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Mrs Lancaster, die Leiterin der Kinderkrippe, ist in den Vierzigern. Gepflegt, modisch, das rote Haar vielleicht zu grell für ihr Alter. Gefasst hat sie die Polizisten empfangen. Jetzt bedient sie sich zum zweiten Mal aus der Kleenex-Box.

»Sie waren gestern nicht zu sprechen«, sagt Ralph. »Hatte das mit Miss Perrys Tod zu tun?«

»Ich war geschockt.«

»Sie mochten sie?«

»Ich habe Gwen hier gleichsam unter meine Fittiche genommen. Sie war ja neu in Trench. Sie kannte noch kaum jemanden.«

Rosy steckt das Telefon ein. Ihr Blick fällt durch die Glasscheibe auf die spielenden Kinder. Ein Junge in blauen Strumpfhosen will sein Spielzeug nicht abgeben und schreit ein blondes Mädchen an. »Würden Sie sich als Vertraute von Miss Perry bezeichnen?«

»Oh ja.« Ein kurzes Lächeln zur Kommissarin. »Wir verstanden uns von Anfang an gut.«

»Hat sie Ihnen erzählt, was sie außerhalb der Krippe erlebte?«

»Manchmal. Von ihrem Studium. Sie mochte die Praxis. Mit der Theorie über pädagogische Fragen konnte sie wenig anfangen.«

»Sprach sie auch über private Verhältnisse?«

»Was meinen Sie, ihre Familie?«

»Hatte Miss Perry Freunde?«

»Das ist schwer zu sagen.«

»Ich glaube, das ist ziemlich leicht zu sagen. Wer Freunde hat, telefoniert viel. So jemand möchte abends früher gehen oder kommt morgens mal zu spät. War Miss Perry so jemand?«

»Nein. Sie hatte immer Zeit für mich«, antwortet die Rothaarige.

»Für Sie?«

»Für die Kinder, meine ich. Sie kam gut mit ihnen klar.«

»Kam sie gut klar, oder wurde sie gemocht?«

»Merkwürdig, dass Sie das fragen.«

»Wieso?«

»Sie hatte eine Ausstrahlung –« Die Leiterin legt die Hand an den Hals. »Kennen Sie das, wenn jemand so eine unnahbare Aura hat? Die anderen bemühen sich dann umso mehr um diese Person. Kinder ganz besonders.« Ihre Hand gleitet in den Kragen. »So ein Mensch war Gwendolyn. Man hatte den Eindruck, sie ist ständig bei sich. Man versuchte, ihr nahezukommen. Ob die Kinder sie mochten, weiß ich nicht. Sie haben um sie gebuhlt.«

»Hatte Miss Perry eine Beziehung?«

Ralphs Frage scheint Mrs Lancaster aufzuschrecken. Ihre Hand kehrt auf den Schreibtisch zurück.

»Einen Freund, einen Liebhaber? Sie war immerhin sehr attraktiv.«

»Ja, sie ist den Männern aufgefallen.« Wieder das spröde Lächeln, wieder bezieht Mrs Lancaster die Kommissarin mit ein. »Da war nichts. Zumindest nicht in den ersten Monaten. Von den Studenten hat keiner sie interessiert, das sagte sie mir sogar.«

»Und in letzter Zeit?«

Mrs Lancaster zupft ein weißes Tuch aus der Box. »Gwen hat Andeutungen gemacht.« Sie putzt sich die Nase.

»Dass es einen Mann gibt?«

»Sie tat recht geheimnisvoll.«

»Ist dieser Mann verheiratet?«, fragt Rosy.

»Wieso?«

»Weshalb sollte Miss Perry ihre Beziehung sonst geheim halten?«

»Gwen erzählte einmal, dass der Mann nicht von hier stamme.«

»Ein Gasthörer an der Uni vielleicht?«

»Er studiert nicht. Er hat einen Beruf.«

Rosy tritt an den Schreibtisch, lächelt der anderen offen ins Gesicht. »Sie wissen einiges von diesem Mann, nur seinen Namen nicht?«

Die Züge von Mrs Lancaster werden weicher. Sie betrachtet die Kommissarin in der Lederjacke. »Was glauben Sie, was wir hier den ganzen Tag tun, Detective? Zum Plaudern bleibt uns nicht viel Zeit. Wenn man auf kleine Kinder aufpasst, sind ruhige Minuten die Ausnahme.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Rosy entdeckt, dass der schwarze Punkt auf Mrs Lancasters Wange kein Leberfleck ist. Sie hat ihn dorthin gemalt.

»Gwendolyn hat ihn einmal Rank genannt«, sagt die Leiterin so leise, als sei es nur für Rosys Ohren bestimmt.

»Rank?«

»Sie sagte nicht, warum.«

»Ein Spitzname?«

»Vielleicht.«

»Hat sie Rank beschrieben?«

Die Leiterin schüttelt den Kopf.

»Hatte sie den Diamantring von Rank?« Ralph mischt sich in das intime Geplauder ein.

Irritiert sieht die Rothaarige ihn an. »Gwendolyn trug keinen Ring.«

»An ihrer Leiche wurde einer gefunden.«

»Wir tragen alle keinen Schmuck hier. Die Kinder könnten sich daran verletzen.«

»Darf ich das mal sehen?« Rosy zeigt auf die Pinnwand hinter Mrs Lancaster.

»Was? Ach, das Bild.«

»Das ist Miss Perry, nicht wahr?«

»Ja, da waren wir …« Die Leiterin nimmt ein Foto ab. Plötzlich werden ihre Augen feucht. »Ich hatte Geburtstag. Gwen schenkte mir ein wunderschönes –« Sie kann nicht weitersprechen, weint, von den Polizisten abgewandt.

Rosemary betrachtet das stimmungsvolle Bild. Mrs Lancaster, umringt von Mitarbeiterinnen und zwei jungen Männern. Im Zentrum entzündet Miss Perry die Kerzen auf der Torte. Das Ganze findet im Garten statt. Hinter dem Zaun parkt ein Sportwagen.

»Beruhigen Sie sich bitte.« Rosy hält ihr die Taschentücher hin. »Sprach Gwendolyn manchmal über ihren Tutor, Mr Gaunt?«

»Edward? Hin und wieder«, antwortet die andere unter Schluchzern.

»Sie kennen ihn gut?«

»Seit vielen Jahren. Eigentlich kenne ich seine Frau.«

Rosy wendet sich zur Tür. »Mochte Gwendolyn Mr Gaunt?«

»Nicht besonders. Sie fand ihn eitel, mit seinem akkurat gestutzten Bart und den zu engen Anzügen.« Die Leiterin hält das Taschentuch unter die Nase.

»Vielen Dank, Mrs Lancaster. Auf Wiedersehen.«

Auf dem Flur kommt der Kommissarin eine Horde Dreijähriger entgegen. Sie reißen die nächste Tür auf und stürmen ins Spielzimmer. Selten ist Rosy von so viel Übermut, von solch unverstellter Lebensfreude umgeben. Ihr Beruf ist ein Beruf für Erwachsene. In ihrem Alltag spielen Kinder dann eine Rolle, wenn sie Streitobjekt sind oder ihnen Gewalt angetan wurde. Auch die Kinderwelt hat ihre Katastrophen, auch hier wollen die Protagonisten etwas gelten, manche sind die Stars, andere die Mauerblümchen. Aber hier scheint alles schnelllebiger zu sein. Die Wut auf einen Konkurrenten verraucht rasch, der Neid auf ein Spielzeug hält nicht lange vor, neue Sensationen lenken ab. Rosy, deren Job es ist, Klarheit zu schaffen, Arabesken abzuschneiden, damit das Wesentliche zum Vorschein kommt, ist von der Vielfalt des Treibens bezaubert und irritiert. Alles passiert gleichzeitig, nebeneinander. Hier werden Holzklötze zu einem Turm geordnet und mit der gleichen Lust zerstört. Hier trinkt ein Mädchen aus seinem Becher, kippt ihn um und nimmt den verschütteten Tee zum Schmieren. Einer schleppt ein Stofftier, doppelt so groß wie er selbst, als wäre es sein bester Freund. Plötzlich schlägt er darauf ein.

Den Wunsch, ein Kind zu haben, hegt Rosy noch nicht lange. Ihr Beruf ist ein Motor, der viel Energie verbraucht. Die Liebe zu einem Mann wie mir erfordert Umdenken, Ausgleich, Kompromissbereitschaft. Jetzt sehnt sie sich nach etwas, das die größte Anstrengung von allen sein wird, schwanger werden, ein Kind bekommen und es aufziehen. Sie will es nicht nur, sie hält es für unaufschiebbar.

Rosy stammt aus Gloucester-Ost, Arbeiterviertel. Ihr Vater ist Maurer, die Mutter treibt die Steuern für das County Council ein. Rosy hat vier Geschwister, zahlreiche Onkel, Cousinen, Neffen und Tanten. Für sie ist Familie das, was sie am besten kennt. Sie will teilhaben an dem Spiel, mitwirken an der Vervielfältigung der Ihren. Trotzdem macht ihr die unmittelbare Kinderpower Angst. Wie wird das bei mir sein, fragt sie sich, wie wird Arthur damit umgehen? Was tut es mit unserer Beziehung?

»Willst du hier festwurzeln?«, fragt Ralph.

Versonnen steht Rosy gegen die Tür gelehnt. »Quatsch nicht.« Sie hebt den Kopf. »Hast du Mrs Lancaster gefragt, wo sie zur Tatzeit war?«

»Als du telefoniert hast. Daheim, behauptet sie. Für die Antwort hat sie sich Zeit gelassen.«

Rosemary wirft einen letzten Blick auf die Kinder. »Mr Hobbs, Mr Gaunt, Mrs Lancaster – keiner kann sagen, was Miss Perry in ihren letzten Stunden getan hat.«

»Und jetzt?« Sie gehen die Treppe hinunter.

»Fahren wir zur Uni. Vielleicht weiß von den Studenten einer was über den geheimnisvollen Rank.« Rosy drückt den Sicherheits-Buzzer, der die Außentür öffnet. Er ist so hoch angebracht, dass kein Kind drankommt.