an ihren Platz zurückzuschieben.

»Warum ich es nicht verspreche? Ich wäre ein Narr, würde ich etwas so Unbedachtes tun. Das Lösen von Kriminalfällen ist kein gerader, glatter Weg. Es kann sein, dass ich die eine oder andere falsche Wendung einschlage. Möglicherweise liegen mir Steine im Weg, über die ich stolpere. Möglicherweise gibt es den einen oder anderen, der mich in die Irre zu führen versucht. Ich bin wie ein verirrter Mann, der sich seinen Weg durch den Nebel sucht. Doch wenn ich die richtigen Fragen stelle und von den richtigen Leuten die richtigen Antworten erhalte, lichtet sich der Nebel womöglich, und ich erkenne den Weg. Dort draußen gibt es einen zum Äußersten entschlossenen Mörder, Miss Tapley, dem der Galgen droht. Er wird es mir nicht leicht machen. Doch ich gebe mein Bestes. Scotland Yard gibt sein Bestes, das verspreche ich.«

»Ich verstehe«, sagte sie leise. »Ich danke Ihnen. Es tut mir leid, falls meine Familie einen wenig hilfreichen Eindruck auf Sie gemacht hat. Wir – wir sind sehr erschüttert.«

»Das ist nur natürlich.«

»Natürlich …«, wiederholte sie, als versuchte sie, dem Wort eine tiefere Bedeutung abzuringen. »Inspector, ich möchte nicht, dass Sie denken, mein Vater hätte mich aufgegeben, als er nach Frankreich ging, um dort zu leben.«

»Selbstverständlich nicht. Er ließ Sie in einem komfortablen Zuhause zurück, in der Obhut von Verwandten, die sich um Ihr Wohlergehen sorgten und dies offensichtlich immer noch tun.«

»Ich möchte auf keinen Fall, dass Sie schlecht von ihm denken«, drängte sie, während ihr die Anspannung anzumerken war.

»Das tue ich auch nicht. Ich frage mich, Miss Tapley, ob es womöglich noch etwas gibt, das Sie mir sagen möchten. Irgendetwas, das Sie vielleicht nicht vor Ihrer Tante Maria sagen wollten?«, sagte ich aufmunternd.

»Nein!«, schnappte sie. Dann, mit einem flüchtigen Blick über die Schulter: »Ich muss zurück. Man wird mich vermissen.«

Ein Rascheln von Seide, und sie rannte zur Tür zurück, die sich bei ihrem Herankommen öffnete. Harris hatte gewartet. Ich fragte mich, ob er seiner Herrschaft von dieser kleinen Eskapade berichten würde. Doch die Dienerschaft hier hatte Flora aufwachsen sehen. Gut möglich, dass sie Flora in Schutz nahmen, so wie sie es vermutlich auch getan hatten, wenn sie als Kind unartig gewesen war.

Ich fragte mich, was genau sie mir eigentlich hatte mitteilen wollen, als sie mir hinterhergerannt war, und warum sie in letzter Sekunde ihre Meinung geändert hatte.

»Nun«, sagte ich zu Lizzie, als ich spät am Abend nach Hause kam und meine Frau vor dem gemütlich glimmenden Feuer unseres Kamins sitzend vorfand. In der Küche hatte ein Teller mit kaltem Braten für mich bereitgestanden. Ich hatte ihn mit in den Salon und Lizzie gegenüber Platz genommen, nachdem ich mein Tablett auf einem Beistelltisch abgesetzt hatte. »Ich bin Jonathan in seiner Höhle entgegengetreten – beziehungsweise im Schoß seiner Familie – und ich habe überlebt.«

»Ich nehme an, dass er keinen kalten Braten zum Abendessen hatte«, entgegnete Lizzie schmunzelnd.

»Er war beim Essen oder gerade erst fertig und somit nicht besonders erfreut – genau wie du es vorrausgesagt hattest. Andererseits war er nicht wirklich überrascht. Genauso wenig wie die beiden Frauen, vermute ich. Ich hatte dir ja gesagt, dass es so sein würde. Sie stehen unter Verdacht und sind ständig auf der Hut.«

»Wie ist Flora so?«, fragte Lizzie neugierig.

»Sie ist keine Schönheit, doch nichtsdestotrotz eine attraktive junge Lady. Ihr Gesicht zeugt von Charakter und lässt eine gewisse Tiefe erahnen. Aus einer Gruppe normal hübscher Mädchen würde sie herausstechen. Ich denke, dass sie intelligent und geistreich ist. Doch auch wenn sie noch jung ist, so trägt sie eine Last mit sich herum.« Ich berichtete, wie Flora mir auf die Straße hinterhergerannt war.

Lizzie blickte nachdenklich drein. »Wie viel weiß sie deiner Meinung nach wirklich über ihren Vater?«

»Über seine skandalöse Vergangenheit, meinst du? Vielleicht ein wenig mehr, als ihr Onkel und ihre Tante, wie sie sie nennt, für möglich halten. Ihre Tante Maria reagiert sehr aufgebracht auf dieses Thema.«

»Und würde sie auch so reagieren, wenn irgendetwas oder irgendjemand Anstalten machte, Flora oder ihre Heiratsaussichten zu gefährden?«, fragte Lizzie scharfsinnig.

»Oh, ja«, erwiderte ich vermutlich ein wenig undeutlich, da ich noch auf dem Braten kaute. »Ganz sicher würde sie das, und sie ist keine Frau, die davor zurückschrecken würde, jeden Schritt zu unternehmen, den sie für notwendig hält.«

»Dann ist sie also genauso verdächtig wie ihr Ehemann?«, hakte Lizzie eifrig nach.

»Ich weiß bis jetzt nichts von irgendwelchen Verdächtigen«, stellte ich fest. »Doch allmählich entwickeln sich einige interessante Möglichkeiten. Lizzie, ich muss nach Harrogate und dort mit jemandem von der Kanzlei Newman und Thorpe sprechen. Sie haben sich um sämtliche Angelegenheiten von Thomas gekümmert und sind wohl – da sie vermutlich im Besitz seines Testaments sind – immer noch für seine Angelegenheiten zuständig. Man ist allgemein der Ansicht, dass Flora seine alleinige Erbin ist. Doch ist das tatsächlich so? Niemand hat das bisher erwähnt. Jedenfalls hat Thomas in Harrogate gelebt, bevor er auf den Kontinent gezogen ist. Er hat in Harrogate geheiratet, und in Harrogate wurde Flora geboren. Wenn ich morgen mit dem ersten Zug fahre, kann ich vielleicht ein Treffen im Büro von Newman und Thorpe vereinbaren. Vielleicht erfahre ich dort auch ein paar weitere Namen von Leuten, mit denen es sich zu sprechen lohnt. Ich befürchte, dass ich über Nacht bleiben muss, wenn ich all meine Recherchen abschließen möchte. Ich muss Superintendent Dunn überzeugen, dass die Ausgaben unvermeidbar sind.«

Und das würde vermutlich der schwierigste Teil der ganzen Übung werden.

»Wie geht es deiner Tante Parry?«, erinnerte ich mich zu fragen.

»Oh, sehr gut. Sie hat eine neue Gesellschafterin. Eine Miss Laetitia Bunn.«

»Denkst du, dass sie bleiben wird?«

»Nicht lange«, gestand Lizzie. »Nicht, seitdem sie weiß, dass eine der vorherigen Gesellschafterinnen ermordet wurde. Wahrscheinlich schreibt sie schon Briefe auf der Suche nach einer neuen Anstellung.«

»Genau wie die Magd der Witwe Jameson«, stellte ich fest.

»Tante Parry wusste alles über die Familie Tapley und den Mord an Thomas Tapley. Es ist das Thema in der Nachbarschaft. Bessie hat herausgefunden, dass eines von Tante Parrys Hausmädchen mit einem Diener der Tapleys ausgeht. Er hat dem Hausmädchen erzählt, dass Jonathan Tapley in schlechter Stimmung ist und im ganzen Haushalt große Erregung herrscht. Das Mädchen hat es Bessie weitererzählt.«

»Ich vermute, dass sie noch ein wenig erregter sind, nachdem ich dort vorbeigeschaut habe«, sagte ich zu ihr. »Gibt es sonst noch etwas Wichtiges?«

Ich hatte den Eindruck, als zögerte meine Frau, doch dann antwortete sie: »Nein, eigentlich nicht.«

Ich beließ es dabei. Wenn Lizzie im Augenblick nicht darüber reden wollte, so hatte es wenig Sinn, weiter in sie zu dringen.