Das war ein faszinierendes Mädchen.« Der Vermieter, Mr Hobbs, hat sich für den Besuch der Polizei ein Jackett übergezogen.
»Miss Perry war fünfundzwanzig«, sagt Rosy. »Sie war kein Mädchen mehr.«
»Nein, nein, und doch, eigentlich –« Er zeigt zur Treppe in den ersten Stock, als ob die Tote gleich herunterkommen würde. »Wenn ich eine Fee aus dem Märchen beschreiben müsste, fiele mir Gwendolyn ein.«
»Eine Fee.« Rosy sieht sich im Haus des Witwers um. Die Einrichtung lässt nicht auf einen Romantiker schließen.
»Miss Perrys Mutter lebt in Birmingham.« Ralph schlägt sein Notizbuch auf. »Wissen Sie, wieso ihre Tochter hierhergezogen ist?«
Mit kleinen, unruhigen Schritten geht Mr Hobbs zum Wohnzimmerschrank. »Sie hat es mir erzählt. Ihre Mom hat Miss Perry allein großgezogen. Vor ein paar Jahren lernte die Mutter einen Mann kennen, der es ernst mit ihr meinte. Da fand Gwendolyn es an der Zeit, das heimatliche Nest zu verlassen.« Er öffnet die Glastür. »Sie auch?« Er präsentiert den Polizisten eine Flasche Sherry. »Es ist noch früh, ich weiß. Aber ich muss jetzt. Ich bin sehr … Das war doch eine Nachricht. Gestern noch das blühende Leben, und heute –«
Rosy lehnt das Angebot ab, Ralph wäre nicht abgeneigt. »Warum zog Miss Perry so weit weg von Birmingham?«
»Wegen der Universität natürlich.« Hobbs gießt ein. »Cheltenham, sie studiert in Cheltenham.«
Rosys Blick wandert zu Ralph. »Ich dachte, sie ist Kindergärtnerin.«
»Das sagt der Computer. Das Studienregister habe ich noch nicht gecheckt.«
»Halbtags.« Hobbs trinkt, leckt sich die Lippen. »Sie arbeitete halbtags bei den Toddlers, um sich das Studium zu finanzieren.«
»Was studierte sie?«
»Mehrere Fächer, das weiß ich nicht so genau.«
»Cheltenham? Das heißt also in Francis Close Hall?«
Hobbs nickt.
»Das ist eine Fahrt von zwanzig Minuten. Hat Miss Perry ein Auto?«
»Nein, sie fuhr mit dem Bus. Abends hat manchmal jemand sie heimgebracht. In den Kindergarten ging sie zu Fuß.« Er gießt das Glas noch einmal halb voll.
Ralph wendet sich zur Treppe. »Wenn Miss Perry ausging oder heimkam, konnten Sie das hier unten hören?«
Hobbs tritt vor den Kamin, nimmt das Bild einer Frau mit wehendem Kopftuch vom Sims und bringt es der Kommissarin. »Ethel sagte lange vor ihrem Tod, wenn sie einmal nicht mehr ist, soll ich den ersten Stock vermieten. Aber ich darf nicht zulassen, dass fremde Leute in unserem Haus ein und aus gehen.«
Rosy betrachtet das energische Gesicht auf dem Foto. »Haben Sie Ethels Rat befolgt?«
»Ja, Detective. Ich ließ einen separaten Eingang bauen. Man erreicht ihn nur über die Außentreppe.«
»Haben Sie denn nun mitgekriegt, wann Miss Perry gestern heimkam, oder nicht?« Ralph tritt näher.
Bevor der Sergeant einen Blick auf das Foto werfen kann, trägt Hobbs es an seinen angestammten Platz zurück. »Gestern war Dienstag. Dienstags ist sie in der Uni. Da wird es später.«
»Wie spät?«
»Meistens geht sie nach der Vorlesung noch aus.«
»Mit wem?«
»Da habe ich nun wirklich nicht die geringste Ahnung.« Er wischt sich einen Schweißtropfen von der Schläfe. »Ich habe nichts gehört. Ich weiß nicht, wann sie nach Hause kam.«
»Gehen Sie so früh zu Bett?«
»Nein, aber meistens habe ich beim Fernsehen den Kopfhörer auf.«
»Sie sagten, Miss Perry wurde manchmal heimgebracht. Bekam sie auch Besuch?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Keine Freundin? Hat ihre Mutter sie nie besucht?«
»Miss Perry hatte keine Freunde im üblichen Sinn.« Hobbs stellt sein Glas ab. Seine Wangen haben einen rosigen Glanz bekommen. »Sie hatte Verehrer. Sie war beliebt, begehrt. Sie war eine Fee.«
Ralph wirft einen Blick auf die halb leere Sherryflasche. »Wurde sie immer von der gleichen Person heimgebracht?«
»Sergeant, ich habe nicht die Angewohnheit, hinter meiner Mieterin herzuspionieren«, antwortet Hobbs mit wachsender Erregung.
»Sie könnten gesehen haben, ob es das gleiche Auto war.«
»Es gab eine Menge Leute, mit denen Miss Perry verkehrte. Ich habe mich nicht weiter darum gekümmert. Ich sage lediglich, dass sie eine ungewöhnliche junge Frau war.«
Rosy bedeutet Ralph, es fürs Erste damit bewenden zu lassen. »Dürfen wir jetzt Miss Perrys Zimmer sehen?«
Der alte Mann wirft einen Blick zum Kamin, als wollte er bei seiner Frau erst die Erlaubnis einholen. »Ich gehe praktisch nie dort hinauf.«
Auf dem oberen Absatz wurde eine neue Wand samt Tür eingebaut. Hobbs schließt auf. Hier ist es sauber, still, der Teppichboden ist dick, man hört die Schritte kaum.
»Gruselig ist das«, murmelt er. »Ein Mensch verschwindet. Gestern war sie noch da, jetzt betreten wir die Räume einer Toten.«
Das Wohnzimmer ist winzig. Eine Couch mit Tisch, ein Fernseher, wenige persönliche Gegenstände.
»Hatte Miss Perry einen Computer?«
»Weshalb?«
»Weil wir dann Einblick gewinnen könnten, mit wem sie verkehrt hat.«
»Sie meinen Internet? Ich habe kein WLAN hier. Miss Perry sagte, das braucht sie nicht. Sie hatte so ein Ding.«
»Ein Handy?«, fragt Ralph. »Wir haben kein Handy bei ihr gefunden.«
»Aber sie hatte eines, das weiß ich. Eines von diesen ganz modernen Dingern.«
Rosy schaut aus dem Fenster. Eine Eisentreppe führt von draußen hoch und endet im Flur. Menschen haben Bücher auf den Regalen oder DVD-Boxen. Manche bewahren ihre Musik sichtbar auf, als ob sie gute Freunde um sich scharen. Bei manchen liegt ein Tagebuch auf dem Nachttisch, Fotografien an den Wänden erinnern an lieb gewordene Begebenheiten. Bei Miss Perry steht ein Regal, die wenigen Bücher sind alt und abgelesen, oder sie stecken noch in der Klarsichthülle. Keine Lieblingsfilme. Keine CD-Hüllen. Sie könnte Musik auf ihr Smartphone geladen haben, aber es gibt nicht einmal Lautsprecher.
Rosy geht ins Schlafzimmer. Die Wände sind fast kahl. Das Plakat einer Kunstausstellung von Chagall wirkt nicht liebevoll, eher zufällig ausgewählt. Statt Fotos, Zeichnungen, Reiseerinnerungen steht ein riesiger Spiegel gegen die Wand gelehnt. So schräg, dass der Betrachter sich nicht frontal sieht, sondern fast aus der Froschperspektive. Man erscheint größer vor diesem Spiegel, bedeutender. Das Bett ist unberührt, die Vorhänge sind halb zugezogen.
»Sie sehen ja gar nichts.« Mr Hobbs will Licht machen.
»Bitte nichts anfassen«, sagt Ralph. »Unser technisches Team kommt, sobald sie draußen fertig sind.«
Hobbs zieht die Hand vom Lichtschalter zurück.
Rosy bemerkt sich selbst im Spiegel. Mit dieser Frisur hat sie sich auf die Straße getraut? Das sind keine Locken, das sind rotbraune Gewitterwolken. Mutmaßt nicht jeder, der sie sieht, dass diese Frau gerade ihr sexuelles Vergnügen hatte? Die Bluse ist falsch geknöpft, die Jeans hängt an den Hüften. Zum Vorteil einer möglichen Befruchtung will Rosy den Gürtel nicht zu eng ziehen. Darf die Leiterin des Dezernats für Kapitalverbrechen so an die Öffentlichkeit gehen? Ohne Aussicht auf Verbesserung fährt sie sich durchs Haar.
»Kannte Miss Perry das alte Labyrinth?«
»Es war einer ihrer Lieblingsplätze«, antwortet Hobbs. »Wenn sie Zeit hatte, ging sie hin und setzte sich unter die Statue von Lady Caroline.«
Die drei verlassen die Räume, die so wenig Rückschlüsse auf ihre Bewohnerin zulassen. Sollten diese Zimmer ein Spiegel der Seele von Miss Perry sein, muss Rosy Nüchternheit und eine merkwürdige Ichbezogenheit feststellen.
»Danke, Mr Hobbs.« Die Polizisten verabschieden sich.
Auf dem Weg zum Auto fragt Rosemary: »Welchen Eindruck hat er auf dich gemacht?«
»Ich glaube, er hatte eine heimliche Schwäche für die Tote. An einsamen Abenden steigt Mr Hobbs gern mal in den Branntwein. Wahrscheinlich kann er wirklich nicht sagen, ob sie vor ihrem Tod noch einmal heimkam.«
Den Schlüssel in der Hand, bleibt Rosy stehen. »Diese Frau war stark auf sich bezogen. Es scheint, als ob sie ihre Außenwelt nicht weiter an sich heranließ als bis zu dieser Eisentreppe.« Sie öffnet die Zentralverriegelung.
»Francis Close Hall?« Ralph steigt ein. »Woher weißt du, wo die Uni in Cheltenham ihren Campus hat?«
»Arthur stöbert dort manchmal in der Bibliothek herum.«
»Bist du dir sicher, dass er nicht unter den blutjungen Studentinnen rumstöbert?«
»Man kann nie wissen.« Rosy lächelt und erinnert sich an das Glück, das der frühe Morgen ihr bescherte.
Die Bibliothek ist ein Ort, den ich gern besuche. Ich sollte öfter von dem Angebot Gebrauch machen. Aber wie jeder andere bin auch ich bequem geworden. Wenn ich etwas wissen will, gehe ich online und finde die Antwort in Sekundenschnelle. Bei komplizierten Fragen, die altes Wissen voraussetzen, ist die ehrwürdige Bibliothek von Cheltenham jedoch genau der rechte Ort.
Bei der Bekämpfung der Schrotschusskrankheit, die durch den Pilz Stigmina carpophila ausgelöst wird, empfiehlt das Internet zum Beispiel, ein Kupferpräparat zu spritzen. Das ist rigoros, schützt aber nicht vor neuerlichem Befall. Meine Pfirsichbäume erkrankten vor Jahren so schlimm, dass ich den Wuchs um die Hälfte zurückschneiden musste. Durch meine Suche in der Bibliothek habe ich erfahren, dass man dem Pilz am sichersten zu Leibe rückt, indem man rund um den Baum Knoblauch pflanzt. Der Stigmina carpophila verträgt die Ausdünstungen nicht. Düngt man dann noch mit Tonerde und Netzschwefel, ist es um den Pilz geschehen. Entdeckt habe ich das Geheimrezept in einem Buch, das sich Dr. Merediaths Standardwerk nennt. Es erschien 1834 und ist seit Jahrzehnten vergriffen.
Mein Garten. Es gäbe mehr über ihn zu berichten, als zwischen die Deckel eines Buches passt. Der Garten ist Sinnbild des Kosmos auf wenigen Quadratmetern. Das Zusammenspiel von Pflanzen und Insekten, von Klima und Mensch ist ein Thriller, der Rosemarys Fälle simpel erscheinen lässt. Hier brechen Kämpfe um den besten Platz an der Sonne aus. Das Wasser entscheidet, welche Spezies überlebt, welche die anderen verdrängt. Dürre zwingt zu Genügsamkeit, Überfluss trägt manchmal zur Vernichtung bei. Wer die Sprache des Gartens spricht, wird ein Freund der Stille. Wer die Stimmen des Gartens versteht, zieht sich vor dem Geplärr der Menschen zurück.
Mein Garten wurde zu einer Zeit angelegt, als der 12. Earl von Sutherly mit König William III. gegen die Jakobiten in Schottland kämpfte. Mein Garten überlebte die großen Kriege, mehrere Heuschreckenplagen sowie die Kartoffelfäule 1846. Auf der mittleren Terrasse des Schlosses bildet er ein Areal von 50 mal 60 Yards. Die Erde wurde vor Jahrhunderten händisch heraufgeschafft.
Mein Garten ist halbschattig. Morgens taucht der Burgschatten ihn in blaugraue Farben. Gegen Mittag beginnt die Sonne ihn zu erobern. Sie kitzelt die Stock- und Heckenrosen, die am meisten Wärme brauchen, sie arbeitet sich durch die Irisbeete und den Phlox, erreicht die Königskerzen und den Rittersporn, bis das Licht zuletzt all meine Bäume und Sträucher durchstrahlt, das Topiarium und den mittelalterlichen Blumentempel, der erst im 18. Jahrhundert errichtet wurde. Es ist ein kleiner Garten, verglichen mit dem, was englische Gartenkunst an weitläufiger Pracht hervorgebracht hat. Er erstreckt sich auf dem einzigen Grundstück, das mir verblieben ist. Vielleicht ist der Garten deshalb mehr als ein Aufenthaltsort für mich. Er ist mein Körper, meine Gedanken und Träume, in ihm laufen meine Nervenbahnen, fließt mein Blut.
Der April bietet noch kein Freilandgemüse, doch aus dem Glashaus in der westlichen Ecke werde ich Rhabarber und die ersten Frühlingszwiebel holen, bevor Rosy von der Arbeit kommt. Oft ist es schon dunkel, wenn der Kombi die Serpentinen hochklettert. Manchmal kommt sie so spät, dass ich das Essen warm gestellt habe. Auch wenn ich schon im Bett liege, lasse ich es mir nicht nehmen und laufe im Pyjama in die Küche. Wir sitzen beisammen, sie isst, ich mag nicht viel reden und schaue ihr zu. Später schlüpfe ich ins Bett und warte, bis im Bad das Licht ausgeht. Im Dunklen liegen wir beieinander. Es fällt Rosy schwer, die Gedanken abzuschalten. Irgendwann geht ihr Atem ruhiger, ihre Hand bleibt in meiner. Manchmal liegen wir noch so, wenn ich nachts das erste Mal aufstehe.