Die Wolken verziehen sich nach Nordosten. Die Sonne blinkt hervor, verschwindet, taucht wieder auf und lässt Millionen Wassertropfen auf den Blüten und Blättern funkeln. Nach dem Regen wirken die Pflanzen wie neu erwacht. Ich habe eine Plastiktüte über die feuchte Holzbank gebreitet, sitze still und lasse das Schauspiel auf mich wirken. Über Sprocklards Fall leuchtet es blau, bald wird sich die Sonne endgültig durchsetzen.
Im Lorbeer war ich nicht. Ich brauche Zeit, will überlegen. Ich könnte eine Nährlösung ansetzen, die den Sträuchern von der Wurzel her Kraft gibt. Ich könnte die Blätter mit heißem Wasser abspritzen, einige Läuse würden bestimmt fortgespült werden. Ich könnte Leimringe an den Stämmen anbringen, die den Schädling hindern hochzuklettern. Es gibt viele Methoden, eine Pflanze zu retten, die meisten kann ich aufzählen, ohne irgendwo nachschlagen zu müssen. Keine Mühe würde ich scheuen, hätte ich die Zuversicht, dass der Versuch fruchtet. Aber mein Lorbeergarten ist bereits am Absterben. Die Pest ist zu weit fortgeschritten. Als letzte und traurigste Lösung könnte ich dem Parasiten die Nahrung entziehen. Wo kein Lorbeer ist, gibt es keinen Lorbeerkiller. Ins Feuer damit. Die Zweige abhauen, übereinanderschichten und in Brand setzen. In den Flammen überleben weder Laus noch Larve, das Feuer tötet die gesamte Brut. Dazu müsste ich den Lorbeer fällen. Jeden einzelnen Strauch. Ich falte die Hände im Schoß. Soll ich zur Axt greifen? Eine lange, quälende Arbeit. Ist sie vollbracht, läge eine kahle Fläche vor mir, Stümpfe ragten daraus hervor. Die Erde würde ich mit Vertilgungsmittel kontaminieren, bis zum Herbst wäre jedes Leben im Boden abgestorben. Der Winter übernimmt den Rest. Zum Frühlingsbeginn würde ich die Wurzelballen aus dem Boden holen, das Gelände umpflügen und junge Pflanzen setzen.
In der Theorie klingt der Plan einfach. In Wirklichkeit stünden mir Tage bevor, in denen ich fällen muss, was ich seit Jahren pflege. Mein Vater liebte unser kleines Formentheater. Die Buckelwelt aus kugelrunden Sträuchern, die Zipfelburg, eine viereckig geschnittene Hecke, an deren Ecken vier spitze Türme aufragen. Zwei Sträucherreihen, hüfthoch zurückgeschnitten, säumen das Rosarium, je eine Farbe pro Einfassung.
Mein Vater hat fortgeführt, was sein Vater ihm hinterließ. Manche Sträucher dürften die Ableger der ursprünglichen Büsche aus elisabethanischen Tagen sein und bereits seit über hundert Jahren sprießen. Das Zentrum des Königslorbeers bildet die Spirale mit dem Kiesweg, alle Gebilde laufen auf sie zu. Eigentlich bestünde meine Arbeit um diese Jahreszeit darin, den Lorbeer in die rechte Form zu trimmen, die geraden Fronten mit der Motorschere, das Übrige von Hand. Stattdessen soll ich fällen?
Was würde Rosy tun? Warten, wie der Frühling sich entwickelt, die Laus beobachten, lernen, was sie mag und was sie irritiert. Rosy würde die Schwachstellen der Laus erkunden und folgerichtig handeln. So macht sie es meistens. Sie vertraut der Macht der Geduld. Ich halte mich für keinen sprunghaften, impulsiven Menschen, aber soll ich zusehen, wie Teile meines Gartens bei lebendigem Leib gefressen werden? Jeden Tag neue Zweige abschneiden, deren Blätter nur noch Gerippe sind, jeden Tag ein wenig mehr kappen, Amputation auf Raten, das kann ich nicht.
Mit einem Seufzer stehe ich auf. Ich ertrage es kaum anzusehen, was um mich blüht und Knospen treibt. Ich muss exterminieren. Im Wintergarten stehen die Geräte. Seine Streben und Rahmen, selbst die Tür sind aus Gusseisen. Das Glas ist dünn, gewellt vom Alter, beim Eintreten klirren die Scheiben zur Begrüßung. Das ganze Jahr über ist es hier kalt. Wer immer den Wintergarten errichtete, hat sich um den Sonnenstand auf Sutherly nicht gekümmert. Nichts treibt hier, bis auf Moos in den Ecken, wo das Wasser eindringt. Ich bewahre die Geräte in einem Verschlag auf, um sie vor Feuchtigkeit zu schützen. Wie das Besteck eines Chirurgen liegen sie vor mir. Drei Äxte, eine Machete für kleine Äste, das Schabeisen entfernt Rinde. Der elektrische Balkenschneider zum Heckenstutzen, die Sägen, die Zangen und die kleinen Scheren.
Ich zögere, die Axt zu nehmen. Sie arbeitet ungenau. Viele Wunden müsste ich schlagen, bevor ein einziger Stamm abgetrennt wäre. Der Lorbeer ist im Austrieb, bringt seine Säfte in die äußersten Verästelungen. Die hellen Scharten, aus denen Pflanzensaft tropft, die frischen Holzsplitter mag ich mir nicht ausmalen. Auch das Geräusch will ich nicht hören, wenn ich aushole, zuschlage, hacke, breche. Von der Schlossmauer würde es widerhallen.
Lieber maschinelle Vernichtung, die radikale Lösung, Lärm, der betäubt, nicht schmerzt. Ich nehme die Kettensäge mit dem kurzen Schwert, lege sie auf die Seite, schraube beide Tanks auf und fülle Öl nach. Schmierig läuft es an der Seite hinunter. Der Benzintank ist fast voll, selten benutze ich die Maschine hier oben. Nie vergesse ich nach einem Arbeitsgang, die Kettenglieder frisch zu schleifen. Trotzdem spanne ich das Schwert in den Schraubstock und bearbeite die Kette mit der feinen Feile. Zehn Minuten, eine volle Umdrehung, die Zeit gönne ich mir, bevor ich bewaffnet ins Freie trete. Die Maschine ist so scharf, dass sie jeden Lorbeerstamm in wenigen Sekunden durchtrennen wird. Ein rascher Tod.
Ein Probestart, beim dritten Zug springt der Motor an. Im Herbst hört man das Geräusch überall, dann wird gefällt, gestutzt und ausgeputzt. Im Frühling ist das Kreischen der Säge die Ausnahme. Der Motor tuckert im Leerlauf. Ich schlüpfe aus den Pantoffeln, ziehe die Schutzhose an, die Schuhe mit den Metallkappen, die Lederhandschuhe, setze den Helm auf.
In meiner Rechten knurrt die Maschine, ich nähere mich dem Lorbeer. Pflanzen spüren Wetteränderungen im Voraus, schließen oder öffnen ihre Blüten, lassen Blätter hängen, bilden Schutzpanzer auf der Windseite. Man mag mich dafür belächeln, aber ich bin überzeugt, der Lorbeer weiß, was ihm bevorsteht.
Noch einmal setze ich die Säge ab, berühre eine Narbe, die sich nach dem letzten Formschnitt bildete, nehme einen Ast und streiche über die dunkelgrüne Oberfläche eines Blattes. Ich drehe den Zweig um, schaue dem Feind ins Angesicht. Kein Wunder ist geschehen, sie sind noch da. Die Kolonie der Läuse, eingesponnen im Wachskokon, frisst und kommt zu neuen Kräften. Ihr Ende ist beschlossen. Ich senke das Drahtvisier des Helmes, packe die Maschine mit beiden Händen, lasse den Motor heulen, die Kette rotiert. Tu es schnell und präzise, denke ich und bücke mich, nähere die jagende Kette dem vordersten Lorbeerstamm.
Trotz der Vibration der Säge spüre ich das feine Zittern an meinem Hinterteil. Mein Finger zuckt zurück, die Eisenzähne haben die Rinde schon gekratzt. Ein heller weißer Schnitt, nicht tief. Ich setze das Werkzeug zu Boden, schüttle die Handschuhe ab, greife unter die Schutzhose und ertaste das Telefon. Es ist Rosy.
»Was machst du gerade?«
»Ich … bin im Garten.« Ich entferne mich ein paar Schritte von der Kettensäge. »Und du?«
»Habe gleich einen Termin. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin.«
»Worauf?«
»Dass mein Mann Grafiker ist.«
»Manchmal, an guten Tagen.«
»Wieso habe ich dich nicht längst gefragt?«
»Tu’s doch jetzt.«
»Wir brauchen diesen Rank. Wir müssen den Mann ausfindig machen. Ich habe das Gefühl, er bringt die Lösung für das Ganze.«
»Wer ist Rank?«
»Der Mann, der wie ein Moos aussieht.«
»Ach, der Moosmann. Weshalb ist der so wichtig?«
»Deine Beobachtung ist wichtig, Arthur. Du scheinst der Einzige zu sein, der Rank gesehen hat. Deshalb bitte ich dich, ihn zu zeichnen.«
»Ich bin kein Porträtist.«
»Du kannst das. Streng dich an. Weißt du noch, wie du meinen Papa mit riesigem Schnauzbart und Hornbrille karikiert hast? Das war er, wie er leibt und lebt.«
»Karikatur – verstehe.«
»Schaffst du das bis heute Abend?«
»Gut, ich mach’s. Wenn du zum Dinner heimkommst. Es gibt Lasagne.«
»Ich komme. Acht Uhr. Zeichnest du?«
»Ich habe den Bleistift schon in der Hand.«
»Bis dann.« Und weg ist sie.
Ich betrachte die gleichmäßig tuckernde Säge. Ein unaufdringliches Werkzeug, bis zu dem Moment, in dem man den Auslöser bedient. Wenn die Zähne rotieren und das Holz mittendurch schneiden.
Nicht mein Holz, denke ich, nicht meinen Lorbeer. Noch nicht. Ich atme angestaute Luft aus. Die Panik ist vorüber, Rosys Anruf war die Rettung. Als ob plötzlich Kirchenglocken geläutet und mich vor der fatalen Tat bewahrt hätten. Einen Baum fällt man nur einmal, danach wächst nichts mehr. Die Hoffnung hat mich wieder, dass etwas nachkommt, dass die Zeit mir eine Lösung schickt. So lange will ich für Rosy zeichnen. Einen Mann wie Moos.
Rosemary steht an den Volvo gelehnt. Ralph vertritt sich auf der Dorfstraße die Beine. Sie sind zu früh. Sie haben geklingelt. Niemand hat bei den Gaunts aufgemacht. Rosy steckt das Handy weg. Eine sanfte Brise, ein Moment zum Verschnaufen.
Der Wagen nähert sich von der Gloucesterseite, ungewöhnlich langsam, wenn man bedenkt, dass die Straße wie ausgestorben daliegt. Der Kleinwagen hält neben dem Volvo. Das Fenster gleitet herunter.
»Guten Tag, Inspector. Habe ich mich verspätet?«
»Hallo, Mrs Gaunt. Wir sind zu früh. Entschuldigen Sie.«
»Nicht so schlimm.« Per Knopfdruck öffnet sie den Kofferraumdeckel. »Ich war einkaufen.«
»Ich helfe Ihnen beim Hineintragen.«
Tüten und Kartons, Gemüse, Brot, Toilettenpapier, Haarshampoo. Rosy durchzuckt der Gedanke, dass sie in ein paar Tagen selbst dran ist, zum Supermarkt zu fahren. Mrs Gaunt braucht lange zum Aussteigen, Rosy erkennt den Grund. Die Frau stützt sich auf ihren Stock. Sie ist blass, wirkt hager, bemerkt Rosys Blick.
»Sie sollten mich so nicht sehen.«
»Weshalb nicht?«
»Niemand zeigt gern, wie gebrechlich er ist.« Mrs Gaunt erreicht das Heck. »Es war einfach zu viel.«
Rosy entdeckt Verletzlichkeit, Furcht, viele Falten in dem noch jungen Gesicht. »Es tut mir leid wegen Ihrer Freundin.« Sie nimmt einen Karton.
Mrs Gaunt presst die Kiefer aufeinander und greift nach einer Tüte. »Wollen wir hineingehen?«
»Ich mache das schon.« Ralph ist angetrabt und packt die restlichen Einkäufe.
Mrs Gaunt verschließt den Wagen per Fernbedienung.
Im Haus zeigt sie den Polizisten die Küche. »Lassen Sie die Sachen einfach stehen.« Sie will weiter ins Wohnzimmer.
»Warum bleiben wir nicht hier?« Rosy hebt den Karton auf die Anrichte.
»Wenn Ihnen das nichts ausmacht.« Die andere hängt den Stock über die Lehne und setzt sich.
»Darf ich fragen, Mrs Gaunt, haben Sie eine Gehbehinderung?«
»Nein. Mich strengt nur alles schneller an als andere.« Die Frau lächelt traurig. »Eigentlich benutze ich den Stock nur zur Sicherheit.«
»Ein schönes altes Stück.«
»Er stammt von meinem Vater.« Gedankenverloren streicht sie über den Knauf aus Silber, der in eine Hundeschnauze ausläuft. »Er war mir auch immer eine Stütze.«
»Wann ist Ihr Vater gestorben?«
»Er lebt.« Ein eigentümlicher Blick. »Aber seine Demenz ist so weit fortgeschritten, dass er mich nur noch in seltenen Momenten erkennt.« Ihre Stirn und Wangen wirken mit einem Mal noch bleicher. »Es gibt viel, was ich Papa noch sagen wollte.« Sie legt die Hand an die Schläfe. »Bitte berichten Sie jetzt von Harriet.«
»Hat Ihr Mann Ihnen erzählt, was passiert ist?«
»Nur dass sie starb. Sie ist gestürzt, nicht wahr?« Ihr ängstlicher Blick.
Rosy nickt. »Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?«
»Erst gestern.«
»Wann?«
»Abends.«
»Worüber haben Sie geredet?« Ralph sortiert Lebensmittel aus, die in den Kühlschrank müssen.
Mrs Gaunt senkt die Lider. »Wir brauchen nicht um den heißen Brei herumzureden, Inspector. Mein Mann hat mir von Ihrer Unterredung erzählt. Sie sprachen über Miss Perry, Sie sprachen über den erotischen Ausflug meines Mannes.«
»Erotischer Ausflug?« Ralph verstaut das Gemüse. »Ist das Ihre Bezeichnung für tolerierten Ehebruch?«
Offen begegnet Mrs Gaunt seinem Blick. »Ja, Mr Bellamy. So spreche ich darüber. Müssen wir erst Ihre moralischen Barrieren überwinden, oder wollen Sie mir konkrete Fragen stellen?«
Insgeheim bewundert Rosy, wie deutlich die blasse Frau Ralphs Attacke pariert. »Sie verstehen bestimmt, dass wir die besondere Abmachung, die Sie und Ihr Mann getroffen haben, genauer beleuchten müssen.«
»Weshalb?«
»Immerhin ist Miss Perry tot.«
»Was hat unsere Abmachung mit ihrem Tod zu tun?«
Rosy wartet auf eine Einladung, sich zu setzen. »Ihr Mann und Miss Perry hatten eine Affäre.«
»Die er mir nicht verheimlicht hat.«
»Ich war der Meinung, erst Mrs Lancaster hätte Sie aufgeklärt, dass zwischen den beiden etwas läuft.«
»Stimmt. Harriet war in diesem Punkt sehr indiskret. Das habe ich ihr auch vorgeworfen.«
»Sie wussten also bereits vorher von dem Verhältnis?«
»Ich habe es vermutet.«
»Weswegen?«
»Edward und ich vermeiden es, über diese Dinge zu sprechen. Aber wenn plötzlich eine Studentin häufig in seiner Gesellschaft auftaucht, wenn er mich sogar bittet, ihr einen Job zu besorgen, weiß ich Bescheid.«
»Kam das häufig vor?«
Statt einer Antwort sagt Mrs Gaunt: »Entschuldigung, ich vergesse schon wieder, Ihnen etwas anzubieten. Nehmen Sie doch Platz.« Ohne Hilfe ihres Stockes geht sie zum Herd und setzt Wasser auf.
»Hatte Ihr Mann mehrere Affären ähnlich wie die mit Miss Perry?« Rosy setzt sich.
»Das weiß ich nicht.« Mrs Gaunt dreht sich um. »Es ist Teil unserer Abmachung. Ich will nichts wissen.«
Rosemary fährt sich durchs Haar. »Verzeihen Sie, Mrs Gaunt, halten Sie mich für altmodisch, aber ich kann mir diese Abmachung einfach nicht vorstellen. Was haben Sie beispielsweise an Abenden empfunden, wenn Sie wussten, Edward trifft sich mit einer anderen Frau?«
Mrs Gaunt hält sich kerzengerade aufrecht. »Er brauchte das. Und ich habe es ihm gegönnt.«
»Brauchte es? Ist das nicht die übliche Ausrede von Männern, die fremdgehen wollen?«
Ein Blick zwischen den Frauen. »Für mich bedeutet es nicht mehr, als ob er ins Fitnesscenter geht, sich ein bisschen austobt und müde und erleichtert wieder heimkommt.«
»Niemals Eifersucht? Keine peinlichen Szenen, wenn Sie irgendwelche Andenken von Frauen in seiner Wäsche fanden?«
Mrs Gaunt öffnet einen Schrank. »Edward und ich haben einander geschworen zusammenzubleiben. Bis dass der Tod uns scheidet. Das funktioniert nur, wenn man Kompromisse macht. Einschneidende Kompromisse. Tee oder Kaffee?«
»Tee«, antwortet Rosy, bevor Ralph seinen Kaffeewunsch anmelden kann. »Wenn ich es recht verstehe, bedeutete die besondere Nähe zu dieser Geliebten Ihres Mannes also eine Ausnahme?«
»Allerdings.«
»Hat Edward Ihnen gesagt, dass die Affäre zu Ende war?«
»Die Sache mit Miss Perry war für uns abgeschlossen.« Sie kehrt nicht auf direktem Weg zum Tisch zurück. Sie hält sich an der Arbeitsplatte fest.
Rosy beobachtet die zitternden Knöchel, die Anstrengung, die der kurze Gang die Frau kostet. »Gestern telefonierten Sie also mit Ihrer Freundin Harriet. Wer hat wen angerufen?«
»Sie rief mich an.«
»Aus welchem Anlass?«
Mrs Gaunt setzt sich. »Sie war traurig. Sie brauchte jemanden, der ihr zuhörte. Miss Perrys Tod war ein schrecklicher Schlag für sie.«
»Wie würden Sie Mrs Lancasters Beziehung zu ihrer Angestellten beschreiben?«
»Das weiß ich nicht. Ich war nie in der Kita.«
»Wie sprach Harriet von Gwendolyn?« Auf Mrs Gaunts Schweigen wird Rosy deutlicher. »Autoritär, freundschaftlich oder vielleicht liebevoll?«
Langsam hebt Mrs Gaunt den Blick. »Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Auch Edward hat gewisse Andeutungen gemacht.«
»Worüber?«
»Über die verliebte Kindergärtnerin. Er mochte Harriet nicht besonders, daher sein Spott.« Sie schüttelt den Kopf. »Ich habe diesbezüglich nichts zu sagen.«
»Ihre Freundin rief Sie an, um ihren Kummer mit Ihnen zu teilen. Weshalb sollte sie das tun, wenn sie für Gwendolyn nicht etwas Besonderes empfunden hätte?«
»Nennen wir es mütterliche Anteilnahme.« Mrs Gaunt schaut zum Herd, ob das Wasser schon kocht.
»So viel älter als Gwendolyn war Mrs Lancaster nicht. Sie war geschieden, stand allein –«
»Harriet ist tot«, entgegnet Mrs Gaunt scharf. »Sie sind beide tot.« Sie atmet hastiger. »Es ist grauenhaft. So grauenhaft, dass ich nicht darüber nachdenken darf, sonst …«
»Sonst?«
Sie legt die Hand auf ihre Brust. »Wir leben in einer ruhigen, anständigen Gegend. Plötzlich werden zwei Frauen umgebracht. Zwei Frauen, die ich kannte! Mit der einen habe ich gestern noch gesprochen.« Sie saugt die Luft ein, nestelt am obersten Blusenknopf. »Das ist … ein Albtraum.«
»Bitte beruhigen Sie sich.« Ralph tritt an den Tisch.
»Wie soll ich mich …« Speichel läuft aus Mrs Gaunts Mund, tropft auf die Bluse.
»Was haben Sie?«
»Nichts … ein Wasser –« Mit einem erstickten Laut sinkt sie vornüber, ihr Kopf zwischen den Armen.
»Nehmen Sie Medikamente?« Rosy springt auf.
»In … meiner Tasche.«
Ralph ist schneller, schüttet den Inhalt von Mrs Gaunts Handtasche auf den Tisch. Drei Pillendöschen.
»Welche sind es?«
»Die weißen.«
Rosy hält die Packungen ans Licht. Antiarrhythmikum, steht auf der weißen, Tachykardie. »Kammerflimmern«, flüstert sie.
Ralph hat das Wasser, Rosy die Pille. Er zieht Mrs Gaunts Oberkörper hoch. Ihre Stirn, der Hals sind gerötet, sie ringt nach Luft.
»Wie viele?«
Keine Antwort. Umsonst sucht Rosy nach der Packungsbeilage. »Wie viele, Mrs Gaunt?«
Die Augenlider der Frau flattern, ihre Unterlippe hängt schlaff herunter.
»Den Notarzt.« Rosy schiebt ihr eine Tablette in den Mund und nimmt Ralph das Glas ab. »Sag denen, dass die Frau Herzrhythmusstörungen hat.«
Ralph hat sein Telefon zur Hand. Mrs Gaunts Lippen bewegen sich, als ob sie flüsternd mit jemandem spricht.
»Mrs Gaunt – können Sie mich hören, Mrs Gaunt?«