KAPITEL ZWANZIG
»Der falsche Mann?«, brüllte Dunn mit hervortretenden Augen. »Was zum Teufel reden Sie da, Ross?«
»Was ich sage, Sir, es wäre zu gefährlich, wenn wir uns jetzt schon auf die Schulter klopfen. Wir haben diesen Fall möglicherweise noch nicht gelöst.«
»Selbstverständlich haben wir ihn gelöst! Wollen Sie ernsthaft andeuten, dass wir mit diesem Mas einen Unschuldigen verhaftet haben?« Dunn verstummte gurgelnd und schnappte nach Luft wie ein gestrandeter Fisch.
»Nein, nein, Hector Mas ist kein Unschuldiger, Sir«, beeilte ich mich zu sagen. »Außer dass er den Mord an Thomas Tapley möglicherweise nicht begangen hat. In jeder anderen Hinsicht ist er meiner Meinung nach schuldig, und wir haben den richtigen Täter in der Zelle. Er hat Jenkins getötet, und er hat versucht, Flora zu entführen. Möglicherweise war es ursprünglich seine Absicht – und die seiner Komplizin Guillaume –, nach England zu kommen, Thomas Tapley zu suchen und ihn umzubringen. Doch wir haben keinen Beweis dafür, dass er am Tatort war. Nehmen wir einmal an, rein hypothetisch, dass es jemand anderes war. Dass jemand Thomas Tapley fand, bevor Mas ihn aufgespürt hatte.«
»Nehmen wir an, rein hypothetisch selbstverständlich, dass der Mond aus Blauschimmelkäse besteht«, warf Dunn sarkastisch ein.
»Ich sage doch nur, Sir, dass wir Mas den Mord an Thomas Tapley bisher nicht über jeden Zweifel hinaus nachgewiesen haben.«
»Aber er hat es getan!«, brüllte Dunn. »Wer sonst sollte ein Motiv haben und eine Gelegenheit?«
»Um das zu erkennen, müssen wir den Fokus unserer Ermittlungen erweitern, Sir. Aber wir haben bereits einen Punkt, an dem wir anfangen können. Wir stimmen überein, dass eine gerissene Frau in den Fall verwickelt ist, Victorine Guillaume. Ich denke, Sir, dass es auch einen gerissenen Mann gibt.«
»Aha!« Dunn blickte mich unter buschigen Augenbrauen hervor an. »Hector Mas ist Ihr gerissener Mann!«
»Er besitzt die Schnelligkeit und Skrupellosigkeit eines wilden Tiers, Sir, aber es ist alles Instinkt. Nein, das Gehirn dahinter war Victorine Guillaume. Ich denke an Jonathan Tapley, Sir.«
»Was denn, Guillaume und Tapley unter einer Decke? Unsinn!«
»Richtig, Sir, das wäre unsinnig, und das habe ich auch nicht für einen Moment angenommen. Ich meine vielmehr, dass beide getrennt agiert haben, ohne dass der eine vom anderen wusste. Victorine und ihr Handlanger Mas haben ihr tödliches Spiel gespielt und Jonathan Tapley sein eigenes. Normalerweise haben wir nur eine Partei von Übeltätern. Diesmal, schätze ich, haben wir zwei.«
Dunn schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, Ross, das glaube ich nicht.«
»Mrs. Jameson hat einen Mann auf der Straße vor ihrem Haus gesehen«, beharrte ich. »Wie ich Ihnen bereits berichtet habe. Er ist vor ihrem Haus die Straße auf und ab gegangen am Nachmittag des Mordes. Als die Witwe Jameson bei der Beerdigung Jonathan Tapley sah, erkannte sie ihn wieder. Er war dieser Mann. Sie ist sich völlig sicher. Also, wir haben keinen Zeugen, der Hector Mas in der Gegend oder vor dem Haus gesehen hat, aber wir haben einen verlässlichen Zeugen, der Jonathan Tapley am Nachmittag des Mordes gesehen hat.«
»Verlässlich? Eine alte Dame, deren Augen möglicherweise nicht mehr die besten sind. Sie hat durch das Fenster einen Mann gesehen, in einer gewissen Entfernung, und jetzt ist sie bereit zu schwören, dass es Jonathan Tapley war? Kommen Sie, Ross, ganz im Ernst – die Geschworenen würden das nicht akzeptieren.«
»Wir müssen die Möglichkeit dennoch im Auge behalten. Nun ist es so, dass Mrs. Jameson den Mann gegen drei Uhr nachmittags oder kurz danach gesehen hat …«
»Sehen Sie?«, unterbrach mich Dunn triumphierend. »Wie um alles in der Welt soll Jonathan Tapley die Tat begangen haben? Der Mord hat sich gemäß dem Obduktionsbericht des Pathologen irgendwann zwischen fünf und kurz vor der Entdeckung des Leichnams kurz nach sieben Uhr ereignet. Jonathan Tapley kann es nicht gewesen sein! Er hat Alibis für den entsprechenden Zeitraum. Er war den ganzen Tag im Gericht. Um halb fünf war er in seiner Kanzlei und hat etwas gegessen. Um fünf hat er ebendort eine Konferenz abgehalten. All das während der Zeit, in welcher sich der Mord an Thomas Tapley ereignet hat! Jonathan Tapley hat uns eine Liste der Personen gegeben, die zur fraglichen Zeit in der Kanzlei waren und mit ihm gesprochen haben. Abgesehen davon, Herrgott noch mal, Ross – warum hätte er seinen Cousin ermorden sollen?«
»Sir, wenn ich Ihnen erklären dürfte, wie ich das sehe …«, begann ich.
»Ich bitte sogar darum«, sagte Dunn sarkastisch mit einer ausholenden Bewegung seiner ausgestreckten Hand. »Ich gestehe, Ross, ich bin ganz fasziniert. Schießen Sie los, Mann!«
Und so legte ich ihm behutsam meine Gründe dar.
»Victorine hat wiederholt gesagt, ihr Mann hätte ihr erzählt, dass er und sein Cousin zerstritten waren. Es gab ein bitteres Zerwürfnis zwischen ihnen. Das mag sein oder nicht – allerdings sollten wir nicht von vornherein alles als Lüge abtun, was Guillaume uns erzählt, auch wenn sie eine verschlagene Person ist. Sie verdreht die Fakten ein wenig, bis sie ihren Zwecken genügen, und trotzdem bleibt sie dabei halbwegs bei der Wahrheit. Die Frage ist nun – gab es eine Feindschaft zwischen den beiden Tapleys oder nicht?
Bedenken Sie, Sir – Jonathan hat seinen Cousin gezwungen, das Land zu verlassen. Er hat seinem Cousin das einzige Kind weggenommen, seine Tochter Flora. Wir haben allen Grund zu glauben, dass Thomas seine Tochter hingebungsvoll liebte. Meine Frau hat herausgefunden, dass er Flora heimlich in London besucht hat und dass er sich große Sorgen gemacht hat wegen ihrer bevorstehenden, möglicherweise desaströsen Heirat. So viel wissen wir aus Floras eigenem Mund.
Nach Jonathans Worten jedoch war das Arrangement mit seinem Cousin freundschaftlich gewesen. Thomas war Jonathan und seiner Frau demnach dankbar, dass sie seine kleine Tochter bei sich aufnahmen und wie ein eigenes Kind aufzogen. Thomas fand es ›schwierig‹, seine Tochter zu besuchen, behauptet Jonathan, und das ist der Grund, warum seine Besuche so selten und kurz waren. Doch stimmt das? Nach Jonathans Darstellung stimmte Thomas ihm zu, dass es besser war, wenn er das Land in Richtung Frankreich verließ und nie wieder zurückkehrte. Hat er sich ohne Widerstand gefügt? Wir wissen es nicht, und falls er versucht hat, sich zu widersetzen, dann hat Jonathan uns das verschwiegen. Meiner Meinung nach gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was Jonathan uns erzählt hat, und dem, was wir von Flora selbst über das Verhalten ihres Vaters wissen, nachdem er zurück war in London.
Jonathan ist ein geachteter Rechtsanwalt, deswegen sind wir geneigt, seiner Version der Geschichte zu glauben. Und weil Victorine Guillaume in jungen Jahren ein ausgelassenes Leben geführt hat, weil sie uns offensichtlich misstraut und weil es schwierig ist, mit ihr zu reden, sind wir versucht, allem mit Misstrauen zu begegnen, was von ihr kommt. Das schließt ihren Bericht von einem alten Streit ein, der sich nach ihren Worten zwischen den beiden Männern abspielte. Gut möglich, dass Victorine selbst ihr eigener schlimmster Feind ist. Bedenken Sie, Sir, Thomas hat nicht ein einziges Mal versucht, mit Jonathan in Kontakt zu treten nach seiner Rückkehr aus Frankreich vor mehr als einem Jahr. Er wohnte in London, südlich der Themse, ganz in der Nähe meines Hauses. Er überquerte regelmäßig die Waterloo Bridge auf dem Weg in die Stadt, wo er den Tag verbrachte. Lizzie ist ihm häufiger begegnet. Jenkins in seinem Clownskostüm hat ihn dort aufgespürt. Und trotzdem ist Thomas nicht ein einziges Mal bis zum Haus seines Cousins gekommen oder auch nur bis zur Kanzlei in der Gray’s Inn Road. Thomas hat sich mit seiner Tochter in einer öffentlichen Bücherei getroffen und sie zu Verschwiegenheit über ihr Treffen verpflichtet. Er stimmte zu, als sie vorschlug, sich zu verkleiden und ihn so zu besuchen. In meinen Augen passt das alles zu einem Mann, der seinem Cousin nicht über den Weg traute und, mehr noch, sich davor fürchtete, Jonathan könnte herausfinden, dass Thomas wieder in London ist.
Lag es nur daran, dass Thomas sein Wort gebrochen hatte, nie wieder zurückzukommen? Fürchtete er Jonathans Zorn? Das Wiederaufleben des alten Skandals? Oder etwas ganz anderes? Als ich zum ersten Mal mit Jonathan Tapley sprach, sagte er etwas Merkwürdiges. Es kam mir zu dem Zeitpunkt lediglich ein wenig geschmacklos vor, doch ich muss immer wieder daran denken. Ich hatte seinen malaiischen Gehstock bemerkt mit dem Schädel als Knauf. Er sah, dass er mein Interesse erweckte. Er hielt ihn hoch und bemerkte, dass er ihn nicht benutzt hätte, um seinem Cousin den Schädel einzuschlagen. Ich war ein wenig überrascht, dass ein Mann wie er zu einem so unangemessenen Zeitpunkt so eine derbe Bemerkung machte … warum? Warum hat er das gesagt? Wollte er meinen eventuell aufkeimenden Verdacht von vornherein ablenken?«
»Vermutungen, nichts als Vermutungen«, grollte Dunn.
»Geben Sie mir wenigstens die Chance, Sir, Tapleys Alibi noch einmal zu überprüfen. Wenn ich es knacken kann … wenn es mir gelingt, irgendwo ein Schlupfloch zu finden …«
»Sie werden nichts erreichen, außer ihn gegen sich aufzubringen und uns lächerlich dastehen zu lassen!«, polterte Dunn. »Wie wollen Sie sein Alibi für den Zeitpunkt des Mordes knacken, wenn das pathologische Gutachten aussagt, dass das Opfer nach fünf Uhr an jenem Tag starb?«
»Nun, Sir«, erwiderte ich. »Was das angeht, habe ich eine Idee, die ich gerne überprüfen würde.«
Dunn riss die Hände hoch und ließ sie auf den Schreibtisch fallen, dass es krachte. »Eine Idee? Ross, Sie sind voller Ideen, jede einzelne verrückter als die vorhergehende! Was denn nun schon wieder für eine Idee, und woher haben Sie sie?«
Ich gestattete mir ein Lächeln, das den Superintendent zu erschrecken schien. »Von einer Rindfleisch-Nieren Pastete, Sir.«
Bei diesen Worten blickte der Superintendent womöglich noch erschrockener drein, bis ich ihm meine Idee erklärte. »Hmmm«, murmelte er dann. »Achtundvierzig Stunden, Ross. Ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden. Wenn Sie bis dahin keine Beweise gegen Jonathan Tapley zusammenbringen, werde ich Hector Mas persönlich wegen Mordes an Thomas Tapley unter Anklage stellen.«
Elizabeth Martin Ross
»Ich hab gehört, Ihr Macker hat ’nen Franzmann verhaftet wegen dem Mord an dem alten Kerl aus Ihrer Straße.«
Die Stimme kam aus dem Nichts und ließ mich zusammenzucken. Ich wirbelte herum, und eine Bewegung im Schatten eines Eingangs materialisierte zu den ebenso vertrauten wie zerlumpten Umrissen von Joey, dem Jungen aus den Kohlenkellern.
»Du bist es!«, rief ich erleichtert. »Wo hast du die ganze letzte Zeit gesteckt? Ich habe überall nach dir gesucht!«
»Ehrlich?« Joey legte das Gesicht in misstrauische Falten. »Ich hab mir so was gedacht, also hab ich mich verzogen, okay?«
»Aber warum?«
Er antwortete so geduldig, als wäre ich schwer von Begriff. »Weil Sie Ihrem Macker sicher erzählt ha’m, was ich Ihnen gesagt hab über den jungen Stenz, der dem alten Tapley von der Straße aus zugewinkt hat. Und Ihr Macker ist ein Bulle. Er wär hergekommen und hätt mich ausgefragt. Ich red nich gern mit Bullen. Also hab ich mich verpisst. Jetzt heißt es, er hat den Ganoven geschnappt, und deswegen denk ich, er braucht mich nich mehr und ich kann wieder zurückkommen, okay? Und da bin ich!«, schloss er.
»Mein Mann hätte sich gerne mit dir unterhalten«, räumte ich ein. »Jetzt allerdings nicht mehr, weil das Rätsel des jungen Mannes, den du gesehen hast, längst aufgeklärt wurde.«
»Ach? Tatsächlich?« Joey blickte enttäuscht drein. »Dann hat er nichts mit dem Mord zu tun gehabt?«
»Nicht direkt. Aber es war richtig von dir, mir zu erzählen, was du gesehen hast. Wenn du je wieder etwas Ungewöhnliches siehst, kannst du es mir immer sagen. Zeugen sind sehr wichtig.«
Anscheinend gefiel ihm der Gedanke, wichtig zu sein, doch seine Begeisterung wurde gedämpft von dem Wissen, dass es auf der anderen Seite bedeutete, sich mit den Bullen unterhalten zu müssen.
»Ein Franzmann, wie?« Er sah mich nachdenklich an. »Ich hab gehört, sie haben ihn durch ganz Wapping gejagt, sogar die Flusspolizei. Er ist auf ein Haus geklettert und stand oben auf einem Schornstein, wo er die Fäuste geschüttelt und die Bullen beschimpft hat, stimmt das? Dann ist er über die Dächer weggelaufen und in den Fluss gesprungen. Er wollte über die Themse schwimmen und abhauen, aber sie sind ihm mit einem Boot hinterher und haben ihn aus dem Wasser gezerrt. Er hat geflucht wie ein Rohrspatz und sich aus Leibeskräften gewehrt. Sie haben sechs Mann gebraucht, um ihn festzuhalten.«
»Nun ja, mehr oder weniger«, räumte ich ein. Ich konnte sehen, dass die Jagd auf Hector Mas im Beisein von so vielen Zeugen schnell Eingang in den Volksmund finden würde. Bei jedem Wiedererzählen würden Mas’ Taten phantastischer und heldenhafter werden, bis er auf der gleichen Stufe stand wie der berüchtigte Springheel Jack aus den Legenden.
»Ich freue mich jedenfalls sehr, dich zu sehen, Joey, weil ich mit dir reden möchte. Du magst doch Pferde, oder nicht?«
»Ja …?«, antwortete Joey vorsichtig.
»Ich kenne einen Kutscher, einen gewissen Wally Slater. Er ist ein sehr netter Mann, Joey. Er war früher Preisboxer, deswegen sieht er ziemlich furchteinflößend aus, aber in Wirklichkeit ist er sehr freundlich. Er braucht jemanden, der ihm hilft, sich um sein Pferd kümmert und die Kutsche putzt, wenn er nach einem langen Arbeitstag nach Hause kommt. Ich habe ihm von dir erzählt, und er hat sich einverstanden erklärt, es mit dir zu versuchen. Ich nehme nicht an, dass er dir viel zahlen wird, aber es wäre ein regelmäßiges Einkommen und weit besser, als ziellos auf der Straße zu leben.«
Joeys Gesichtsausdruck durchlief das gesamte emotionale Spektrum von Überraschung über Unglauben und Erschrecken bis hin zu etwas, das Panik ähnelte. »Ja, sicher, und wenn ich es nicht ordentlich mach, dann prügelt er mich halbtot, das heißt, wenn sein Gaul mir nicht zuerst den Schädel eintritt!«
»Das würde Mr. Slater niemals tun, Joey. Er weiß, dass ich es herausfinden würde, und er will nicht, dass ich wütend bin auf ihn.« Ich war mir einigermaßen sicher, was das anging. Nicht, dass er Angst hatte, ich könnte wütend auf ihn sein – das war ihm mehr oder weniger egal –, aber er hatte Angst, ich könnte ihm Vorträge halten. »Du kannst schließlich nicht für den Rest deines Lebens auf der Straße bleiben und nichts tun, Joey.«
»Ich denk nich nach über den Rest meines Lebens«, warf Joey ein. »Das wär reine Zeitverschwendung, wär das. Vielleicht hab ich ja gar keinen Rest.«
»Was? Keinen Rest?«
»Das weiß schließlich niemand, oder?«, entgegnete Joey in einem überraschend philosophischen Anflug. »Ich könnt Cholera kriegen. Oder ich könnt ermordet werden, wie der alte Bursche, dieser Tapley. Ich könnt …«, er blinzelte mich wild an. »Ich könnt von einer Kutsche überrollt werden!«
»Sicher, das könnte sein«, pflichtete ich ihm bei. »Und wenn du weiterhin so auf der Straße lebst, wie du das jetzt tust, dann ist das sogar mehr als wahrscheinlich. Warum kommst du nicht einfach mit mir mit zu Wally Slater? Einen Versuch muss es doch wert sein.«
»Also schön«, erklärte sich Joey widerwillig einverstanden. »Aber wenn er anfängt, mich zu schlagen, oder wenn der blöde Gaul nach mir schnappt, bin ich weg!«
»Gut. Einverstanden also. Nelson ist ein sehr ausgeglichenes Pferd, und ich bin sicher, dass er nicht beißt. Bevor wir zu Wally gehen, sollten wir dich vielleicht ein wenig frisch machen.«
»Mich … frisch machen?« Jetzt war Joeys Entsetzen durch nichts mehr verborgen. »Was meinen Sie damit?«
»Nun, ich kann dich doch unmöglich zu Wally mitnehmen, ohne dich vorher zu waschen und dir saubere Sachen zum Anziehen zu …«
»WASCHEN?«
Hätte ich ihn nicht gepackt, er wäre die Straße hinuntergerannt, und ich bezweifle, dass er noch einmal zurückgekommen wäre. Er wand sich und zappelte, doch ich hielt ihn fest. Er hätte sich befreien können, hätte er seine übliche Taktik benutzt und um sich getreten und gebissen, doch aus irgendeinem Grund brachte er es nicht über sich, mit zu treten oder zu beißen, und so blieb ihm am Ende nichts anderes übrig, als aufzugeben und mich nachtragend anzufunkeln.
»Ich wär nie einverstanden gewesen, wenn ich vorher gewusst hätt, was das bedeutet …« murrte er, während ich ihn mit zu uns nach Hause schleppte. »Das ist ja, als würd’ man verhaftet!«
Ich gestehe, Bessie blickte entsetzt drein, als sie ihn erblickte. »Waschen!«, rief sie.
»Ich helfe dir. Hol die Zinkbadewanne, bring sie nach draußen in den Hof, und setz ein paar Kessel auf, um Wasser heiß zu machen.«
»Ich werd ertrinken!«, jammerte Joey widerspenstig.
»Nicht in einer Badewanne, Joey, während Bessie und ich danebenstehen.«
»Ich zieh nicht all meine Sachen vor Frauen aus!«
»Also schön. Ich gebe dir Seife und ein Handtuch, und Bessie und ich warten in der Küche.«
Er blickte weinerlich drein. »Ich krieg eine Lungenentzündung, ganz bestimmt! Die Lunge ist sehr empfindlich. Daran kann man sterben, ganz schnell kann man daran sterben!«
»Nicht, wenn du dich beeilst, Joey. Komm jetzt, genug geredet. Und vergiss nicht, dir die Haare zu waschen!«
Wir füllten die Wanne mit heißem Wasser, gaben Joey ein Stück Seife und das Handtuch, nahmen ihm das Versprechen ab, nicht wegzulaufen, und sagten ihm, dass er anfangen konnte. Er schnüffelte an der Seife und jammerte, er würde riechen wie ein braver Junge.
Wir zogen uns in die Küche zurück. Bessie, die durch das Fenster spähte, berichtete mir, dass Joey in die Wanne gestiegen war und sich damit die Zeit vertrieb, Wasser auf die Katze des Nachbarn zu schnippen.
»Wenigstens kommt ein Teil des Drecks von ihm runter«, sagte ich zu ihr. »Hier ist etwas Geld. Lauf zu dem alten Mann mit dem Karren voll Secondhand-Kleidung unten bei der Brücke. Kauf eine Hose und ein Hemd, und eine Jacke, wenn es geht. Ich weiß nicht, welche Schuhgröße er hat, aber er kann auch ein paar Stiefel gebrauchen.«
»Ich hole sie groß genug. Wir können Zeitungspapier hineinstopfen, wenn es nötig ist«, sagte Bessie.
Als sie zurückkehrte, saß Joey in sein Handtuch gewickelt und dampfend vor dem Ofen in der Küche, einen Becher heißen Tee in der Hand. Der Ofen qualmte recht übel, weil ich seine alten Sachen hineingestopft hatte, aber Qualm machte Joey nichts aus. Ich hatte ihm die Haare geschnitten, und obwohl ich kein Barbier bin, sah es recht ordentlich aus. Joey hatte die Prozedur ohne viel zu protestieren über sich ergehen lassen. Ich denke, er hatte sich in das Unausweichliche gefügt. In seinen neuen (gebrauchten) Sachen sah er aus wie ein neuer Mensch, bis auf die Stiefel, die ihn verunsicherten. Er hatte noch nie welche getragen. Er ging in der Küche unbeholfen auf und ab und hob die Füße bei jedem Schritt viel zu hoch, bevor er sie behutsam auf den Steinfußboden setzte.
»Du wirst dich daran gewöhnen«, versprachen wir ihm.
Nun, da wir alle bereit und fertig waren, hielt ich es für angebracht, dass wir uns unverzüglich auf den Weg nach Kentish Town machten, wo die Slaters wohnten. Joeys Bereitwilligkeit verebbte bereits wieder. Ich denke, die Stiefel hatten entscheidenden Anteil daran.
»Das ist doch nicht normal!«, murmelte er, als wir loszogen. »Dafür sind doch Füße da, zum drauf laufen!«
»Mit Stiefeln bist du vor spitzen Steinen sicher und musst keine Angst haben, dass dir jemand auf die Füße tritt«, sagte ich. »Außerdem sind deine Füße bei Regenwetter trocken und bei kaltem Wetter warm.«
»Aber sie machen mich langsam!«, widersprach er. »In diesen Dingern kann ich nicht rennen! Wenn ich weglaufen muss, bleibt mir nichts anderes übrig, als diese Dinger zuerst auszuziehen, und dabei werde ich dann geschnappt!«
»Hör auf, dich so anzustellen«, befahl Bessie ihm. »Du tust ja gerade so, als solltest du aufgehängt werden!«
Wir nahmen zum dritten Mal im Verlauf der jüngsten Abenteuer einen Omnibus, diesmal in Richtung Kentish Town. Ich glaube, Joey gefiel das Fahren im Bus, aber er wollte auf der anderen Seite nicht, dass wir glaubten, er hätte keine Erfahrung damit.
»’s is nicht das erste Mal, dass ich im Ommibus fahr, ja?«, informierte er uns. »Nur das erste Mal, dass ich in einem drin sitz.«
»Du bist oben auf der offenen Plattform mitgefahren?«, fragte ich.
»Nein. Ich hab mich hinten drangehängt und bin für umsonst mitgefahren.«
Kentish Town war eine Gemeinde mit langer Geschichte. Sie hatte erst vor vergleichsweise kurzer Zeit angefangen zu wachsen, und heute gab es überall neue Gebäude und eine Eisenbahnlinie mitten hindurch, auch wenn im Zentrum noch mehr als genug alte Häuser standen. Wir erkundigten uns nach dem Weg zu den Slaters und wurden in eine Seitenstraße im alten Zentrum dirigiert. Wally war wohlbekannt, genau wie ich es mir gedacht hatte, und schon der erste Passant, den wir ansprachen, konnte uns die gewünschte Auskunft geben.
Wallys Haus war eines von den älteren Gebäuden, ein Cottage mit einer Toreinfahrt an der Seite, breit genug, um die Kutsche passieren zu lassen. Die Einfahrt führte in einen Hof, dessen gesamte Rückseite von einem Stallgebäude aus Holz eingenommen wurde. Hier war Nelson untergebracht, Wallys Kutschpferd. An einer Leine flatterte frisch gewaschene Wäsche.
Eine kleine dicke Frau, die mir kaum bis zu den Schultern reichte, öffnete die Tür. Sie hatte dichtes langes Haar, das zu einem mächtigen Knoten hochgesteckt war und sie aussehen ließ wie ein Kastenweißbrot.
»Hallo …«, sagte sie zur Begrüßung und musterte uns von oben bis unten. »Was gibt’s denn?«
»Mrs. Slater?«, fragte ich. »Ich bin …«
Weiter kam ich nicht, bevor sie mich unterbrach. »Oh, ich weiß, wer Sie sind, warten Sie!«, sagte Mrs. Slater fröhlich. »Sie sind diese Miss Martin, von der mein Mann immer spricht, hab ich Recht?«
»Das ist richtig, Mrs. Slater, nur dass ich jetzt Mrs. Ross heiße.«
»Ja, ja, das hat er mir auch erzählt. Sie haben einen Polizeibeamten geheiratet, hat er gesagt. Würde gut zu Ihnen passen, meinte er. Kommen Sie herein, nur herein mit Ihnen allen!«
Wir trotteten hintereinander in ihr makellos sauberes Wohnzimmer, wo ich Bessie vorstellte und schließlich Joey. Ich erklärte ihr den Zweck unseres Besuchs. »Ich hatte mit Ihrem Mann über Joey gesprochen, hat er es vielleicht erwähnt? Ich hoffe sehr, dass er mit Ihnen darüber geredet hat.«
»Er hat mir alles erzählt, keine Sorge, meine Liebe. Aber zuerst der Tee, dann das Geschäftliche«, sagte Mrs. Slater entschieden. »Sie setzen sich bitte hierher, Mrs. Ross, das ist der beste Sessel. Sie, Miss Bessie, setzen sich dort auf diesen Stuhl. Er schaukelt ein wenig, aber keine Sorge, er kippt nicht um. Ich sage Wally ständig, dass er die Beine reparieren soll. Und du, junger Freund, du kommst mit mir in die Küche und hilfst mir beim Tragen.«
Bessie strahlte, als sie auf dem wackligen Möbel Platz nahm. Sie war in hohem Maß entzückt darüber, als vollwertige Besucherin behandelt zu werden. Ich nahm in einem ausladenden Ohrensessel Platz, der allem Anschein nach normalerweise für Wally reserviert war. Ein Tisch und ein Schrank waren die einzigen weiteren Möbelstücke im Zimmer, außerdem ein abgewetzter Teppich auf dem Steinboden. Alles war makellos sauber. Mrs. Slater – ich war sicher, dass sie dahintersteckte – hatte den Mangel an Mobiliar dadurch kompensiert, dass sie die Wände mit allen möglichen Bildern verziert hatte. Die meisten stammten vermutlich von einem Straßenhändler und hatten nicht mehr als ein paar Pence gekostet. Ein Bild – das Prunkstück – zeigte ihre Majestät, Queen Victoria, in ihrer Krönungsrobe. Ein weiteres daneben zeigte den Prinzgemahl, der in seinen jüngeren Jahren wirklich sehr adrett ausgesehen hatte. Das Bild war mit einem schwarzen Band versehen; ein Zeichen der Anteilnahme aufgrund der Tatsache, dass er schon vor einigen Jahren verstorben war. Weiter gab es Bilder von den Kindern der Regentin, zwei oder drei Blumengemälde, eine Darstellung der Teilung des Roten Meers und mehrere Bilder von Preisboxern. Das größte davon hing über dem Kamin und zeigte eine furchterregende Gestalt, mit nackter Brust und in Reithosen und mit auffällig kleinen Füßen, um einen so mächtigen Körper zu balancieren. Der Riese stand in geduckter Haltung da, die Fäuste geballt, und fixierte uns mit bedrohlicher Miene.
»Das ist mein Wally!«, bemerkte Mrs. Slater mit unverhohlenem Stolz, als sie aus der Küche zurückkehrte und sah, wie ich das Bild studierte. »In seiner besten Zeit, wie man so schön sagt. Das war um die Zeit, als ich ihn kennengelernt habe. Ich hab ihm damals gleich gesagt, sobald ich merkte, dass er verliebt war in mich, dass ich auf gar keinen Fall einen Preisboxer heiraten werde! Sie laufen ständig mit geschwollenen blauen Augen herum oder einem dicken Ohr und kommen blutig nach Hause. Entscheide dich, hab ich zu ihm gesagt, und er hat sich entschieden.« Die letzten Worte hatten einen tief zufriedenen Unterton. »Seine Familie war im Droschken-Geschäft«, fuhr sie fort, »sein Vater und schon sein Großvater. Also stieg Wally bei ihnen ein.«
»So«, fuhr Mrs. Slater einen Moment später fort und wandte sich zu dem hundserbärmlich dreinblickenden Joey um, der mit einem Tablett voller Geschirr hinter ihr stand und mit den neuen Stiefeln scharrte. »Du kannst die Sachen auf dem Tisch abstellen, dort drüben.«
Joey gehorchte, doch nicht, ohne sich laut zu beschweren. »Ich bin hergekommen, weil ich mich um das Pferd kümmern soll. Ich bin nicht hergekommen, um Diener zu werden!«
»Keinen Widerspruch!«, befahl Mrs. Slater streng. »Nun, Mrs. Ross, ich habe mir diesen jungen Burschen genauer angesehen und in meiner Küche ein paar Worte mit ihm geredet. Ich denke, wir wagen einen Versuch mit ihm. Einen Shilling die Woche, für den Anfang. Er kann auf dem Boden über dem Stall schlafen, und er bekommt freie Kost, wenn Sie einverstanden sind?«
»Das ist großartig!«, antwortete ich für Joey. »Bedank dich bei Mrs. Slater, Joey.«
»Sehr zu Dank verbunden, Ma’am«, murmelte Joey.
»Kein Weingeist, keine Gossensprache, keine Blasphemie und kein Herumhängen in zwielichtiger Gesellschaft«, befahl Mrs. Slater. »Keine Besuche in den Pubs, kein Glücksspiel. Du kümmerst dich um das Pferd, striegelst es, hältst die Kutsche sauber, sodass jederzeit eine Lady oder ein Gentleman darin Platz nehmen können, und du wäschst dich regelmäßig. Du kannst die Pumpe benutzen, draußen im Hof.«
Joey blickte zu mir und rollte verzweifelt die Augen.
»Selbstverständlich«, stimmte ich zu. »Hast du alles verstanden, Joey?«
»Jepp. Alles verstanden. Alles klar«, sagte Joey leise.
»Heute Abend gibt es Hammelragout«, sagte Mrs. Slater leichthin, doch in ihren Augen glitzerte es verräterisch. »Ist das in Ordnung für dich?«
»Oh! Ja! Ja, das ist in Ordnung!«, rief Joey, und seine Stimmung hellte sich sichtlich auf.
»Du wirst sehen, es passt ganz wunderbar«, würde ich viel später am Abend zu Ben sagen.
»Falls er nicht wegläuft«, warnte Ben.
»Er wird nicht weglaufen«, widersprach ich. »Nicht, wenn er jeden Abend eine warme Mahlzeit bekommt und ein Dach über dem Kopf bei schlechtem Wetter. Abgesehen davon, falls er es doch versucht, könnte ich mir vorstellen, dass jeder Kutscher in ganz London nach ihm sucht. Die Slaters haben viele Freunde.«
Doch ich musste mich eine Weile gedulden, bevor ich ihm von meinem Erfolg berichten konnte. Ben hatte andere, sehr viel wichtigere Dinge, die ihn beschäftigten.