Ein akkurates Haus. Sitzgarnitur und Fernsehecke, zwei Sessel vor dem offenen Kamin. Gardinen und Vorhänge, heimelige Tischlampen, anspruchslose Topfpflanzen. Ein offener Durchgang ins Esszimmer. Mrs Gaunts Stock hängt über der Lehne. In der Vitrine das gute Geschirr. Obwohl Mrs Gaunt im Krankenhaus ist, wirkt alles sehr ordentlich.
Sie stehen da und wissen nicht, was sie suchen. Rosy öffnet die Lederjacke. »Ob er das Kaliumchlorid im Haus versteckt?«
»Deshalb bist du hier?«
Sie wirft Ralph ein Paar Latexhandschuhe zu. »Du gehst ins Bad, ich in den Keller.«
Missmutig mustert er die Gummidinger. »Wenn du das Haus durchsuchen willst, wieso haben wir nicht Onkel und Neffen mitgebracht und das Team?«
»Wir brauchen Ideen.«
Ralph zuckt mit den Achseln und schlurft ins Bad.
Minuten später treffen sie sich wieder. Die Ausbeute ist mager. Ralph hat ein paar Medikamente, Rosy ein Pflanzenschutzmittel.
»Dachtest du, Gaunt lässt die Beweise offen rumliegen?« Ralph setzt sich an den Esstisch. Es ist der Platz des Hausherrn.
Rosy nimmt auf Emilys Stuhl Platz. »Hier haben sie gesessen, Tag für Tag, jahrelang. Er hat ihr Kaffee serviert, Limonade, warme Milch.«
»Und Milchreis.«
»Manchmal war etwas von dem Zeug in Emilys Mahlzeit, eine kleine Dosis, mehr nicht. Der Mann sah zu, wie das Gift seine Frau nach und nach zerstörte.«
Der Stock in ihrem Rücken stört Rosy. Sie nimmt ihn in die Hand.
»Welch eine Kälte ist nötig, so etwas monatelang durchzuziehen, was für eine Herzlosigkeit? Du vernichtest ein Menschenleben, ganz bewusst. Kein Mitleid, keine Reue, Gaunt machte immer weiter.« Sie betrachtet den silbernen Knauf. »Eines Tages konnte seine Frau nicht mehr richtig laufen, hatte Gleichgewichtsprobleme, sie ging am Stock. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie ihrem wunderbaren Edward zur Last fällt. Sie muss es gehasst haben, auf dieses Ding angewiesen zu sein.« Hart pocht Rosy auf den Boden.
»Und sie hält auch jetzt noch zu ihm. Wenn das unter bedingungslose Liebe läuft, kann ich darauf verzichten.«
Rosy dreht den schwarz lackierten Holzstab zwischen den Fingern. »Der Stock ihres Vaters. Der Mann, der Emily vorwarf, dass sie sich für Edward aufgibt. Sie wäre gern gereist, wollte Archäologie studieren. Für die Ehe mit Edward hat sie sich alles versagt.«
»Und jetzt gibt sie sich wieder auf«, sagt Ralph, »durch ihr Schweigen.«
Sie starren in das stille Haus.
»Nein.« Mit einem Ruck kommt Rosy hoch. »Das lasse ich nicht zu.« Sie packt den Stock mit beiden Händen. »Wir hindern sie daran. Wie spät ist es?«
»Gleich halb neun.« Einäugig beobachtet er, wie Rosemary zum Telefon greift.
Es ist Nacht. Belebte Stille herrscht in dem großen Betrieb, der Menschen heilen, ihr Leid erträglich machen soll. Da sind die langen Korridore in den unterschiedlichen Farben, die Haltegriffe, die Hinweisschilder, die Behindertentoiletten.
Durch den lindgrünen Korridor bewegen sich die Polizisten auf das Zimmer zu, in dem sie die Wahrheit erwarten. Man wird sie ihnen nicht freiwillig sagen, erst muss ein Damm brechen, ein Relais fallen. Vor dem Zimmer bleiben sie stehen. Rosy betrachtet den kahlen Schädel vor sich. Einem pickenden Vogelkopf ähnlich, hebt und senkt er sich. Sie gibt Ralph ein Zeichen. Er tritt als Erster ein.
Neigt Rosemary zu drastischen Ermittlungsmethoden? Geht sie zu weit? Strapaziert sie ihren Einfluss als ranghohe Polizeibeamtin? Trotz der späten Stunde hat sie mit dem Chefarzt der Pflegeeinrichtung gesprochen, in der Emilys Vater untergebracht ist. Ein gutes Heim, ein teures, das dem alten Mann einen würdigen Lebensausklang bietet. Der Leiter stimmte Rosys Bitte unter der Auflage zu, dass der alte Mann vor 23.00 Uhr zurück sein muss.
Emily Gaunt liegt im Bett und starrt zum TV-Gerät, dessen Bilder lautlos zucken. Zwei Finger ihrer linken Hand schaben am Daumen der rechten Hand, unaufhörlich.
»Guten Abend, Mrs Gaunt.«
Langsam wendet sie sich um, als sei es einerlei, wer eintritt.
Durch den Kopfverband erkennt sie Ralph nicht gleich.
»Ich bin Sergeant Bellamy.«
»Sergeant?« Ihr Blick verdüstert sich. »Polizei zu Mittag, Polizei am Abend? Was wollen Sie jetzt schon wieder von mir?«
»Ich habe Besuch für Sie.« Ralph geht näher.
Die Kranke zeigt auf seinen vermummten Kopf. »Was ist passiert?«
Ralph greift zu einer Notlüge. Es geht nicht darum, dass Emilys Mann ihn niedergeschlagen hat. Es geht um das innere Gefängnis, in dem diese Frau sich verbarrikadiert. »Ein Arbeitsunfall, halb so schlimm.«
»Wo ist Ihre Chefin?«
»Darf sie den Besuch hereinbringen?«
Keine Neugier, kein Interesse. Mrs Gaunt hebt den Blick zu den stummen Bildern. Ralph greift zur Fernbedienung und schaltet ab. Ein Geräusch vor der Tür. Inspector Daybell schiebt einen Rollstuhl. Zwielicht im Zimmer, nur eine Lampe brennt, beleuchtet auch den Bettrand. Die Beine des Mannes im Rollstuhl tauchen in das Licht. Auf seinen Knien liegt ein schwarzer Stock. Der Knauf ist aus getriebenem Silber und läuft in eine Hundeschnauze aus. Die Hand des Mannes umfasst den Knauf. Ein Griff wie eine Erinnerung. Er hat den Stock oft benutzt.
Die Frau im Krankenbett erschrickt, weniger über den Besucher als über das Ding in seiner Hand. Sie betrachtet die sanften Züge des alten Menschen, seine freundlichen Augen. Der scharfe Rand auf seiner Stirn lässt darauf schließen, dass er im Freien eine Mütze trägt.
»Hallo, Papa. Was machst du denn hier?«
Er antwortet nicht, aber sein Blick verrät, er kennt die Stimme.
Fragend schaut Mrs Gaunt zur Kommissarin. »Warum bringen Sie ihn her?«
Rosy beugt sich über den nickenden Kopf des Mannes. »Sie haben Ihrem Vater viel zu erzählen. Das sagten Sie zu mir. Sie fürchten, er versteht Sie nicht mehr. Glauben Sie mir, Mrs Gaunt, Ihr Vater versteht Sie ganz genau.«
Nach einer Pause ergreift Emily die geschrumpfte Männerhand. »Hast du deinen Stock wieder, Papa?« Bei der Berührung des Silberknaufes erstarrt sie. Ein Schluchzen bricht aus ihr hervor.
»Ihr Vater schärfte Ihnen ein, sich niemals aufzugeben, Emily. Sagen Sie ihm, was Ihnen auf der Seele brennt. Ich bitte Sie. Tun Sie es für sich selbst.«
Die Tränen laufen über Mrs Gaunts Wangen, suchen ihren Weg in den Falten des eingefallenen Gesichts.
»Sie decken einen zweifachen Mörder«, fährt Rosy fort. »Den Mann, der seine Geliebte erschlug. Der Ihre Freundin Harriet in die Tiefe stürzte. Den Mann, der Sie vergiftet hat.«
»Es stimmt nicht«, murmelt die Kranke. »Es stimmt so nicht.«
Ralph will etwas erwidern. Rosy gibt ihm zu verstehen, er soll sich gedulden.
Der alte Mann wird unruhig. Sein Kopf nickt schneller. Mühsam bewegen sich seine Lippen. Er ringt mit einem Wort.
»Todd – Tod – dy.«
»So nannte er mich als kleines Mädchen«, flüstert Emily. »Toddy und Daddy gehen in die Stadt.« Mit beiden Händen streicht sie das Haar zurück. Ihre Züge straffen sich. »Edward sagte, er wollte unsere Ehe retten. Dass er es für uns getan hat. Es war ein Unfall, sagte er.«
Über dem Rollstuhl richtet Rosy sich auf. »Was genau ist Dienstagnacht passiert?«
»Abends hatte er das Seminar mit der gesamten Gruppe. Danach kommt er meistens heim.«
»Aber nicht an diesem Dienstag.«
»Er rief mich an. Die Studenten hätten ihn zum Bier eingeladen. Es würde später werden.«
»Wann kam er tatsächlich nach Hause?«
»Zwanzig Minuten vor zwölf.«
»Wieso wissen Sie das so genau?«
»Weil ich nicht einschlafen kann, wenn er nicht da ist. Ich schaue ständig auf die Uhr. Endlich fuhr das Auto auf den Parkplatz. Er kam herein, in einem schrecklichen Zustand. Er wirkte abgehetzt.«
Rosy stützt sich auf die Rollstuhlgriffe. »Abgehetzt?«
»Er rechnete damit, dass die Polizei jederzeit zu uns kommt. Er erzählte von einem fürchterlichen Unfall, bei dem Miss Perry zu Tode gekommen ist.«
»Was sagte Ihr Mann, weshalb er Gwendolyn getroffen hat?«
»Angeblich ließ sie ihn nicht in Ruhe. Sie liebte ihn noch und wollte nicht wahrhaben, dass es aus ist.«
»Und das glaubten Sie ihm?«
»Anfangs ja.«
»Hat er jemals die Scheidung von Ihnen verlangt?«
Mrs Gaunt senkt den Blick. »Ich habe Edward gedroht, mich umzubringen, falls er mich verlässt.«
»Da haben Sie ihn wohl auf eine Idee gebracht«, sagt Ralph in die Stille.
»Dienstagabend hat Miss Perry Ihrem Mann eröffnet, dass es vorbei ist. Sie hatte sich in jemand anderen verliebt und beendete die Affäre. Was hat er Ihnen erzählt, wie es passiert ist?«
»Sie waren in einem Lokal außerhalb von Cheltenham.«
»Wo niemand sie kannte.«
»Edward wollte Gwendolyn hinterher nach Hause bringen.«
»Sie waren mit seinem Auto unterwegs?«
»Ja. Nicht weit von Gwens Wohnung kam es zu einem Streit. Sie sprang aus dem Auto. Edward folgte ihr. Sie rannte ins Labyrinth, wahrscheinlich um es auf der anderen Seite wieder zu verlassen. Beim Denkmal holte er sie ein. Ihre Auseinandersetzung wurde heftiger. Er verlor die Nerven und hat zugeschlagen.«
»Warum hat Edward Gwendolyn nicht einfach gehen lassen? Warum ist er ihr ins Labyrinth gefolgt, wenn er sie angeblich loswerden wollte?«
»Solche Überlegungen kamen mir erst später. Wir waren fieberhaft damit beschäftigt, uns etwas auszudenken, wie wir den Abend verbracht haben könnten.«
»Rechnete er denn mit der sofortigen Verfolgung durch die Polizei? Er hatte die Leiche in eine Baugrube geworfen. Es war unwahrscheinlich, dass jemand sie vor dem Morgen finden würde.«
»Wegen Harriet.« Emily presst die Lippen aufeinander.
»Mrs Lancaster hat Ihren Mann beim Labyrinth gesehen?«
»Ja.«
»Wo genau?«
»Er wollte Gwendolyns Leiche zu seinem Auto tragen. Er wollte sie …«
»Loswerden.«
»Wahrscheinlich. Als er sich mit dem Körper dem Ausgang näherte, hörte er Schritte. In seiner Panik entledigte er sich der Leiche am nächstmöglichen Ort.«
»In der Baugrube.«
»Er ließ sie fallen und lief weiter. An der Ecke begegnete ihm Harriet. Ausgerechnet Harriet!«
»War Mrs Lancaster auf der Suche nach Gwendolyn?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie reagierte er auf die Begegnung?«
»Wie Edward eben ist – ruhig und souverän. Was für ein Zufall, hat er gesagt, zwei einsame Nachtschwärmer. Da Harriet sein Auto gesehen hatte, bot er ihr an, sie nach Hause zu bringen.«
»Ziemlich kaltschnäuzig«, sagt Ralph.
»Nahm sie sein Angebot an?«
»Sie war überrascht, weil Edward und sie eigentlich nicht miteinander sprechen. Aber sie ließ sich von ihm heimbringen.«
»Darum glaubte er, die Polizei würde nach ihm suchen. Sobald man den Mord entdecken würde, wäre klar, dass Mrs Lancaster sich an ihre nächtliche Begegnung erinnern wird. Tat sie das?«
Emily seufzt. »Sie rief mich an.«
»Wann?«
»Am nächsten Morgen. Gleich nachdem sie von Miss Perrys Tod erfahren hatte.«
Rosy setzt sich an den unteren Bettrand. »Ihr Mann hatte einen Mord begangen. Dass Sie als Ehefrau ihn nicht verraten wollten, mag verständlich sein. Aber weshalb hat Mrs Lancaster geschwiegen?«
»Weil ich sie darum bat«, antwortet die Kranke. »Harriet und ich kennen uns, seit wir kleine Mädchen waren. Ich sagte ihr, Edward sei es nicht gewesen. Ich beschwor sie abzuwarten, welche Spuren die Polizei finden würde. Es war schwer, sie zu überzeugen, aber schließlich ist es mir gelungen.«
»Nicht allzu lange«, wirft Ralph ein.
Rosy betrachtet den alten Mann. Sein Kopf sinkt allmählich zur Seite. Er ist müde. »Die verzweifelte Situation, in der Edward sich befand, hat sie einander nahegebracht, nicht wahr? Seine Panik, seine Hilflosigkeit, die Tatsache, dass er Sie brauchte.«
Mrs Gaunt flüstert. »Nach und nach sagte er mir alles. Er log nicht mehr. Er gestand mir jedes Detail.«
»Hat er Miss Perrys Mobiltelefon nach der Tat an sich genommen?«, fragt Ralph.
Sie nickt. »Edward hat es verbrannt.«
»Erwähnte er Miss Perrys Verlobten?«
»Nein.«
»Gestand er Ihnen auch, womit er Gwendolyn erschlagen hat?«
Erst langsam, dann heftiger schüttelt Mrs Gaunt den Kopf. Sie senkt den Blick auf den Schoß ihres Vaters.
»Sie hatten die Tatwaffe die ganze Zeit vor Augen, Inspector.«
Rosy folgt dem Blick. »Der Stock –?« Sie fasst sich ins Haar.
»Dieses Ding?«, fragt Ralph zu laut. Der Kopf des Vaters zuckt hoch. »Weshalb hatte Edward Ihren Stock dabei?«
»Der Griff war locker. Ich bat Edward, ihn
reparieren zu lassen. Ein Antiquitätenschreiner hat das
übernommen. Am Dienstag holte Edward den Stock aus der Werkstatt.
Er lag im Wagen. Gwendolyn sprang aus dem Auto. In seiner Wut, in
der Verzweiflung riss Edward den Stock an sich. Er rannte ihr
nach.«
Rosy betrachtet die silberne Schnauze des Hundekopfes. »Ein scharfer, harter Gegenstand, der imstande ist, das Rückenmark zu durchtrennen.«
Ralph bückt sich und will den Stock aus den Fingern des Schlafenden lösen.
»Lass nur«, sagt Rosy.
Mrs Gaunt schlägt die Hände vors Gesicht. »Er hat mich gezwungen, ihn weiter zu benutzen. Als ob nichts gewesen wäre!«
»Gezwungen?«
»Es tut mir leid, Daddy! Es tut mir so leid.«
Rosy gibt ihr einen Moment, sich zu beruhigen. »Auch bei Ihrer Freundin war es Mord, nicht wahr? Nicht wahr, Mrs Gaunt? Wie ist Edward vorgegangen?«
Die bleiche Frau wirft einen langen Blick auf das Gesicht des Vaters. »Sie haben mich gefragt, weshalb ich einen zweifachen Mörder decke.«
Rosy sucht in den Augen der anderen. »Wie lautet die Antwort, Mrs Gaunt?«