KAPITEL FÜNFZEHN
Ich hatte Recht mit meiner Vermutung, dass Jonathan Tapley unverzüglich bei Scotland Yard vorsprechen würde. Gleich am nächsten Morgen tauchte er auf.
»Ich muss später zum Gericht, Inspector«, sagte er. »Ich habe also im Augenblick wenig Zeit, um mit Ihnen über die Situation zu sprechen. Aber es ist von größter Bedeutung, dass Sie verstehen, welch ein Desaster das alles ist! Ich bin eigens hergekommen, um Sie zu fragen, was Sie deswegen zu tun gedenken?« Er klopfte mit der Metallspitze seines Gehstocks auf den Boden. Ich hatte halb befürchtet, er würde ihn erheben und damit auf mich zielen.
Das Klopfen des Metalls auf den Dielenbrettern bewirkte das Erscheinen von Biddles alarmiertem Gesicht in der Tür. Ich signalisierte dem jungen Constable, dass alles in Ordnung war.
»Wir gehen der Behauptung der Dame nach und prüfen den Wahrheitsgehalt, Sir«, sagte ich zu Tapley. »Wir werden die französische Polizei bitten zu bestätigen, dass die Eheschließung zwischen den beiden Parteien tatsächlich stattgefunden hat und am Ort des Geschehens zum angegebenen Zeitpunkt offiziell registriert wurde. Ich denke, Superintendent Dunn beabsichtigt auch, heute noch jemanden bei der französischen Botschaft zu bitten, einen Blick auf die Heiratsurkunde zu werfen und die Echtheit zu begutachten. Ich muss allerdings sagen, Sir, dass sowohl der Superintendent als auch ich ziemlich sicher sind, dass sich die Urkunde als echt erweist. Ihre Authentizität ist so leicht zu überprüfen, dass Mrs. Victorine Tapley sehr töricht wäre, andernfalls damit zu uns zu kommen und sie vorzulegen.«
Tapleys Auftreten wurde zunehmend cholerisch. »Mrs. Victorine Tapley …? Diese Person kann unmöglich die Witwe von Thomas sein, das steht völlig außer Frage!« Die Metallspitze des Gehstocks klopfte erneut auf die Dielenbretter, doch diesmal tauchte Biddle nicht wieder auf.
»Nein, Sir, es steht eben nicht außer Frage«, entgegnete ich ruhig. »Sie haben mir selbst erzählt, Ihr Cousin wäre geübt darin gewesen, gutherzige Damen zu finden, die sich um ihn kümmerten.«
»Ich würde diese … diese Person nicht als gutherzig beschreiben!«, schnaufte Jonathan Tapley. »Die Damen, die sich in der Vergangenheit um sein Wohlergehen gekümmert haben, waren ohne Ausnahme äußerst respektabel! Seine Frau – seine erste Frau, heißt das, falls wir seine zweite Heirat wirklich akzeptieren müssen – kam aus einer sehr angesehenen Familie. Ich bezweifle sehr, dass das für die Person zutrifft, die mich gestern in meiner Kanzlei aufgesucht hat!«
»Ich bin geneigt, Ihnen beizupflichten, Sir. Allerdings haben Sie mir gegenüber auch erklärt, dass die erste Hochzeit Ihres Cousins das Ergebnis reiner Notwendigkeit war, um seine wahren Neigungen zu verschleiern. Ich nehme an, diese zweite Heirat geschah ebenfalls aus Notwendigkeit. Nicht, weil das Gesetz in Frankreich die Art von Aktivitäten verbietet, derer Ihr Cousin beschuldigt wurde, im Gegensatz zum englischen Gesetz, sondern weil er älter geworden war, weil seine Gesundheit nicht mehr so robust war und weil er ein bestelltes Heim und eine Frau brauchte, die sich um seine alltäglichen Belange kümmerte und ihn im Krankheitsfall pflegte, wie es Mrs. Victorine tat. Ein jüngerer, attraktiverer Mann hätte all das möglicherweise auch ohne Heirat bekommen. Ihr Cousin nicht. Die Dame hat mit ziemlicher Sicherheit darauf bestanden.«
»Tom war ein Narr!«, schimpfte Jonathan Tapley bitter. »Er war ein Narr, sich in eine Situation wie diese zu bringen. Er war ein doppelter Narr, weil er kein neues Testament aufgesetzt hat, wie Fred Thorpe es ihm vorschlug in der Annahme, das existierende müsste aktualisiert werden. Doch das war nicht genug! Er hätte ein vollkommen neues Testament verfassen müssen! Durch seine zweite Heirat ist das erste Testament ungültig geworden. Und er starb ohne ein Vermächtnis! Ist Ihnen eigentlich bewusst, was das bedeutet, Inspector? Victorine Guillaume – ich weigere mich, sie als eine Tapley zu akzeptieren – hat beträchtliche Ansprüche auf das Erbe! Wir werden sie natürlich anfechten, um Floras willen. Meiner Meinung nach sollte diese Victorine Guillaume nicht einen Penny sehen! Moralisch gesehen ohnehin nicht. Sie waren nicht länger ein Paar. Er war hier in England, sie in Frankreich. Es ist offensichtlich, dass Tom die Ehe als gescheitert betrachtete …« Er schnaubte. »Falls sie überhaupt je gültig war, trotz allem, was Sie dazu gesagt haben!«
»Die Urkunde, welche Mrs. Tapley vorgelegt hat, scheint echt zu sein«, erinnerte ich ihn. »Auch wenn wir bislang noch nichts von der französischen Polizei gehört haben …«
»Das Dokument an sich, das Papier mag ja echt sein!«, unterbrach er mich unhöflich. »Aber war die Zeremonie gültig? Waren beide Parteien frei, einen solchen Kontrakt einzugehen? Wir dürfen annehmen, dass dies für Tom gilt, dass er heiraten durfte, aber wurde er irgendwie erpresst? Was diese Victorine Guillaume angeht, was wissen wir schon von ihr? Und dann ist da noch die Frage von Toms Geisteszustand. War er sich der Konsequenzen seines Tuns bewusst, als er sie geheiratet hat? Diese Person behauptet, nachdem sie geheiratet hätten – ich benutze dieses Wort nur solange, bis ich beweisen kann, dass die Eheschließung ungültig ist –, wäre Tom krank geworden, und nach seiner Genesung wäre er geistesabwesend und vergesslich gewesen. War er vielleicht vorher schon so? War er geistesabwesend, als er die Hochzeitszeremonie über sich ergehen ließ?«
Ich fürchtete zwar, dass er nach Strohhalmen griff, doch die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen. Thomas Tapley konnte durchaus bereits verwirrt oder sogar umnachtet gewesen sein, als er die Eheschließungsurkunde unterschrieben hatte. »Ich bin sicher, die französische Polizei wird das alles gründlich überprüfen«, sagte ich laut. »Sie hat Zugang zu den notwendigen Unterlagen.«
»Ich für meinen Teil verlasse mich nicht darauf!«, entgegnete Tapley ärgerlich und machte eine Geste, als schlüge er nach einer Fliege. »Ich werde selbst Nachforschungen anstellen! Im Augenblick spielt sie die Karte der loyalen, verlassenen Ehefrau und besteht auf ihren Rechten! Sein bewegliches Hab und Gut besteht aus nicht viel mehr als seinen Büchern, und die soll sie meinetwegen haben. Aber sie erhebt geradezu groteske Ansprüche auf seinen Grundbesitz! Es gibt zwei Liegenschaften in Yorkshire, aus denen Tom Einkommen bezog, und seine Investitionen. Sie scheint über alles bestens informiert.«
Er beugte sich vor. »Woher weiß sie das alles, hm? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass mein Cousin ihr sämtliche finanziellen Details erzählt hat. Wir reden hier immerhin von einem Mann, der während der ganzen Zeit, die er im Ausland gelebt hat, regelmäßig seine gesamte Geschäftskorrespondenz zu seinen Anwälten in Harrogate geschickt hat. Er hat das getan, weil er nicht wollte, dass jemand anderes sie las! Wir reden von einem Mann, der kein neues Testament zu Gunsten seiner neuen Frau verfasst hat. Ein ganz klarer Hinweis darauf, würde ich meinen, dass er ihr nichts vermachen wollte. Von einem Mann, der diese Person absichtlich nicht ins Vertrauen gezogen hat, was sein persönliches Vermögen anging. Woher um alles in der Welt weiß sie so gut über alles Bescheid, frage ich Sie!«
Er lehnte sich zurück. »Wir werden dagegen vorgehen, Ross. Wir – ich werde mit allen Mitteln dagegen vorgehen, in Floras Namen, um Floras willen, durch sämtliche Instanzen, falls erforderlich! Gott sei Dank hat Tom keinen vorehelichen Vertrag abgeschlossen, bevor er dieses verrückte Abenteuer einging! Er war vernünftig genug, das zu vermeiden. Es ist eindeutig, dass er nicht wollte, dass sie etwas bekam, und ich werde dafür sorgen, dass es auch so bleibt!«
»Mr. Tapley«, begann ich vorsichtig. »Zwei Punkte möchte ich dazu anmerken. Erstens, weder Mrs. Jameson, die Wirtin ihres Bruders in dieser Stadt, noch meine Frau, die zu mehreren Gelegenheiten mit Ihrem Bruder gesprochen hat, gewannen den Eindruck, dass sein Geisteszustand besorgniserregend war. Genauso wenig, wie der junge Fred Thorpe in Harrogate ihn für verwirrt gehalten hat. Verängstigt und nervös, durchaus, aber das ist etwas ganz anderes, und wir dürfen nicht voreilig schließen, dass er vor seiner Frau Angst gehabt hat. Als Thorpe Ihren Cousin fragte, ob er sein Testament aktualisieren wollte, da geschah dies, weil Thorpe glaubte, dass Ihr Cousin bei genügend klarem Verstand dazu war.
Und zweitens, ich glaube, dass Ihr Cousin die Gelegenheit, in Harrogate ein neues Testament zu verfassen, deswegen nicht genutzt hat, weil er nicht wollte, dass irgendjemand von seiner zweiten Heirat erfuhr. Ich betone, Sir, wir wissen den genauen Grund noch nicht! Er muss erkannt haben, dass sein ursprüngliches Testament durch die Heirat ungültig geworden war. Vielleicht wollte er, wie Sie es sagen, seiner zweiten Frau nichts oder nicht sehr viel hinterlassen. Vielleicht wollte er auch einfach nicht, dass sie herausfand, wo er war! Er hatte nicht vor, jetzt schon zu sterben. Vielleicht hat er geglaubt, hier Zeit zu finden, um über einen Ausweg aus seiner misslichen Lage nachzudenken.«
Tapley legte die Hände auf den Elfenbeinschädel seines Gehstocks und sah mich unter hochgezogenen Augenbrauen an. »Und daraus schlussfolgern Sie was genau?«
»Ich schlussfolgere nicht, Sir, ich mutmaße lediglich. Ich mutmaße, dass es so aussieht, als wäre Ihr Cousin vor seiner Frau davongelaufen. Lag es daran, dass er der Ehe überdrüssig geworden war, oder gab es einen anderen Grund? Das ist es, was wir herausfinden müssen.«
Tapley stieß ein trockenes Kichern aus. »Ich sagte bereits, Sie sind in der falschen Branche, Ross. Sie hätten Anwalt werden sollen.« Er beugte sich vor, ein Glänzen in den Augen. »Ich glaube – und ich sehe Ihnen an, dass Sie den gleichen Verdacht hegen –, dass Tom um sein Leben gefürchtet hat, als er aus Frankreich zurück nach England geflohen ist.«
»Bis jetzt deutet nichts darauf hin, Mr. Tapley. Und sollte es der Fall sein, müssen wir es beweisen, was schwierig sein könnte. Es ist ein großer Unterschied, ob man seinen Partner nicht mehr liebt oder sich die Ehe nicht so entwickelt wie erhofft und ob man deswegen sein eheliches Heim verlässt oder ob man bedroht wird und aus Angst um sein Leben flüchtet. Wir haben keinerlei Beweise für Letzteres. Nichts. Madame Victorine Tapley geborene Guillaume ist möglicherweise völlig unschuldig.«
»Ich hege keine derart nachsichtigen Gedanken ihr gegenüber, Inspector. Sie hat etwas mit Toms Tod zu tun, und ich möchte, dass Sie ihre Schuld beweisen!« Ein wölfischer Glanz kam in seine Augen. »Und wenn sie in irgendeiner Weise schuld ist an seinem Tod, sei es als treibende Kraft oder als Gehilfin, darf sie selbstverständlich nicht von seinem Tod profitieren. Ihre Ansprüche auf das Erbe sind in diesem Fall nichtig.« Er erhob sich. »Ich muss jetzt gehen. Wir sprechen uns wieder, Inspector. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.«
»Er will Victorine schuldig sehen«, sagte ich später zu Dunn, als ich über meine Unterhaltung mit Jonathan Tapley Bericht erstattete. »Weil sie dann keinen Anspruch mehr auf das Erbe seines Cousins hat. Wir müssen bei den Ermittlungen berücksichtigen, dass sein Verlangen, ihre Schuld zu beweisen, größer ist als sein Wunsch nach Gerechtigkeit. Auf der anderen Seite haben wir es hier mit Mord zu tun, und ihr Name steht selbstverständlich auf der Liste der Verdächtigen.
Das wär’s bis hierher, Sir. Ich schließe weder Tapley noch seine Frau als Täter aus. Beide zeigen sich sehr entschieden in ihren Bemühungen, die Interessen von Miss Flora zu schützen, und zwar auch schon, bevor sie von der Existenz dieser französischen Ehefrau des Verstorbenen wussten. Thomas hatte sein Versprechen gebrochen, nie wieder nach England zurückzukehren. Er war zu einer Gefahr geworden. Von dem Augenblick an, als Jonathan und Maria Tapley von Fred Thorpe erfuhren, dass Thomas wieder in England war, lebten sie in Angst davor, er könnte vor ihrer Haustür auftauchen.«
»Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Dunn. »Jonathan Tapley ist ein Mann mit großem Einfluss. Was gedenken Sie als Nächstes zu unternehmen, Ross?«
»Ich werde Victorine Tapley geborene Guillaume einen Besuch in ihrem Hotel abstatten und sie erneut befragen. Ich glaube nicht, dass Thomas, wie sie uns einzureden versucht, über seine Krankheit vergessen hat, dass er verheiratet war. Wenn er verängstigt und nervös nach Harrogate und zu Fred Thorpe kam, dann gab es einen Grund dafür. Ich stimme mit Jonathan Tapley überein, dass Victorine eine Menge Details über das Vermögen ihres Mannes weiß und dass Thomas absichtlich kein Testament aufgesetzt hat, das sie einschließt. Irgendetwas stimmt hier nicht, das spüre ich in den Knochen.«
»Viel Glück, Ross«, sagte Dunn.
»Danke, Sir.«
Es war kurz nach Mittag, als ich vor dem kleinen Hotel eintraf, in dem Victorine Tapley geborene Guillaume abgestiegen war. Der Geruch nach garendem Gemüse erfüllte die Luft. Auf meine Bitte hin wurde eine Dienstmagd nach oben geschickt, um die Lady zu holen.
Ich wartete in der Lobby am Fuß der Treppe. Als Victorine am oberen Treppenabsatz erschien, war ich im ersten Moment so verblüfft, dass ich einen Schritt zurückwich. Sie trug ein vollständiges Trauergewand einschließlich schwarzem Flor. Der einzige nicht tiefschwarze Gegenstand war eine weiße Witwenhaube mit baumelnden Bändchen um die Ohren. Ihr Haar war genauso kunstvoll hochgesteckt wie am Tag zuvor, ein dickes Nest pechschwarzer, glänzender Locken, die sich um ihren Kopf wanden. Der Gesamteindruck war genauso dramatisch wie attraktiv. Als sie sich die Treppe herunter in Bewegung setzte, kam mir eine Idee. Sie war zwar verblüffend, doch nicht auszuschließen. Trug die Lady möglicherweise eine Perücke? War Victorine vielleicht ein ganzes Stück älter, als sie zu sein vorgab?
Ich plapperte eine Entschuldigung, weil ich so kurz vor der Essenszeit hergekommen war, und verlieh meiner Hoffnung Ausdruck, sie nicht über Gebühr von der Tafel abzuhalten.
Sie winkte anmutig mit der Hand, eine Geste, die entweder meine Entschuldigung oder den Geruch nach gekochtem Gemüse vertreiben sollte.
»Es ist nicht wichtig, Inspector. Ich habe wenig Appetit. Das Hotel hat einen Salon, dort drüben.« Sie deutete mit einer in einem schwarzen, fingerlosen Seidenhandschuh steckenden Hand in die entsprechende Richtung. »Er wird nur selten benutzt, und vielleicht könnten wir uns dorthin zurückziehen.«
Der Salon roch nach muffiger, abgestandener Luft, wie es häufig bei Zimmern wie diesem in Hotels der Fall war. Das Mobiliar sah unbequem aus. Das einzige Gemälde an der Wand zeigte eine düstere, nebelverhangene Landschaft mit Vieh auf der Weide. Gäste wurden nicht ermuntert, sich länger hier aufzuhalten, und zusammen mit dem abgestandenen Geruch war das wohl auch der Grund, warum der Raum nicht benutzt wurde. Allerdings lag auf dem staubigen Tisch eine Ausgabe der heutigen Zeitung. Die Witwe von Thomas Tapley ließ sich unter Seidenrascheln auf einen Sessel sinken. Ich bemerkte einen gewissen Veilchenduft, Parma-Veilchen. Lizzie hatte eine ganze Flasche davon.
»Wie geht es Ihnen heute ansonsten, Madame?«, erkundigte ich mich höflich, während ich ihr gegenüber Platz nahm.
»Abgesehen von mangelndem Appetit und meiner Trauer?«, entgegnete sie sarkastisch. »Gut geht es mir ansonsten, Inspector. Gut. Ich habe etwas zu wenig geschlafen.«
»Das ist verständlich. Darf ich fragen, Madame, wo Sie unsere Sprache so exzellent gelernt haben?«
Ein leichtes Lächeln spielte um ihre Lippen. »So, wie ich heute vor Ihnen sitze, Inspector, würden Sie vermutlich nie auf den Gedanken kommen, dass ich in meiner Jugend Tänzerin war. Oh, durchaus eine respektable Tänzerin. Auch wenn ich heute ein Gasthaus in Montmartre betreibe, war ich nie eine von jenen jungen Frauen, die die Beine auf so unschickliche Weise in die Höhe warfen, wie man es beim Cancan sieht, in den Cabarets von Montmartre und auch in Montparnasse. Diese Frauen sind so schlecht wie ihr Ruf. Nein, ich war eine petit rat bei der Opéra, eine Balletttänzerin. Die Opéra wurde von Louis XIV. gegründet, wussten Sie das?«, fügte sie stolz hinzu. »Der offizielle Name hat unzählige Male gewechselt, genau wie bei den Theatern, aber sie war immer als die Opéra bekannt. Ich bin stolz darauf, Mitglied gewesen zu sein, auch wenn ich nur eine kleine, unbedeutende Tänzerin bei der Ballettabteilung war. Später, als ich größer und schwerer wurde, verlor ich meine Anstellung bei der Ballettabteilung. Ich ging nach England und wurde hier bei verschiedenen Corps de Ballet engagiert. Dort lernte ich die Sprache. Doch das Arbeitsleben einer Tänzerin ist kurz, Monsieur. Ich war besonnen genug, Geld zu sparen, und ich kehrte nach Frankreich zurück und kaufte meinen kleinen Gasthof.«
»Mr. Jenkins dachte, Sie wären der Sprache nicht besonders mächtig«, sagte ich gelassen.
Das brachte sie für einen kurzen Moment ins Grübeln. »Mr. Jenkins ist kein besonders intelligenter Mann«, erwiderte sie dann. »Ihm ist wahrscheinlich nie in den Sinn gekommen, dass ich seine Sprache flüssig spreche. Er bestand darauf, in seinem entsetzlichen Französisch mit mir zu reden. Ich habe nicht die leiseste Vorstellung, wo er das gelernt hat. Vermutlich – nach den Worten zu urteilen, die er benutzt hat – in irgendwelchen zweifelhaften Hafenbars.«
»Dann streiten Sie also nicht ab, Madame, die Person zu kennen, von der ich spreche? Und dass Sie Mr. Jenkins engagiert haben, um nach Ihrem Ehemann zu suchen?«
»Nein, Inspector. Ich streite es nicht ab.«
»Sie haben gestern nichts dergleichen erwähnt.«
»Gestern, Inspector, haben wir uns auch nicht über die Einzelheiten meiner Suche nach Thomas unterhalten. Hätten Sie mich gestern gefragt, hätte ich Ihnen die gleiche Antwort gegeben wie heute. Warum sollte ich abstreiten, Mr. Jenkins engagiert zu haben?«
»Wie sind Sie an die Detektivagentur von Mr. Jenkins gekommen?«
Sie zuckte die Schultern. »Am Empfangsschalter des Hotels gibt es ein kleines Anschlagbrett, wo die Leute Nachrichten hinterlassen. Seine Karte hing dort. Ich dachte, es wäre einen Versuch wert. Aber wie sich herausstellte, war er ein Gauner.«
»Ein Gauner, der nichtsdestotrotz Ihren Ehemann für Sie fand, Madame …«, erinnerte ich sie.
Ihre Augen blitzten. »Nein, Inspector, hat er nicht! Hätte er Thomas gefunden, hätte ich mich nicht an Mr. Jonathan gewandt in meiner Verzweiflung! Dieser Jenkins, pah!« Sie warf die Hände hoch. »Er hat mir von Anfang an nicht gefallen, genauso wenig wie sein Büro, als ich dort war! Aber nachdem ich mir schon die Mühe gemacht hatte, ihn aufzusuchen, konnte ich ihm auch erklären, dass ich jemanden namens Thomas Tapley suchte. Ich gab ihm sogar eine Photographie meines Mannes! Eine Photographie, die er mir übrigens bis heute nicht zurückgegeben hat! Er verlangte einen Geldbetrag als Vorschuss. Ich bezahlte ihm eine ordentliche Summe. Als ich mich eine Weile später wieder bei ihm meldete, um in Erfahrung zu bringen, ob er Fortschritte gemacht hatte, besaß er die Unverfrorenheit – und die Dummheit –, noch mehr zu verlangen! Ich weigerte mich rundheraus. Ich konnte sehen, dass er wenig mehr war als ein Trickbetrüger! Ich verlangte das ursprünglich gezahlte Geld zurück. Er sagte, das wäre unmöglich. Ich verlangte die Photographie. Er sagte, er hätte sie nicht in seinem Büro. Ich teilte ihm mit, dass ich ab sofort auf die Dienste seiner Agentur verzichten würde und dass er mir die Photographie meines Mannes an die Adresse meines Hotels schicken sollte. Das hat er bis heute nicht getan.«
»Mr. Jenkins ist tot«, informierte ich sie.
Sie schwieg für einen Moment. »Wie ist er gestorben?«
»Er wurde ermordet.«
»Ah …« Weiteres Schweigen. »Nun, das überrascht mich nicht«, sagte sie schließlich. »Ein Mann wie er hat Feinde, ohne Zweifel. Andere Personen, die er um ihr Geld gebracht hat.«
Wir saßen sekundenlang da und sahen uns an. Ihr Gesicht war ein wenig gerötet vor Indigniertheit oder Aufregung. Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf. Sie behauptete, Tänzerin gewesen zu sein. War sie vielleicht sogar Schauspielerin gewesen? Hatte ihre schauspielerische Erfahrung sie inspiriert für ihren Auftritt vorhin auf der Treppe, als ich unten gewartet hatte? Erzählte sie möglicherweise die Wahrheit, was Jenkins betraf? Ich konnte mir durchaus vorstellen, auch nach Lizzies Beschreibung, dass der Mann ein Trickbetrüger gewesen war. Vielleicht war er auch ein Privatdetektiv gewesen, doch es hatte offensichtlich in seinem Interesse gelegen, die jeweiligen Ermittlungen so lange hinzuziehen wie nur irgend möglich und auf diese Weise immer wieder Geld von seinen respektiven Klienten zu verlangen. Die Beschreibung seiner Französischkenntnisse durch Victorine Tapley war durchaus amüsant. Sie klangen außerdem nach Wahrheit. Hatte er wirklich geglaubt, diese kompetente Frau wäre des Englischen so gut wie nicht mächtig? Auf der anderen Seite, als sie ihn aufgesucht hatte, war sie in Begleitung eines anderen Mannes gewesen. Oder hatte der Unbekannte das Reden übernommen? Wie sehr ich mir wünschte, wir könnten Jenkins dazu befragen … oder irgendjemand hätte ihm diese Fragen vor seinem Tod stellen können. Lizzie hatte es gut gemeint, aber sie hatte zu lange gewartet, bevor sie uns informiert hatte.
»Madame, von einer Zeugin habe ich gehört, dass Sie in Begleitung eines anderen Gentlemans waren, als Sie Mr. Jenkins zum ersten Mal aufgesucht haben.«
»Welcher Zeugin?«, verlangte sie zu erfahren.
»Einer Lady, die im gleichen Haus eine Etage höher wohnt und arbeitet. Jenkins hatte ein Arrangement mit ihr. Sie brachte ihm ein Tablett mit Tee, wenn er neue Klienten im Büro hatte.«
»Ich erinnere mich nicht an eine solche Frau. Sie behauptet, mich gesehen zu haben?«
Nun ja, das hatte Miss Poole nicht behauptet. Nur dass sie eine Lady von hinten gesehen hatte und einen Hut mit lavendelfarbenen Rosenknospen. Wahrscheinlich gab es noch mehr Hüte mit einer ähnlichen Verzierung. Miss Poole hatte die Lady nicht reden hören.
Ich beschloss, Victorine Tapleys Frage nicht zu beantworten. Es ist das Vorrecht des Ermittlungsbeamten, Fragen zu stellen, nicht Fragen zu beantworten.
»Sie waren also nicht in Begleitung bei Jenkins? Ich weiß, Sie haben uns bereits erzählt, dass Sie allein in London sind.«
»Aber ich bin allein!«, schnappte sie. »Ein alter Freund hat mich auf der Fahrt über den Kanal begleitet. Ich war nervös, verstehen Sie, angesichts meiner Rückkehr in dieses Land nach vielen Jahren. Außerdem vertrage ich die Seefahrt nicht. Der Gentleman war einverstanden, mich nach London zu begleiten und mir bei der Suche nach einer Unterkunft zu helfen. Er kam mit mir zu Jenkins, aber nachdem Jenkins mich so enttäuscht hatte, musste er wieder zurück. Er hatte Geschäfte in Paris, um die er sich kümmern musste. Er fuhr nach Frankreich und schlug vor, dass ich mitkomme, doch ich erklärte ihm, ich wäre fest entschlossen, Mr. Jonathan Tapley aufzusuchen und mit ihm zu reden. Ich wollte bleiben, so lange meine finanziellen Mittel es erlaubten. Er akzeptierte meine Entscheidung, aber er bat mich dringend darum, kein Geld mehr auf Leute wie diesen Jenkins zu verschwenden.«
»Und der Name dieses Gentlemans?«
Erneut ein unmerkliches Zögern. »Hector. Hector Mas. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Er kannte Thomas. Sie waren befreundet. Monsieur Mas war sofort bereit, mir bei der Suche nach meinem verschwundenen Mann zu helfen.«
In diesem Augenblick erklang draußen in der Halle ein Gong. Sie hob den Kopf und sah in die Richtung.
»Ich denke, ich sollte versuchen, ein wenig Suppe zu essen. Die Fleischpasteten, die sie hier servieren, sind einfach abscheulich!« Die Seide raschelte, und erneut stieg mir der Duft von Veilchen in die Nase.
Es war nicht zu übersehen – unsere Unterhaltung war für den Moment vorbei. Ich erhob mich.
»Ich danke Ihnen für Ihre Zeit, Madame. Wir werden uns wiedersehen. Ich hoffe doch, Sie werden diese Adresse nicht aufgeben? Falls doch, informieren Sie bitte Scotland Yard. Ich bitte Sie eindringlich, kehren Sie für den Augenblick nicht nach Frankreich zurück.«
»Ich muss hierbleiben«, erwiderte sie. »Ich habe rechtliche Angelegenheiten zu regeln. Mein verstorbener Ehemann hat kein Testament hinterlassen. Außerdem habe ich erfahren, dass ich eine Stieftochter habe.«
»Ihr Mann hat seine Tochter nie erwähnt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nicht ein einziges Mal. Wie ich inzwischen weiß, hat er sie als kleines Kind weggegeben, an seinen Cousin und dessen Frau. Sie betrachten sie als ihre eigene Tochter. Thomas hatte keine Verantwortung mehr für sie, und ich glaube, nach einer Weile sah er sie ebenfalls als Tochter seines Cousins und dessen Frau und nicht mehr als seine.« Sie nickte. »Ich werde sie heute Nachmittag kennenlernen. Und Mrs. Maria Tapley.«
»Tatsächlich?«, rief ich überrascht. Damit hatte ich nicht gerechnet.
»In der Tat, ja. Sie kommen hierher, um sich mit mir zu treffen.«
Oh, wie sehr ich mir wünschte, ich könnte eine Fliege an der Wand dieses schäbigen Salons sein, wenn diese Begegnung am Nachmittag stattfand!
Auf dem Weg nach draußen machte ich beim Empfang Halt. Wie Victorine geschildert hatte, gab es eine Korktafel neben dem Schalter, an die die unterschiedlichsten Karten und Zettel angeheftet waren. Ein Blick darauf verriet mir, dass sie nahezu ausnahmslos an die Besucher der Hauptstadt gerichtet waren, hauptsächlich billige Flugblätter mit Reklame für türkische Dampfbäder, Zigarrenstuben, Theater und dergleichen. Es gab sogar … oh, ja, da war sie ja. Eine kleine Karte, die für die Dienste von Horatio Jenkins warb, dem privaten Ermittlungsagenten.
Ich nahm die Karte herunter und zeigte sie der respekteinflößenden, in Bombazin gehüllten Frau, die den Zugang zum Hotel hinter ihrem Schalter bewachte. »Haben Sie vielleicht gesehen, wer diese Karte hier aufgehängt hat und wann?«, fragte ich.
Sie starrte die Karte an, als würde sie eine Krankheit übertragen. »Ich habe keine Ahnung! Die Anschläge ändern sich ständig! Ich könnte den Pagen fragen, aber ich bezweifle, dass er sich an irgendetwas erinnert. Möchten Sie mit dem Jungen reden?« Sie schlug auf eine Glocke auf dem Tresen.
Eine hagere Gestalt in einer schlecht sitzenden Pagenuniform erschien. »Dieser Gentleman hier hat eine Frage an dich«, informierte die Frau den Jungen und ließ mich mit ihm alleine.
Er war ein unscheinbarer Bursche, schmächtig und unterentwickelt mit krummen Zähnen und einem wissenden Blick. »Hallo«, sagte er. »Sie sind ein Bulle, darauf wette ich meine Messingknöpfe.«
»Lass mal deine Messingknöpfe stecken, wo sie sind«, erwiderte ich. »Diese Karte hier, mit der Werbung für die Detektivagentur, wann wurde sie aufgehängt?« Ich hielt ihm die Karte unter die Nase.
»Was ist dabei für mich drin?«, fragte der Jugendliche.
»Ich will dir etwas erklären«, sagte ich. »Ich bin in der Tat ein Gesetzesbeamter. Ich führe Ermittlungen durch, und wenn du Informationen zurückhältst, steckst du in großen Schwierigkeiten.«
»Ich habe doch gar keine Informationen!«, jammerte der Page erschrocken. »Was für Informationen soll ich denn überhaupt haben? Ich stecke doch hier fest! Ich renne mir die Füße aus dem Leib, Sir, die Füße! Sie läutet alle fünf Minuten die verdammte Glocke! Ständig will irgendjemand sein Gepäck nach oben getragen haben oder wieder nach unten. Oder jemand will, dass ich nach draußen renne und ihm eine Droschke besorge! Oder jemand will, dass ich eine halbe Meile renne, um eine Nachricht zu überbringen. Wenn sie mir einen Schilling dafür geben, habe ich noch Glück gehabt! Sie lässt mich außerdem alle Schuhe putzen, weil ich zugleich der Stiefeljunge bin, wegen meiner Verfehlungen. Ich hab nicht viel Zeit, Sir, dieses Korkbrett zu beobachten. Ständig kommen Leute und hängen ihre Nachrichten dran und nehmen sie wieder herunter. Wenn das Brett zu voll wird, muss ich alles herunternehmen und ins Feuer werfen. Ich lese keinen von diesen Zetteln. Sie vielleicht. Ich nicht.«
»Dann lass mich dir eine andere Frage stellen«, sagte ich. »Die französische Lady, die hier zu Gast ist …«
»Ach, die«, sagte der Page.
»Ist sie allein hier eingezogen?«
»Jepp«, sagte der Page bestimmt. »Ich hab ihre Taschen allesamt in die oberste Etage getragen, und sie hat mir einen Sixpence gegeben, mehr nicht. Ja, ich erinnere mich an ihre Ankunft. Wenn sie abreist, muss ich ihre Taschen wieder nach unten tragen, ganz sicher.«
»Sie war alleine? Kein Gentleman in ihrer Begleitung, möglicherweise ein Franzose?«
Er kniff die Augen zusammen. »Da war ein Kerl in der Kutsche, als sie ankam, aber er ist nicht ausgestiegen und hat ihr nicht geholfen, auch nicht beim Abladen ihres Gepäcks, nichts. Sie stieg aus, der Kutscher kletterte von seinem Bock und pfiff nach mir. Ich ging nach draußen und lud mit dem Kutscher zusammen ihr Gepäck aus. Dann bekam ich den Auftrag, alles nach oben zu bringen, und die Droschke ratterte mit dem anderen Fahrgast davon. Ich habe den Kerl nicht reden hören, kein einziges Wort, und ich konnte ihn auch nicht deutlich sehen, weil es dunkel war in der Kutsche und er sich die Hand vor das Gesicht hielt. Ich kann nicht sagen, ob er ein Ausländer war oder nicht. Er könnte der Zar von Russland gewesen sein oder ein Invalide ohne Beine. Ich kann Ihnen wirklich nicht weiterhelfen, Sir.«
Also hatte Hector Mas – falls der Mann in der Kutsche Hector Mas gewesen war, der alte Freund von Victorine Tapley, der mit ihr nach England gereist war – nicht im gleichen Hotel mit ihr logiert. Aus dem gleichen Grund, aus dem er sich in der Dunkelheit der Kutsche gehalten hatte bei ihrer Ankunft? Oder gab es einen anderen Grund?
Ich gab dem Pagen einen Schilling, für den Fall, dass ich noch einmal mit ihm reden musste. Er konnte sich als nützlicher Spion erweisen.
»Soll ich mehr über diese Karte rausfinden, Sir?«, fragte der Page, ermutigt durch meine Großzügigkeit. »Ich könnte bei den anderen Hotels in der Gegend vorbeigehen und nachsehen, ob sie auch so eine haben.«
»Nicht nötig«, antwortete ich. »Die Detektivagentur ist nicht mehr im Geschäft.«
»Was meinen Sie, Ross?«, wollte Dunn wissen, als ich zum Yard zurückgekehrt war.
»Entweder lügt sie sehr plausibel, oder sie sagt die Wahrheit. Sehr wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem. Sie verrät uns nichts, solange sie nicht muss. Sie hat beispielsweise nicht von sich aus erzählt, dass sie Jenkins beauftragt hat. Sie hat bei ihrem ersten Besuch hier im Yard nicht erzählt, dass sie in Begleitung eines Mannes nach England gekommen ist. Sie hatte den Tee bei Jenkins völlig vergessen und Miss Poole nicht gesehen, die hinter ihr in der Tür stand und nicht in Jenkins’ Büro kam. Also musste sie schnell entscheiden, ob sie weiterhin bestreiten soll, dass ein Mann sie begleitet, oder seine Existenz zugeben. Und weil sie nicht wissen kann, ob Miss Poole sie deutlich gesehen hat oder, wie wir wissen, nur flüchtig und von hinten oder ob ich gar einen weiteren Zeugen beibringen kann, beschloss sie, es einzuräumen.
»Und der Grund für ihre Zurückhaltung?«, fragte Dunn und trommelte nachdenklich mit den Fingern auf dem Schreibtisch.
Ich legte die Stirn in Falten und wählte meine Worte mit Bedacht. »Ich würde sagen, Sir, dass sie ihr bisheriges Leben in einer ziemlich halbseidenen Welt verbracht hat. Es liegt nicht in ihrer Natur, irgendjemandem zu vertrauen oder sich Fremden zu öffnen, erst recht nicht gegenüber der Polizei. Balletttänzerinnen werden von Scharen von Bewunderern verfolgt, deren Absichten im Allgemeinen genauso offensichtlich wie unehrenhaft sind. Wie Victorine Guillaume gesagt hat, das berufliche Leben einer Balletttänzerin ist kurz. Wenn sie aufhören mit Tanzen und bis dahin keinen Ehemann oder großzügigen Beschützer gefunden haben, bleibt ihnen häufig nichts anderes übrig, als sich zu verkaufen. Victorine Guillaume war keine Unschuldige, aber sie hat einen geschäftstüchtigen Kopf auf den Schultern. Gut möglich, dass sie Geld gespart hat. Oder sie hat es auf eine Weise verdient, die sie nicht gerne publik macht. Wie dem auch sei, es reichte aus, um davon ein Gasthaus zu kaufen und ans Laufen zu bringen. Ihre Heirat mit Thomas Tapley diente möglicherweise nur dazu, den Status der respektablen Ehefrau zu erlangen, mehr nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie angesichts ihres Theater-Hintergrunds nichts bemerkt hat von Tapleys sexueller Ausrichtung. Und auch wenn ihm der Ruf vorauseilte, alte Damen zu becircen, bis sie ihn bei sich aufnahmen, so denke ich nicht, dass er Victorine Guillaume so einfach einwickeln konnte. Also muss es etwas anderes gegeben haben, das sie aus der Ehe zu gewinnen hoffte. Übrigens, Sir, ich vermute, dass sie eine Perücke trägt.«
»Was?«, fragte Dunn verblüfft.
»Nun, Sir, sie ist immer sehr kunstvoll frisiert, und ihre Haare haben heute ganz genauso ausgesehen wie gestern. Möglich, dass sie eine Friseurin ins Hotel bestellt hat, oder aber es ist eine Perücke. Sie könnte ihr Aussehen, sollte es erforderlich werden, relativ leicht verändern, wenn sie eine Perücke trägt. Sowohl Major Griffiths als auch Miss Poole haben eine Frau mit dunkelroten Haaren beschrieben. Wir kennen Victorine Guillaume nur mit pechschwarzen Locken, doch das bedeutet nicht, dass es sich nicht um ein und dieselbe Person handelt.«
»Wir müssen sie im Auge behalten«, sagte Dunn grimmig. »Um zu verhindern, dass sie aus dem Land flüchtet.«
»Die französische Polizei wird sie finden, Sir, falls sie auf die Idee kommt. Sie würde ihr Gasthaus in Montmartre nicht so ohne Weiteres aufgeben, es sei denn, ihre Lage würde aussichtslos und sie müsste verschwinden. Im Moment interessiert mich ihr geheimnisvoller Begleiter, dieser Hector Mas, beinahe noch mehr. Er wollte bei Victorines Hotel nicht gesehen werden. Warum war er so darauf bedacht, außer Sicht zu bleiben? Victorine Guillaume behauptet, er wäre nach Frankreich zurückgekehrt. Ich frage mich, Sir, ob es möglich wäre, die französische Polizei zu kontaktieren und Erkundigungen über Mas einzuholen?«
»Ich kümmere mich darum, Ross«, versprach Dunn.
»Unterdessen hat die Lady Ansprüche auf Thomas Tapleys Nachlass erhoben. Ich glaube nicht, dass sie weggehen wird, bevor diese Angelegenheit nicht entschieden ist.«
Später am Abend des gleichen Tages lauschte Lizzie schweigend und aufmerksam meinem Bericht. Nachdem ich geendet hatte, saß sie für einige Sekunden in Gedanken versunken da, bevor sie das Wort ergriff.
»Also hat Maria Tapley ihre Ziehtochter heute Nachmittag zu ihrer neu gefundenen Stiefmutter mitgenommen? Ich bin überrascht, dass sie Flora erlaubt hat, sich auch nur in ihre Nähe zu begeben.«
»Die Tapleys können das Zusammentreffen der beiden kaum verhindern«, erinnerte ich Lizzie. »Also hielten sie es für besser, dass die erste Begegnung so schnell wie möglich erfolgte, damit Flora vorbereitet ist, wenn die Erbschaftsangelegenheit vor Gericht geht – falls es dazu kommt. Spätestens dort hätte sie ihr gegenübergestanden, und sie sollte wissen, mit wem sie es zu tun hat. Vielleicht war es auch Floras eigener Wunsch, die Frau kennenzulernen, die ihr Vater in Frankreich geheiratet hatte?«
Lizzie dachte über meine Worte nach und pflichtete mir bei. Ihre nächste Frage überraschte mich. »Du sagst, Victorine trug tiefe Trauer? Von Kopf bis Fuß? Sogar mit einer Witwenhaube?«
»Von Kopf bis Fuß und alles in guter Qualität – in meinen Augen. Schwarzer Trauerflor, selbst die Spitzenhandschuhe waren schwarz.«
»Hmmm«, sagte Lizzie und beugte sich mit aufgeregter Miene vor. »Woher hat sie das alles?«
»Was?«
»Die Trauergarderobe. Wo und wann hat sie die Trauergarderobe erworben?«
Ich gestehe, im ersten Moment war mir nicht klar, worauf sie mit ihrer Frage hinauswollte, und so antwortete ich: »Vermutlich ist es nur angemessen, wenn sie sich als Witwe in Trauer kleidet.«
»Ja, sicher! Sicher«, sagte Lizzie ungeduldig. »Aber so eine komplette Trauergarderobe erwirbt man nicht über Nacht! Victorine wusste bis gestern Nachmittag nicht, dass sie Witwe war, nicht bevor sie Jonathan Tapley aufgesucht hatte und zum Bestatter gebracht wurde, um den Leichnam ihres Mannes zu sehen! Jedenfalls behauptet sie das. Sie hat gehofft, Thomas lebendig vorzufinden, wenn auch geistig verwirrt. Ist sie vom Bestatter gleich zu einem Bekleidungsgeschäft gerannt, ohne sich vorher die Zeit zu nehmen, eine Träne zu vergießen?«
»Nein«, antwortete ich. »Sie kam zum Scotland Yard, zu Dunns und meiner Überraschung. Sie trug Grau, eine Husarenjacke und diesen Hut, von dem du gesprochen hast, mit den lavendelfarbenen Rosen und den Bändern.«
»Aha. Also hatte sie gar keine Zeit, einkaufen zu gehen! Sie muss mit einer großen Truhe oder einem Schrankkoffer von Frankreich nach England gereist sein!«
»Der Hotelpage sagte, sie wäre mit einer ganzen Reihe von Taschen angekommen.«
Lizzie nickte. »Hat sie diesen kompletten Satz Trauergarderobe eingepackt, auf die vage Möglichkeit hin herauszufinden, dass ihr Mann hier in England gestorben war? Wenn sie glaubte, dass er noch am Leben war, ergibt es keinen Sinn. Die Garderobe nahm kostbaren Platz ein und erschwerte ihr Reisegepäck zusätzlich. Anscheinend hielt sie es durchaus für möglich, dass er zwischenzeitlich gestorben sein könnte, und sie scheute die Ausgaben für schwarzen Flor und schwarze Garderobe hier in England. Die Frage ist nur – wieso sollte Thomas gestorben sein? Er hatte sich von seinem schweren Fieber körperlich erholt. Es erscheint mir zumindest äußerst pessimistisch, die Taschen mit Kleidung vollzustopfen, die man möglicherweise gar nicht benötigt.«
»Es sei denn, sie war recht sicher, dass sie die Garderobe benötigen würde«, sagte ich nachdenklich.
Lizzie strahlte mich an. »Gestern trug sie Grau. Grau ist eine recht nüchternde Farbe, die man durchaus für eine Woche tragen kann, bis man schwarze Sachen erstanden hat. Wäre sie so vorgegangen, hätte sich das Rätsel ihres plötzlichen Erscheinens in voller Trauer nicht ergeben. Aber an diesem Nachmittag hatten sich Maria Tapley und ihre Stieftochter Flora zu einem Antrittsbesuch angemeldet. Victorine wollte einen guten Eindruck erwecken und dazu die bestmöglichen Voraussetzungen schaffen. Sie konnte nicht widerstehen, die schwarze Trauergarderobe anzulegen, die sie mitgebracht hatte.«
Lizzie lehnte sich zurück und wartete.
Ich musste ihr meine Bewunderung gestehen. »Meine liebe Lizzie, ungewöhnliche Kopfbedeckung mit Lavendelrosen, schwarze Garderobe mit Trauerflor – sämtliche Indizien in diesem Fall haben mit Damengarderobe zu tun. Was soll ein männlicher Detektiv damit anfangen?«
»Ganz genau!«, sagte Lizzie in stillem Triumph. »Es ist, wie ich Superintendent Dunn immer wieder sage! Scotland Yard braucht ein paar weibliche Detektive.«