kapitelziffer_23

Er hätte sie aus Trench herausgeholt.«

Rosy bestellt zwei Blätterteigtaschen und ein Trelawny Starkbier. Sie und Ralph stellen sich an den einzig freien Stehtisch. Zu Mittag herrscht bei Cairns Hochbetrieb.

»Die Schar von Gwendolyns Bewunderern musste fürchten, dass das Objekt ihrer Verehrung die Stadt verlässt. Sie würde nicht mehr zur Uni kommen oder im Kindergarten arbeiten, sie würde ihre Wohnung im ersten Stock räumen und Mr Hobbs in seiner Einsamkeit zurücklassen.«

»Ist das Grund genug, jemanden umzubringen?«

»Wenn Gwendolyn das Wichtigste in deinem Leben ist.«

»Wen meinst du damit? Ogilvy, Gaunt?«

»Vielleicht haben wir auch Mr Hobbs zu lange für harmlos gehalten.«

Ralph grinst. »Nicht dein Ernst.«

»Er sagt, er ist im Fernsehsessel eingeschlafen. Er sagt, er habe Mrs Lancaster vor seiner Tür gesehen. Er behauptet, Ogilvy hätte ihn beinahe angefahren. Wir haben außer der Aussage unseres wackeren Zeugen keinen Beweis für all das.«

»Du denkst, Hobbs hat das alles nur erfunden?«

»Er hat sie vergöttert. Wir brauchen stichhaltigere Beweise als die Aussage eines Rentners, der in eine Fünfundzwanzigjährige vernarrt ist.« Rosy wickelt das Besteck aus der Serviette. »Wir müssen uns Hobbs noch einmal vornehmen. Diesmal ohne Samthandschuhe.«

Der Teller wird vor ihr abgestellt.

»Das willst du allein verdrücken?« Ralph legt den Kopf schief.

»Ich sterbe vor Hunger.«

»Und du trinkst Bier?«

»Ich hatte mit Talbot vorhin einen Scotch. Auf einem Bein steht es sich schlecht.«

»Wohl bekomm’s.«

Ralph schneidet sein Sandwich mittendurch. Man hört Rosys unaufdringlichen Klingelton.

Sie führt den ersten Biss zum Mund. »Ausgerechnet.«

Nach drei Wiederholungen hört das Klingeln auf. Rosy kaut. Sie nimmt einen Schluck aus der Flasche. Ralphs aufdringlicher Klingelton. Er greift zum Sandwich.

»Das soll warten.«

»Hm«, macht Rosy. »Wenn sie mich nicht erreichen und dich anrufen – nimm lieber ab.«

Ralph betrachtet das Display. »Es ist Jock.«

»Was kann der wollen?«

Mit spitzen Mayonnaisefingern hält Ralph ihr sein Handy hin. »Frag ihn selbst.«

»Jock? – Natürlich störst du.« Rosy hebt den Blick zu Ralph. »Was heißt das – Gift?« Mit dem Telefon am Ohr winkt sie der Kellnerin. »Wir sind gleich da.«

Sie gibt Ralph das Handy zurück. »Leider musst du im Auto essen.«

»Wieso? Die Pathologie ist um die Ecke.«

»Wir fahren nicht zur Pathologie.« Rosy hat es eilig.

Umständlich packt Ralph sein Brötchen in die Serviette. »Verrätst du es mir, oder muss ich raten?«

»Komm schon. Ich lade dich ein.« Sie läuft der Kellnerin entgegen.

Pflanzen sind Freunde. Die Freundschaft mit ihnen bedeutet Beständigkeit, Stille, lebenslange Verbundenheit. Wie behandelt man einen Freund? So, wie man hofft, selbst behandelt zu werden. Erwarte ich, von einem Freund mit Gift besprüht zu werden? Will ich, dass mein Freund das Beil erhebt und mir den Todesstreich versetzt? Nein. In Zeiten der Not hoffe ich, dass mein Freund mich aufrichtet, mir Lebensmut gibt, dass er meine Feinde bekämpft und mir Kraft gibt, sie selbst zu bekämpfen. Das erwarte ich von einem wahren Freund. Das darf mein Lorbeer von mir erwarten.

Ich hätte die alte Volvo-Batterie längst entsorgen sollen. Genau genommen hätte meine Werkstatt das beim letzten Service erledigen müssen. Aber die Batterie fand ihren Weg zurück aufs Schloss und lagert seither im Wintergarten. Nun soll sie mir noch gute Dienste leisten. Sie zu öffnen ist ein heikles Unterfangen. Ich führe es mit gefütterten Arbeitshandschuhen und Schutzbrille aus. Ein Stemmeisen, ein paar derbe Hammerschläge, und das Innenleben der Batterie liegt vor mir.

»Du bist der geborene Killer«, sage ich zu der öligen Flüssigkeit. Nach außen wirkt sie harmlos. Doch kaum fällt ein Schmutzpartikel hinein, schäumt es, oxidierende Bläschen bilden sich, schon hat sich das Teilchen aufgelöst.

»Warum habe ich deine Hilfe nicht früher in Anspruch genommen?«, frage ich.

Die Säure bleibt stumm.

Behutsam gieße ich die träge Flüssigkeit in den vorbereiteten Glasbehälter. Glas deshalb, weil ich die Vernichtung miterleben will. Der Todeskampf soll sich vor meinen Augen abspielen. Ich brauche die Säure nicht in ihrem hochprozentigen Zustand einzusetzen. Sie könnte jemandem das Fleisch vom Knochen lösen, könnte Gold und Silber zersetzen. Für den Lorbeerkiller ist eine schwache Dosis ausreichend. Ich setze der Säure Wasser zu, bis eine Molarität von 30 Prozent erreicht ist. Mehr als genug für ein Insekt.

Das Problem liegt nicht darin, dass der Schädling nicht zu töten wäre – eine einzelne Heuschrecke zerquetsche ich in meiner Hand. Einem Heuschreckenschwarm jedoch bin ich unterlegen. Mein Killer ist in Legionen angerückt, er hat sich in biblischem Ausmaß vermehrt. Ich stehe einer Übermacht von Hunderttausenden Parasiten gegenüber, vielleicht Millionen. Unablässig frisst der Killer den Boden, auf dem er krabbelt, den eigenen Untergrund. Bis nichts mehr übrig ist, worauf er laufen könnte. Dann stürzt er auf das nächste Blatt und macht dort weiter.

Vorsichtig trage ich den Glasbehälter ins Freie. Ich bin in feste Stiefel geschlüpft, in Pantoffeln zieht man nicht in den Kampf. Außerdem hat sich der zweite Plastikschuh nicht wiedergefunden.

Es ist ein langer Weg vom Wintergarten bis zum Buchentor, meine Hände in den Schutzhandschuhen schwitzen. Wie eine Monstranz trage ich das Gefäß vor mir her, die Säure schwappt in kleinen Wellen. Langsam, Schritt für Schritt. Unter dem Buchentor bleibe ich stehen.

»Hier bin ich«, begrüße ich den Feind. »Ich werde von hier nicht weichen, bis du verschwunden bist.« Ich spreche leise, und doch ist es ein Schlachtruf.

Vorhin habe ich einen Klappstuhl in den Lorbeergarten gebracht und vor dem vordersten Strauch abgestellt. Ich nehme Platz, die Säure am Boden zwischen meinen Beinen. Ich ziehe den Handschuh aus, hebe einen Zweig und betrachte die Kompanie der Läuse.

»Hier kommt Arthur«, zische ich.

Riesig nimmt sich meine Hand gegen die Läuse aus. Mit Daumen und Zeigefinger packe ich die erste und halte sie vor mein Auge. Ihre Beinchen zappeln in der Luft. Die Laus schaut mich an. Glanzlos und verschlagen sind diese Augen. Ich bemerke keine Angst. Sie will weiterfressen, sie fühlt sich von mir gestört.

»Nur einen Augenblick noch«, flüstere ich. »Gleich sollst du in der Hölle brennen.«

Ich halte die Laus über den Behälter und lasse los. Sie fällt nicht. Das Wachs klebt an meinen Fingern. Ich schüttle sie. Die Laus stürzt in den Kessel der Vernichtung. Es ist ein beeindruckendes Schauspiel. Der Kampf Gut gegen Böse ist keine Illusion. Ich wohne ihm bei. Das Tier, das meinen Lorbeer fast besiegt hat, strampelt und windet sich, während es sich auflöst. Ein paar Sekunden, und der Lorbeerkiller ist verschwunden. Der Erste von Millionen. Es tut so gut, das zu erleben. Ich bin erfüllt von Mut und Tatkraft. Ich packe die nächste Laus.

»Kaliumchlorid ist das Salz der Salzsäure. Es bildet farblose, bitter schmeckende Kristalle, die sich bei 20 Grad in Wasser auflösen. In der Lebensmittelindustrie wird es als Geschmacksverstärker eingesetzt, in der Landwirtschaft als Dünger. Du findest es auch in schmerzhemmenden Zahncremes, sogar beim Winterstreusalz. Kurz gesagt: Es ist kein Problem, an das Zeug zu kommen.«

Jock isst Möhren, das gibt seinem Vortrag etwas Abgehacktes. Knackend beißt er in eine Karotte. Mangels eines Besprechungszimmers hat der Leiter der internen Krankenhausabteilung den Polizisten den Aufenthaltsraum der Ärzte zur Verfügung gestellt. Zwei Liegen zum Ausruhen, eine Reihe Spinde, unter der Decke hängt ein Basketballkorb. Ralph breitet die Serviette auf dem Couchtisch aus und sortiert sein zerquetschtes Sandwich. Rosy steht am Fenster.

»Wenn du einem Menschen Kaliumchlorid in erhöhter Dosis zuführst, kann es unterschiedliche Erkrankungen verursachen: Nierenversagen, Herzrhythmusstörungen, Stoffwechselprobleme. Diese Symptome werden behandelt. Auf Vergiftung schließt man selten, außer man sucht gezielt danach.« Jock hebt die Karotte wie einen Zeigestab. »Der Witz dabei ist: Tritt durch eine Kaliumchloridvergiftung der Tod ein, ist die Ursache praktisch nicht nachweisbar.«

»Warum?« Rosy betrachtet Jocks mahlenden Mund.

»Durch den Zellverfall steigt nach dem Tod der Kaliumchloridspiegel im Körper sprunghaft an. Erhöhter Kaliumchlordianteil bei einer Leiche ist normal.« Jock lächelt mit ausgebreiteten Armen. »Dieser Fall ist wirklich sensationell.«

»Wieso?« Ralph leckt sich Mayonnaise von den Fingern.

»Weil der klassische Giftmord kaum noch vorkommt. Früher liebten unsere Mörder Gift. Es war schwer nachweisbar, außer durch Gerüche oder spezifische Symptome. Das Nervengift der Tollkirsche bewirkt eine Pupillenerweiterung, Zyankali hinterlässt einen Bittermandelgeruch. Das Fehlen von Geruch und Geschmack machte Arsen sehr attraktiv. Heutzutage ist Arsen selbst nach Einäscherung einer Leiche noch Jahre nach dem Tod in den Haaren nachweisbar.«

»Ist ja gut, Jock, dein Punkt ist klar.« Selten hat Rosy den altgedienten Polizeiarzt so mitteilsam erlebt.

Er lässt sich noch nicht bremsen. »Bei Vergiftungsverdacht mit Pflanzenschutzmitteln setzen wir Fruchtfliegen auf den Mageninhalt des Opfers. Selbst bei geringen Mengen E605 sterben die Fliegen sofort.« Jock kaut knirschend. »Was denkst du, wie viele Giftmorde im Vorjahr registriert wurden?«

Rosy seufzt. »Sag’s mir.«

»Nicht einmal dreißig, im gesamten Königreich. Bei unseren ausgeklügelten Verfahren lassen moderne Mörder lieber die Finger vom Gift.«

»Mit anderen Worten?«

»Dein Tipp, Mrs Gaunt auf Parasiten untersuchen zu lassen, war zwar falsch, trotzdem ein Schuss ins Schwarze.«

»Könnte die Vergiftung von Mrs Gaunt von einem ihrer Medikamente herrühren?«

»Herzrhythmusstörungen werden mit Stoffen wie Verapamil oder Diltiazem behandelt. Das sind Kaliumkanalblocker.«

»Du sagst, bei einer Vergiftung mit Kaliumchlorid wäre die Todesursache kaum nachweisbar. Jemand hatte also vor, Mrs Gaunt zu ermorden?«

Jock nickt. »Langsam, schleichend, und wenn wir das Gift nicht zeitgerecht entdeckt hätten, unbemerkt.«

»Man hätte es nicht bemerkt?«

»Mit ziemlicher Sicherheit nicht.«

»Das ist – Moment mal –« Rosy macht fünf Schritte zur Tür und vier zurück. Vor Ralph bleibt sie stehen. »Mrs Gaunt ist eine äußerst sensible Frau. Dünnhäutig, anfällig, kränklich seit Jahren.«

Ralph legt das Sandwich weg. »Jemand vergiftet diese Frau.«

Sie nickt. »Will ihren Tod herbeiführen. Jedoch nicht heute, nicht morgen, vielleicht erst in Monaten.«

»Wozu?«, fragt Jock.

»Um sie loszuwerden.« Rosy zieht die Lederjacke aus. »Weshalb entledigt man sich eines Menschen?«

»Um an sein Geld zu kommen?«, sagt Jock.

»Im Fall von Mrs Gaunt unwahrscheinlich. Edward bringt das Geld nach Hause.«

»Warum dann?«

Rosy tritt zwischen den Arzt und den Sergeant. »Um frei zu sein. Für eine andere Frau.«

Die Polizisten sehen sich an. Rosy spricht aus, was beide denken.

»Um frei zu sein für Gwendolyn Perry.«