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Rosy kann Ralph nicht erreichen. Das Diensthandy sollte offen sein, die Kommissarin will den Standort des Verdächtigen erfahren. Sie erreicht nur Ralphs Mailbox.

»Geh dran, Junge«, murmelt Rosy. Da kommt ein anderer Anruf durch, die Umleitung des Notrufs.

»Inspector?«

»Ja.«

»Notruf von einer Adresse in Carleen.«

»Wer hat angerufen?«

»Sergeant Bellamy.«

»Weshalb ruft Ralph den Notruf?«

»Er wurde niedergeschlagen.«

Krankenhausflur. Gebohnerter Boden. Rosys Schritte werden schneller.

»Funkstreife ist unterwegs«, sagt der am anderen Ende. »Auch der Krankenwagen.«

»Wie schwer hat es Ralph erwischt?«

»Ist nicht bekannt.«

Rosy rennt. »Ich komme.«

Neben ihr läuft der ehrgeizige Constable. Locker, als ob er joggen würde. Geschwellte Brust, grimmiger Ausdruck.

»Ralph hat den Volvo.« Rosys Bergschuhe trampeln die Treppe hinunter. »Wir brauchen ein Fahrzeug.«

Im Laufen zieht der Constable das Telefon ans Ohr.

Schwingtür. Mit gestreckten Armen knallt Rosemary dagegen, prescht durch und merkt zu spät, dass sie dem Earl von Sutherly die Tür gegen die Nase donnert. Ich taumle.

»Das ist doch …!«, will ich mich ereifern.

»Arthur!«

»Rosy!«

»Du kommst wie gerufen.«

»Ich dachte, wir könnten vielleicht ein Käffchen –«

»Steht der Wagen draußen?« Sie ist an mir vorbei.

»Wollen wir nicht lieber zu Fuß –?«

»Komm schon!«

Die Kommissarin mit den schweren Schuhen und der durchtrainierte Constable springen zum Ausgang. Was bleibt mir übrig, als zu folgen?

»Erklär mir –« Ich hole sie erst im Freien ein.

Rosy steigt auf den Beifahrersitz. »Du fährst.«

Der Wagen hat nur zwei Türen. Ich muss den Constable zuerst einsteigen lassen. »Wohin geht es?«

»Da vorne links.«

»Ich meine –«

»Carleen.«

Rosy telefoniert. Ich fahre. Was immer in Carleen auf uns wartet, muss wichtig sein.

»Straßenverkehrsordnung?«, frage ich.

»Pfeif drauf.«

Ich mag klare Anweisungen und trete das Pedal durch. Die Ampel springt auf Rot. Ich pfeife drauf.

»Sagst du mir wenigstens, weshalb wir uns wie Rowdys aufführen?«

»Ralph ist in Gefahr. Ein Mörder ist auf der Flucht.«

»Mörder?«, fragt der Constable von hinten. »Aber Mrs Gaunt lebt doch.«

»Glücklicherweise. Er wird sich hüten, sie weiter zu vergiften.«

»Wer?« Ich nehme die Kurve in solchem Affenzahn, dass ich fürchte, die Reifen links schweben in der Luft.

»Mr Gaunt natürlich.«

»Mr Gaunt vergiftet Leute? Wurde euer Opfer nicht erschlagen?«

»Er hat sie ja erschlagen.«

»Gaunt hat sie erschlagen?« Der Kopf des Constables taucht zwischen uns auf. »Er wollte mit Miss Perry glücklich werden. Weshalb sollte er sie umbringen?«

»Sie versperren mir die Sicht.« Ich deute, er soll aus dem Bereich des Rückspiegels verschwinden.

Rosy hält sich am Sicherheitsgurt fest. »Gaunt liebte Gwen. Zumindest war er verrückt nach ihr. Er vergiftet seine Frau, um für Gwendolyn frei zu sein. Was Gaunt nicht weiß: Inzwischen hat die sich in Talbot verliebt.«

»Wer ist Talbot?« Die Tachonadel steht auf 50, in einer verkehrsberuhigten Dreißigerzone.

Rosy wendet sich zu mir. »Dein Moos.«

»Habt ihr ihn gefunden?« Ich nehme die Augen von der Straße.

»Er kam zu uns.«

»Wo war er?«

»In Australien. – Pass auf.«

Ein Ladenbesitzer springt rechtzeitig zur Seite und zeigt mir einen Vogel. »Und wie sieht er aus?«

Rosy lächelt. »Erdnah, fein gewoben, unregelmäßig gezähnt.«

»Weshalb sollte Gaunt Miss Perry umbringen?«, wiederholt der Constable. »Nur weil sie einen Neuen hatte?«

»Wie geschah der Mord?«, erwidert Rosy über die Schulter.

»Mehrere Schläge auf den Kopf.«

»Auf den Hinterkopf. Miss Perry hat also nicht damit gerechnet. Wo geschah der Mord?«

»Im Labyrinth.«

»Würde ein Mann wie Gaunt mitten in der Stadt einen vorbedachten Mord begehen?«

»Nein. Genau deshalb frage ich mich –«

Rosy entdeckt etwas im Außenspiegel. »Dort kommen sie.«

»Wer, die Bullen?«, frage ich erschrocken.

»Der Krankenwagen. Lass ihn vorbei.«

Ich ziehe das Auto nach links. Blau blinkt es, als die Ambulanz uns überholt.

»Am besten, du hängst dich dran.«

Ich tue, was Rosy vorschlägt.

»Was bedeutet das Labyrinth für Miss Perry?«, fragt sie den Constable. »Mr Hobbs nannte es ihr Lieblingsplätzchen. Gwen setzte sich gern unter Lady Carolines Statue. Ogilvy gibt zu, dass sie ihn dorthin mitgenommen hat.« Rosy berührt meinen Arm. »Aber der entscheidende Hinweis kam von dir.«

Hinter dem Krankenwagen erreiche ich den Kreisverkehr und damit die Ausfahrt aus Trench. »Von mir?«

»Im Labyrinth sagtest du: Wer sich hier trifft, will etwas Emotionales tun. Ein erster Kuss, eine Liebeserklärung. Es kann genauso gut ein Abschied gewesen sein.«

»So schwülstig habe ich dahergeredet?«

»Dienstagabend machte Gwendolyn reinen Tisch. Sie eröffnete ihrem Liebhaber, dass sie ein neues Leben beginnen will. Sie hatte sich in einen anderen verliebt und sagte Gaunt, dass es aus ist. Wie sollte sie wissen, dass für ihn damit die ganze Welt zusammenbrach? Der Mann war dabei, für Gwen seine Frau zu vergiften. Da ist es mit ihm durchgegangen.«

»Er hat zugeschlagen?« Wieder verdeckt der Kopf des Polizisten den Rückspiegel. »Aber wenn es Mord im Affekt war, bleibt die Frage –«

»Nach der Mordwaffe.« Rosy verschränkt die Arme. »Das ist das Problem, das wir lösen müssen. Wo hatte er die Waffe her?«

»Ich sehe nichts!« Vor uns taucht die Abzweigung nach Carleen auf. Der Rettungswagen ist außer Sicht. Der Constable sinkt auf den Sitz zurück. Eine dunkelbaue Limousine kommt auf den Kreisverkehr zu. Ich will die Straße nach Carleen nehmen.

»Das ist Gaunt«, sagt Rosy ohne hörbare Emotion.

»Der gleiche Gaunt, der …?«

»Fahr ihm nach.«

Die Flut der Ereignisse überfordert mich. »Wolltest du nicht zu Ralph?«

»Für den wird schon gesorgt. Fahr, Arthur.«

Der dunkelblaue Jaguar verschwindet bereits.

»Er will zur Autobahn«, sagt der Constable.

Ich höre ein hartes Klick-klack, sehe im Rückspiegel eine Pistole in der Hand des jungen Mannes. »Was machen Sie da?«

»Immer ruhig Blut«, sagt Rosy.

»Was wird das, Leute?« Ich fahre noch einmal um den Kreisverkehr.

»Wir sind das nächste Einsatzfahrzeug«, erklärt Rosy. »Wir nehmen die Verfolgung auf, bis Verstärkung kommt.«

»Ich bin kein Einsatzfahrzeug. Ich bin ein Nissan Micra und soll es mit einem Jaguar aufnehmen? Auf der Autobahn?«

»Wir müssen ihn vor der Autobahn stellen.« Der Constable hat plötzlich diesen unangenehmen Stahl in der Stimme.

Rosy schiebt die Hand in ihre Lederjacke.

»Holst du etwa auch deine Knarre heraus?«

»Fahr einfach Richtung M5, Arthur. Die Kollegen aus Cheltenham kommen uns entgegen. Wir nehmen ihn in die Zange.« Sie hat das Handy am Ohr. »Verbinden Sie mich mit dem Notarzt.«

Ich folge dem Wegweiser zur großen Nord-Süd-Verbindung zwischen Bristol und Birmingham.

»Haben Sie Sergeant Bellamy schon erreicht?«, fragt Rosy. »Ist er bei Bewusstsein? – Wie schlimm?« Sie nickt. »Geben Sie mir Bescheid.«

»Wodurch wurde Gaunt gewarnt?«, meldet sich der Constable. »Woher wusste er, dass der Zugriff auf ihn bevorstand?«

»Vielleicht hat Ralph ihn bei etwas überrascht.«

»Wie geht es Ralph?«

»Platzwunde, eine starke Blutung. Möglicherweise Schädeltrauma.«

Die Unruhe des Constables hinter mir nimmt zu. Ständig taucht sein Kopf im Spiegel auf. »Sollte ich nicht vielleicht besser fahren, Sir?«, fragt er.

Ich schalte in den Dritten. Es ist purer Trotz, aber ich lasse diesen Wagen nicht von einer testosterongesteuerten Kampfmaschine fahren.

»Wir verlieren ihn«, sagt er zu Rosy.

»Nur die Ruhe, Gentlemen. – Arthur. Sei mein Held und drück drauf.«

Ich begegne ihrem liebevollen Blick. Gleichzeitig senke ich den Fuß aufs Gas. Der Nissan tut einen Sprung nach vorn und surrt die Landstraße hinunter.

»Dort«, ruft der Constable. »Die Tankstelle!«

»Er tankt?« Ich beuge mich vor. »Der hat Nerven.«

Rosy gibt telefonisch unsere Position durch. »Die Texaco auf der A417 hinter Carleen. Der Gesuchte fährt einen dunkelblauen Jaguar.«

»Was machen wir jetzt – also ihr, was macht ihr?« Ich setze den Blinker.

»Du hältst beim Imbiss.«

»Weshalb?«

»Dann bist du außer Schussweite.«

»Schuss?«, frage ich beklommen.

»Keine Sorge. Gaunt ist wahrscheinlich unbewaffnet.«

»Ach ja? Ralph dürfte das anders sehen.«

»Er ist nicht mehr an der Zapfsäule«, sagt der Constable. »Wahrscheinlich an der Kasse.«

»Gaunt kennt mich«, antwortet Rosy. »Sie gehen als Erster hinein.«

Ich halte vor dem Imbisslokal und lasse den jungen Polizisten aussteigen.

Rosys Hand legt sich auf meine Schulter. »Das ist nur Routine, Arthur. Mach dir keine Sorgen.«

»Warum wollte ich dich auch ausgerechnet heute zum Kaffee einladen?«

»Bleib im Auto.« Sie läuft zum Eingang des Kassenbereichs, wo der Constable bereits verschwindet.

Oft stört mich die Vorstellung, dass Rosy in diesem Beruf ihr Leben aufs Spiel setzt. Zwischendurch vergesse ich es wieder und rede mir ein, sie ist eine gewöhnliche Beamtin. Aber so wie die Schwertlilie dort steht, die Lederjacke zurückgeschlagen, damit sie leichter an die Dienstwaffe kommt, ist kein Zweifel möglich, die Arbeit von Beamten sieht anders aus. Ich liebe die kräftige Frau mit dem wilden Haar, der verwegenen Jacke, den derben Schuhen. Ich möchte sie nicht anders. Nur im Augenblick wünsche ich mir Rosy weit weg, irgendwohin, wo kein Mörder aus einer Tankstelle stürmt und ihr in seiner Verzweiflung eine überbrät. Ich will nicht, dass Rosy zur Pistole greifen und Löcher in diesen Mann schießen muss. Ich will kein Blut, keine Tankstelle im Blaulichtgewitter, keinen Leichensack und keine Absperrbänder. Ich möchte nicht, dass Rosy in psychiatrische Behandlung muss, weil sie einen Tatverdächtigen niederschoss. Der Mörder soll sich gesittet festnehmen lassen, damit Rosy und ich heimfahren und Pfannkuchen essen können. Pfannkuchen wären nach einem Tag wie diesem genau das Richtige.

Hinter mir geht eine Tür auf. Ein untersetzter Mann mit Dreitagebart tritt aus dem Imbiss. Er trägt einen gut sitzenden Anzug und wischt sich die Hände an einem Papiertaschentuch ab. Er hat es eilig. Niemand sagt mir, dass ich Edward Gaunt vor mir habe, ich weiß es einfach. Er wollte gar nicht tanken, er musste pinkeln. So einfach sieht das Motiv eines Täters manchmal aus. Er kann sich ausrechnen, dass er verfolgt wird, dass sich das Netz um ihn rasch zuzieht. Trotzdem muss er pinkeln.

Ein Blick zurück: Rosy schaut nicht in unsere Richtung, der Constable ist außer Sicht. Soll ich aussteigen und schreien: Rosy, da ist er! Wir sind nicht in einem Kinderfilm. Hier kämpft ein intelligenter, zu allem entschlossener Mann um seine Existenz. Soll ich Rosy heimlich anrufen?

Gaunt schlägt bereits den Weg zu seinem Auto ein.

»Entschuldigen Sie, Sir.« Ich steige aus.

Er bleibt nicht stehen, weicht dem Nissan sogar aus.

»Können Sie mir sagen, ob ich über diese Straße nach Leckhampton komme?«

Er zuckt mit den Schultern.

Mein Weg zum Jaguar ist kürzer als seiner. »Gibt es vor der M5 noch eine Möglichkeit, Cheltenham zu umfahren, wenn ich nach Leckhampton will?«

Ich trete ihm in den Weg. Vielleicht eine Spur zu rasch, zu unbeherrscht. Er riecht den Braten. Ein hasserfüllter Blick. Hält er mich für einen Zivilbullen? Gaunt rennt los. Der Jaguar wird durch die Zapfsäulen verdeckt. Rosy bemerkt den Mann noch nicht. Wenn er sein Auto erreicht, entkommt er zum zweiten Mal.

Ich war in sämtlichen Sportarten so schlecht, dass Fairness für mich keine Option war, einen Wettkampf zu gewinnen. Wollte ich beim Basketball, beim Fußball, beim Hockey eine Leistung erbringen, musste ich rempeln, beißen, treten. In diesem Fall brauche ich nur das Bein nach vorn zu stellen. Ich tue es unauffällig. Gaunt bemerkt es nicht. Ein Bein als Hindernis für einen Mann, der nur sein Auto im Blick hat – Gaunt fällt so astrein darüber, dass er noch ein gutes Stück nach vorn schießt, bevor ihn die Schwerkraft niederstreckt. Er knallt auf den Asphalt und ist zu überrascht, um sich nach der Ursache des Sturzes umzudrehen.

Ab jetzt will ich kein Held mehr sein, nur ein Mann, der die Polizei um Hilfe ruft. »Rosy!«, schreie ich unschön laut. »Rosy, komm!«

Die Braungelockte an der Zapfsäule. Die Durchtrainierte mit den Hammerschuhen. Peng, peng, peng, knallen die Sohlen, sie zieht die Knarre aus dem Halfter. Wie das blitzt, wie lässig das aussieht, wenn sie die Wumme in beide Hände nimmt, entsichert und anlegt. Wie sie breitbeinig stehen bleibt, zielt und den coolsten aller Sprüche ablässt.

»Ich will Ihre Hände sehen, Mr Gaunt!«

Dem Liegenden fällt es nicht leicht, die Hände von sich zu strecken. Er tut es anstandslos. Er weiß, wann Aufgeben die bessere Lösung ist. Er ist kein Berufsverbrecher, nur ein Lehrer, der tief in der Scheiße sitzt.