An diesem frischen Aprilmorgen steigt der Bag gerführer Melrose auf seine Maschine, verstaut Pausenbrot und Thermoskanne und startet den Diesel. Hinter der Windschutzscheibe steckt ein verblasstes Bildchen. Es zeigt Melrose und seine Familie beim Grillen. Ein Mädchen mit Ponyfrisur hält ihm den Teller hin. Er nimmt ein Würstchen und lacht in die Kamera. Letzte Woche ist das Mädchen mit der Ponyfrisur von zu Hause ausgezogen und lebt jetzt bei seinem Freund. Der Baggerführer lässt seine Frau nicht spüren, wie sehr es ihn schmerzt, dass sie im Haus nur noch zu zweit sind.
Er pustet den Motor durch, schwarzer Dreck kommt aus dem hochgelegten Auspuffrohr. Mit dem Mittelfinger bedient er den Hebel, der die Baggerschaufel hochfährt. Der hydraulikgetriebene Löffel zieht einen Frauenarm empor. Eine weiße Bluse, blondes Haar, ein weit geöffneter Mund. Mit einem Schrei zuckt der Baggerfahrer zurück. Seine Finger, sonst mit den Schalthebeln verwachsen, hantieren hektisch. Der Körper mit der weißen Bluse wird hochgeschleudert. Ein schwarzer Rock, an den Füßen fehlt ein Schuh. In seiner Panik fürchtet der Baggerfahrer, die Wucht des Greifarms könnte die junge Frau verletzt haben. Behutsam senkt er ihn, stellt den Motor ab und beugt sich über das Armaturenbrett. In der Tiefe der Baugrube schimmert die weiße Bluse. Melrose setzt die Mütze ab und wischt sich über die Stirn.
»Sie wird im Stau stecken«, sagt Jock, der Polizeiarzt.
»Es ist nur ein Katzensprung von Sutherly hierher.« Der Constable zeigt zum Schloss hoch. »Sogar zu Fuß müsste sie schon da sein.« Er befestigt das blaugelbe Absperrband am Ast eines Strauches.
»Vielleicht springt die alte Karre wieder mal nicht an.« Die Spurensicherung, Onkel und Neffe, packt die Koffer aus. Der Ältere sichert den Fundort, der Jüngere macht die Fotos.
»In sieben Jahren habe ich das nicht erlebt, dass sie zu spät zum Tatort kommt. Wisst ihr noch, wie sie mal mit Gipsbein und Krücken anhumpelte?« Sergeant Bellamy lacht in die Runde, die Kollegen nicken nur.
Im Hintergrund hockt der Baggerführer auf der Wiese. Den Kopf in beide Hände gestützt, starrt er zu seinem Arbeitsplatz. Wie ist die Frau bloß in die Baugrube geraten? Wie soll er an diesem Ort je wieder baggern?
Am Gürtel von Sergeant Bellamy klingelt das Diensthandy. »Das wird sie sein!«
Es ist nicht Detective Inspector Daybell am Telefon. Inspector Daybell weiß nichts von der Toten in der Baugrube. Sie ist noch nicht einmal aufgebrochen. Detective Inspector Daybell hat mit mir geschlafen. Sex während der Dienstzeit ist nicht ihre Angewohnheit, doch heute gab Rosemary der Liebe den Vorzug. Es musste sein, und es musste heute sein. Rosy und ich wünschen uns ein Kind.
Mitten auf dem Bett erhebt sie sich in den Kopfstand. Erst beim dritten Versuch gelingt es. Rosy schüttelt und rüttelt sich, damit meine schwimmenden Helden ihren Bestimmungsort sicher erreichen.
Vor einer halben Stunde vibrierte ihr Diensthandy, dann hüpfte es vor zehn Minuten auf dem Frühstückstisch, jetzt vibriert es wieder. Mit einem Handtuch um die Hüften bringe ich Rosy das Telefon. Normalerweise hätte sie die nötigen Aufgaben delegiert und wäre unverzüglich aufgebrochen. Heute verzögert die Kostbarkeit von Rosys Eisprung die Aufklärung eines Mordfalls.
Ich halte der Frau im Kopfstand das Telefon hin. »Die von deiner Dienststelle sollten dich mal so sehen.«
Sie presst den Hörer ans Ohr. »Im Labyrinth?«, fragt Rosy. »Und die Todeszeit?« Wie eine Schere klappen ihre Beine auf und zu. »Hat es nachts geregnet? – Weshalb ich nicht abgenommen habe?« Sie sieht mich an. »Ich war in einem Meeting.« Der Turm sinkt in sich zusammen. »Bin gleich da.« Liegend gibt sie mir das Telefon.
»Kauft Bellamy dir das ab?« Ich gehe ins andere Zimmer. »Weiß er von deinen Babyplänen?«
»Meinen Babyplänen?« Von nebenan höre ich präzise Handgriffe. Keine schafft es so schnell in die Klamotten wie Rosemary.
»Unsere«, korrigiere ich. »Natürlich sind es unsere Pläne.«
»Ist noch Tee da?« Auf Socken kommt sie um die Ecke.
Ich schenke ihr eine Tasse ein. Vor der Liebe haben wir uns gestärkt. Verschwenderisch liegt der Frühstückstisch vor uns.
»Was gibt’s denn?«
»Mord im Labyrinth.« Rosy trinkt in kleinen Schlucken.
»Lady Carolines Labyrinth?«
»Ich nehme den Volvo, wenn es dir recht ist.«
»Nimm lieber ein Rosinenbrötchen mit.« Ich will es mit Butter beschmieren.
Sie ignoriert mein Angebot und steckt die Dienstwaffe ein.
»Dinner um sieben?«
Die Hand am Pistolenhalfter, steigt sie auf die Zehenspitzen und küsst mich. »Wäre das nicht toll, Arthur? Wäre es nicht großartig, wenn es diesmal geklappt hätte?«
Rosemary ist die Schwertlilie meines Lebens. Die scharf gezähnten Blütenblätter lassen auf ihren brillanten Verstand schließen. Blauviolett wie die Lilie sind Rosemarys Augen. Ihr Blick dringt tief und sieht vieles, was im Verborgenen liegt. Sie ist die stolzeste Blume in meinem Garten. Ich würde ihr so ziemlich jeden Wunsch erfüllen, auch den einen, der mich sprachlos machte, als sie davon anfing. Ich möchte mit Rosy ein Kind. Wäre da nicht das Problem. Sie ist feinfühlig genug, es nicht offen auszusprechen – vermutlich liegt es an mir. Mein Blut ist alt, uralt. Es erzählt von vergangenen Epochen, von Generationen ein und derselben Familie, die dieses Blut bewahrt und fortgezeugt haben. Während der Jahrhunderte hat unser Blut seine Kraft verloren, es pocht nicht mehr so forsch wie früher, als wir Kreuzritter waren, Feldherren, Berater des Königs. Leise fließt das Blut in meinen Adern und macht die natürlichste Sache der Welt zur Schwierigkeit. Ich bin Harold Philipp Arthur Escroyne, der 36. Earl von Sutherly, und es besteht der Verdacht, ich könnte zeugungsunfähig sein. Wie schlecht es um meinen Stammbaum steht, erfuhr ich im Krankenhaus, als mich eine mütterliche Krankenschwester, bewaffnet mit einem Plastikbecher, in ein enges, schwach beleuchtetes Zimmer führte. Ich produzierte das Gewünschte, meine Samen wurden auf die Probe gestellt.
Ich könnte dazu in der Lage sein, hieß es. Ich muss nicht unbedingt der Letzte meines Namens sein, durch mich könnten sich die Escroynes auf natürlichem Wege fortpflanzen. Fürs Erste ist das Rosys Ziel. Sie lehnt Befruchtungsmethoden ab, die an das Befüllen einer Rumkugel erinnern. Rosemary ist im 38. Lebensjahr. Wie lange werden ihre Geduld und die weibliche Biologie noch auf die natürliche Ejakulation eines Escroyne bauen?
Die alte Lederjacke ist Rosys Uniform. Außer an heißen Sommertagen trägt sie das Ding bei jedem Wetter. Ich habe es ihr geschenkt, nachdem ich das Motorrad verkaufen musste. Rosy behauptet, die Jacke rieche nach mir und nach einer wunderbaren Schottlandreise. Solche Sachen behauptet sie einfach.
Ich beobachte ihren Abstieg von meinem Fenster aus. Es sind 106 Stufen vom Eingangstor bis zum Parkplatz. Wer uns besuchen möchte, muss diese 106 Stufen überwinden. Wer eilig von hier fortwill, ist gezwungen, die 106 wackeligen, ausgetretenen Stufen hinunterzuspringen. Rosys Idee, an der Nordseite eine Straße hochzuziehen, werden wir uns nie leisten können.
Sie taucht am Fuß des Schlosses auf und winkt. Sie weiß, dass ich hier stehe und ihr nachschaue, bis unser Kombi unter dem Blätterdach verschwindet. Der Rücksitz und die Ladefläche des alten Volvo sind voller Erde und feuchter Blätter. Im hinteren Fenster klemmt ein abgerissener Quittenzweig. Ich sollte den Wagen wirklich mal sauber machen.
Von meinem Fenster sehe ich weit hinaus, erblicke sogar das Labyrinth im Herzen der Stadt. Es ist ein historischer Formgarten aus Buchsbaumhecken. Man hat ihn Lady Caroline gewidmet, die vor 200 Jahren dort enthauptet wurde. Lady Caroline war eine verheiratete Dame des 17. Jahrhunderts, die sich in dem Irrgarten mit einem jungen Mann traf und von ihrem Ehegatten deshalb einen Kopf kürzer gemacht wurde. Carolines Labyrinth gehört zu den Sehenswürdigkeiten unserer Stadt. Früher war es größer, man konnte sich darin verlaufen. Nach und nach fiel der Garten der wachsenden Bevölkerung zum Opfer. Im letzten Jahrhundert drängten die Wohnhäuser das Labyrinth so weit zurück, dass es heute nur noch aus ein paar Hecken besteht. Es ist ein beliebter Treffpunkt für Liebespaare.
Ich schaue in die Ferne. Sutherly Castle ist der höchste Punkt weit und breit. Es liegt höher als die Ausläufer der Cotswolds, die nördlich von Trench-upon-Water beginnen. Dem Kalksteingebirge, das die Grafschaften Oxford, Gloucester und Warwick durchzieht, verdankt unsere Stadt ihre wenigen Touristen. Ihre bunten Rucksäcke tauchen ab Mai in den Hügeln auf und verschwinden Mitte Oktober wieder aus der Gegend. So gut wie jedes Haus, jede Brücke und die meisten Denkmäler bestehen aus Kalkstein. Sutherly Castle macht da keine Ausnahme.
Die ersten Steine zum Bau der Burg wurden vor 900 Jahren aus dem Berg gehauen. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts verlieh König John Lackland seinem Vasallen Philipp Escroyne für besondere Verdienste im Irlandfeldzug die Grafenwürde. Der Sage nach waren die besonderen Verdienste, die Lady Escroyne dem König erwies, ausschlaggebender für die Erhebung in den Adelsstand. Sutherly wurde als Wehrburg erbaut, Philipp Escroyne unterstützte den König im Kampf gegen die Waliser, die die Festung niemals einnahmen. Später verriet der Earl seinen König und beteiligte sich an der Revolte gegen ihn, nach der John 1215 die Magna Carta unterzeichnen musste.
Die Earls von Sutherly waren lange Zeit machtvolle Ritter und angesehene Ratgeber der Krone. Im 16. Jahrhundert fielen sie bei Edward VI. in Ungnade und verloren seitdem an Bedeutung. In guten Zeiten umfassten ihre Besitzungen 6000 Hektar besten Ackerlandes, ein mittelalterliches Wildgehege, 48 Pachthöfe und einen Anteil am Fluss Severn. Diese Ära ist vorbei. Bei Erhebung des Marktfleckens Sutherly zur Stadt wurde der Ort in Trench-upon-Water umbenannt. Die Güter der Earls von Sutherly sind verloren gegangen, ebenso wie ihr Schatz, dessen Ausmaß in den Erzählungen über die Jahrhunderte immer legendärer wurde. Geblieben sind ein Bettgestell, in dem Queen Elizabeth I. geschlafen haben soll, und das zerschlissene Banner, mit dem der 15. Earl von Sutherly in die Schlacht von Culloden zog. Auf unserer Burg ist bestenfalls der westliche Flügel bewohnbar, das übrige Gebäude ist einsturzgefährdet. Auf Anordnung des Bauamtes mussten die Touristenführungen eingestellt werden. Im Wohnbereich ist das Dach an mehreren Stellen undicht, weswegen Rosy und ich uns mit drei Zimmern begnügen. Geheizt wird mit Strom, außer zu Weihnachten, wenn wir ein prächtiges Feuer im mannshohen Kamin machen, an dem die Escroynes seit eh und je Kastanien rösteten. Ich bin der letzte Spross der Escroynes, ich war der einzige Bewohner auf Sutherly, bis ich Rosemary überredete, bei mir einzuziehen. Sie erwägt, meinen Heiratsantrag anzunehmen, wenngleich sie sich schwer vorstellen kann, als 36. Gräfin Escroyne Polizeidienst zu tun.
Rosy parkt den Volvo auf dem Gehweg neben dem Labyrinth. Entlang der Absperrung geht sie zum Tatort. Zwei Constables fordern die Passanten auf, keine Ansammlung zu bilden. Einer hebt das Plastikband für Rosy hoch.
»Morgen, Detective.« Er lässt sich nicht anmerken, dass er ihr spätes Eintreffen ungewöhnlich findet.
»Dass du mal einen Mord verpennst«, begrüßt Sergeant Bellamy sie.
Wenn ich Rosy meine Schwertlilie nenne, muss ich Ralph Bellamy als Petersilie bezeichnen. Er wirkt belebend, er spendet Energie, ohne selbst viel zu verbrauchen. Zugleich regt er seine Vorgesetzte manchmal auf und fördert damit ihre Durchblutung. Rosemary hält die Sprache für eine stark überschätzte Gabe des Menschen. Der Sprachberieselung des Alltags setzt sie die nüchterne Schönheit eines schweigend gefassten Gedankens entgegen. Vielleicht willigte sie auch deshalb ein, in den stillen, nur vom Wind umspielten Falkenhorst Sutherly zu übersiedeln. Rosy und Ralph verbindet ein Geheimnis, das mit ihrer Beförderung zu tun hat und die beiden auf Gedeih und Verderb zusammenschweißt.
»Die Tote heißt Gwendolyn Perry, fünfundzwanzig, Angestellte. Sie wohnt in der Siedlung da hinten. Gefunden wurde sie um sieben Uhr dreißig von Mr Melrose, Baggerfahrer. Der Mann sitzt dort und ist fertig mit den Nerven. Jock gibt die Todeszeit zwischen elf Uhr und Mitternacht an.«
»Wurde sie in der Baugrube ermordet?« Rosy betrachtet die aufgewühlte Erde.
»Die Spuren weisen eher darauf hin, dass es im Labyrinth passiert ist. Hinter den Büschen.«
»Welche Spuren?«
»Wir haben dort ihren zweiten Schuh gefunden.«
»Fußabdrücke?«
»Ein paar, die sind durch den Kiesboden aber schwer verwertbar.«
Die Leiche war aus ihrer bizarren Lage befreit und neben die Baugrube gebettet worden. Bis zum Abtransport hat die Polizei Abschirmungen errichtet. Rosemary beugt sich über die junge Frau.
An die Momentaufnahme des Todes wird sie sich nie gewöhnen. Gerade waren da noch Jugend, Lebenslust, Neugier auf eine lange Zukunft. Und schon im nächsten Augenblick wird der Zustand festgefroren. Ein Schrei löst die entsetzliche Gewissheit aus, dass alles anders kommen, dass es jetzt enden wird.
Miss Perry war eine auffallend hübsche Frau. Für ihr Alter zog sie sich konventionell an. Rock und Bluse, ein flacher Schuh. Die Augen sind ein wenig geschminkt, letzten Abend ist sie wohl aus gewesen. Rosy entdeckt keinen Schmuck, bis auf einen Ring am Finger. Die verdrehten Glieder, die angewinkelten Beine – wer glaubt, dass der Tod dem Schlaf ähnelt, täuscht sich. Der Tod zerbricht alles, was einmal war.
Rosemary betrachtet das Blut am Hinterkopf. »Todesursache?«, fragt sie leise.
»Jock vermutete Schädelbruch, doch dafür sind die Schläge nicht heftig genug geführt worden. Es sieht so aus, als ob ihr mit einem harten, scharfen Gegenstand das Rückenmark durchtrennt wurde.«
»Hat ein Kampf stattgefunden?«
»Die Spuren im Kies lassen nicht eindeutig darauf schließen.«
Mit einem Seufzer richtet sich Rosy auf. »Weshalb wird hier gebaggert?« Sie zeigt auf den Graben, der so dicht an den Buchsbaumhecken vorbeiführt, dass einige entwurzelte Büsche in die Baustelle gestürzt sind.
»Wasserrohrbruch, Hauptwasserleitung«, sagt Bellamy. »Sie finden den Fehler nicht. Die buddeln überall im Viertel.«
»Wo war Miss Perry angestellt?«
»Bei den Toddlers. Sie war Kindertagesmutter.«
Rosemary fasst sich an die Brust. Ein Knopf steht offen, verstohlen schließt sie ihn. »Diese Frau gab acht auf kleine Kinder?« Sie stellt sich vor, was sich gerade in ihrem Inneren abspielt. Einen Moment lang muss Rosy lächeln. Der Morgendunst löst sich auf. Sie schaut hinauf nach Sutherly. Die Sonne spielt im Glas der Fensterscheiben.