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Jeder andere Polizist hätte den Versicherungsvertreter Sam Black sofort verhaftet. Der Mann hat eine Frau gewaltsam angegriffen. Dass diese Frau Polizeibeamtin ist, erschwert die Sache gravierend. Rosy hätte Mr Black einsperren und dem Richter vorführen können, niemand hätte sich darüber gewundert.

Rosemary tut praktisch das Gegenteil. Ihr ist etwas anderes wichtiger – die Wahrheit. Sollte der nächtliche Vorfall dazu dienen, Black die Wahrheit zu entlocken, waren die angstvollen Sekunden nicht umsonst.

Es ist nach elf Uhr nachts, als Detective Daybell Mr und Mrs Black auffordert, aufs Schloss mitzukommen.

»Zu Ihnen hoch?«, fragt die Frau.

»Nach Sutherly?«, setzt er nach.

»Wir sollten endlich offen miteinander reden«, antwortet Rosy. »Finden Sie nicht auch?«

»Sie verhaften mich nicht?«, fragt Black ehrlich verblüfft.

»Das entscheide ich später. Gehen wir hinauf. Bist du einverstanden, Arthur?«

Ich nicke, ähnlich überrascht wie die Blacks. Rosy ist zerzaust, hat einen blauen Fleck auf der Stirn, ich stehe mit zerrissenen Pyjamahosen da. Die verwirrten, verängstigten Blacks folgen uns nach oben.

Ich kenne keinen Kommissar, männlich oder weiblich, der so vorgegangen wäre. Verrückt, sollte man meinen. Raffiniert, denke ich. Denn auch wenn ich kein Polizist bin, hat Rosy in mir einen Zeugen für das folgende Gespräch.

Oben angelangt, lädt sie die Blacks ein, sich an den Esstisch zu setzen. Ich räume die Lasagnereste ab. Mrs Black kann ihre Neugier nicht verhehlen, sich im Herzen von Sutherly umzusehen. Wahrscheinlich ist sie enttäuscht über den fehlenden aristokratischen Glanz, das abgewetzte Mobiliar, die einfallslose Einbauküche. Der Earl of Sutherly trägt keinen Morgenmantel aus Brokat und Seide, und über der Eingangstür prangt nicht das Familienwappen, sondern der Stromzähler.

Rosy bittet mich, Wasser aufzusetzen. Als ich den Tee bringe, finde ich einen vor Selbstmitleid zerfließenden Versicherungsvertreter vor.

»Wir sind nicht mehr jung«, sagt er. »Wahrscheinlich können wir keine Kinder mehr kriegen. Alice war unser Ein und Alles.«

»Was reden Sie da, Mr Black!« Rosy sitzt ihm gegenüber. »Alice ist ein süßes Mädchen. Sie kann wieder ganz gesund werden, wenn Sie Geduld und Anteilnahme zeigen.«

Ich stelle einen Teller mit Raffinesse-Keksen in die Mitte. Während ich eingieße, wirft Rosy mir einen dankbaren Blick zu.

»Milch?«

»Nein danke«, sagt Mrs Black.

»Und Sie?«

»Milch, ja.« Black erhebt sich einen Moment, als wäre es ihm peinlich, von mir bedient zu werden. Ich ziehe mich ins Arbeitszimmer zurück, bleibe in Hörweite. Durch die Tür können die Blacks mich sehen.

Der Mann redet über die eigene Ohnmacht, über ein Kinderleben, das zerstört wurde. Er nimmt einen Keks und redet von Gott, der unschuldige Kinder bestraft, während die Schuldigen an Alices’ Schicksal ungestraft davonkommen.

»Sie meinen Miss Perry«, sagt Rosy. »Wollten Sie sich an Miss Perry rächen?«

»Ich habe daran gedacht, ich gebe es zu.« Mit großen Augen schaut er sie an. »Wir haben vielleicht sogar darüber geredet. Aber ich habe es nicht getan.«

»Sam wäre zu so etwas nicht fähig«, springt seine Frau bei.

»Ihr Mann ist aufbrausend und aggressiv«, erwidert Rosy. »Er hat sich nicht in der Gewalt. Unter bestimmten Umständen, glaube ich, wäre er dazu fähig.«

Die beiden schweigen betroffen.

»War es ein Unfall, Mr Black, ein Streit mit Miss Perry, der aus dem Ruder lief? Hat die junge Frau Sie provoziert?«

Unter der Last des Vorwurfs schüttelt er den Kopf. »Sie glauben mir nicht. Wieso glauben Sie mir nicht?«

»So wie Sie sich gerade verhalten haben, fällt es mir schwer, Ihnen zu glauben. Sie sind eine Gefahr für Ihre Mitmenschen, Mr Black. Sie lassen sich von Ihren Leidenschaften beherrschen.« Rosy hebt die Hand. »Damit meine ich nicht den Besuch eines Swingerclubs. Aber wenn ich Sie nach dem Vorfall eben unserem Amtsarzt vorführe, wäre die Folge, dass man Sie in eine psychiatrische Klinik einweist.«

Black faltet die Hände. »Inspector, ich gebe zu, bei mir fliegt manchmal die Sicherung raus. Aber ich könnte niemals einen Mord begehen. Als Miss Perry umgebracht wurde, war ich in Swindon.«

»Ihr Alibi ist nichts wert. Niemand hat Sie zur Tatzeit gesehen. Sie könnten in 40 Minuten in Trench gewesen sein.«

»So war es aber nicht!«

Rosy lässt nicht locker. »Haben Sie Miss Perry aufgelauert? Folgten Sie ihr ins Labyrinth? War sie allein dort oder mit jemandem zusammen?«

»Das weiß ich nicht! Weil ich nicht dort war!«

»Es kam zu einem scharfen Wortwechsel zwischen Ihnen, Sie haben rot gesehen und zugeschlagen.«

»Womit denn?« Er lässt die Faust auf den Tisch sausen, dass die Tassen klirren.

»Bei Ihrer Kraft würde die scharfe Kante eines Handys genügen.«

An meinem Schreibtisch frage ich mich, ob Rosys Taktik nicht doch zu waghalsig ist. Was, wenn der Mann ein zweites Mal die Nerven verliert, wenn er tobt und um sich schlägt? Ich besitze nicht die Statur, einem Sumoringer wie Black die Stirn zu bieten.

Aber Rosy bleibt gelassen und setzt das Verhör fort. Es ist nach Mitternacht, als sie die Blacks zur Tür bringt.

»Kommen Sie morgen um zehn aufs Kommissariat«, sagt sie zum Abschied.

»Weshalb? Wollen Sie mich doch anzeigen?«

»Mein Nacken tut weh. Ich werde das in der Früh untersuchen lassen. In jedem Fall muss ein Protokoll aufgenommen werden.«

Bevor Mrs Black hinaustritt, stellt sie eine ungewöhnliche Frage. »Fürchten Sie nicht, dass Sam abhauen könnte, wenn Sie uns jetzt gehen lassen?«

»Und Alice?«, erwidert Rosy. »Könnte er Alice im Stich lassen?«

Die Frau lächelt. »Danke für den Tee.«

Black nimmt sie bei der Hand. Mit vorsichtigen Schritten gehen die beiden die Treppe hinunter.

Während Rosy die Eingangstür schließt, trete ich aus dem Arbeitszimmer. »Du hast ihnen keine einzige Frage zum Mord an Mrs Lancaster gestellt. Willst du nicht beobachten, wie sie sich benehmen, wenn sie am Tatort vorbeikommen?«

»Nein, Arthur. Ich gehe schlafen. Kommst du auch?«

»Ich wollte eigentlich noch spülen.«

»Lass es stehen. Ich möchte neben dir einschlafen.«

»Wie geht es deinem Nacken?«

»Halb so schlimm.«

Kurz darauf liegen wir beisammen, Rosys Kopf auf meiner Brust. »Bist du mir böse, weil ich die beiden mit hochgenommen habe?«

»Ach wo. Ich habe noch nie mit einem Mordverdächtigen Tee getrunken.«

Rosy schweigt, dann lacht sie leise. »Ich bestimmt schon oft.« Sie streichelt meinen Bauch. »Was für ein Beruf.«

»Was für ein Abend.«

»Du warst toll.«

»Ich? Weil ich die Treppe runtergepurzelt bin?«

»Du hast mir gutgetan. Sogar als Black mich in das Mopskissen drückte, hatte ich die Zuversicht, mir kann nichts passieren, Arthur ist ja da.«

»Danke.«

Wir küssen uns.

»Morgen muss ich meinen zweiten Pantoffel suchen. Wirst du Black wieder in die Zange nehmen?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Der Mann ist unschuldig.«

»Was? Woher …?«

»Ich habe ihm vorhin eine Falle gestellt und ein Schlupfloch offengelassen.«

»Das Schlupfloch war … Sekunde – die Sache mit der Psychiatrie?«

»Ja. Nach seinem Ausraster auf dem Parkplatz hätte Black, sofern er Miss Perry getötet hat, eine reale Chance, auf momentane Unzurechnungsfähigkeit zu plädieren. Er käme in psychiatrische Behandlung in einer geschlossenen Anstalt. Irgendwann würde er als geheilt entlassen werden.« Rosy gähnt. »Black ist nicht dumm. Er checkt sofort, wenn etwas zu seinem Vorteil ist. Aber er hat die Chance nicht ergriffen.« Sie rollt auf ihre Seite.

Ich streichle ihr Haar. »Jetzt haben wir schon wieder vergessen, uns die Karikatur von Rank anzuschauen.«

Ihr Atem geht gleichmäßig. Sie hört mich nicht mehr.