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Dieses Mal fährt die Polizei nicht im Volvo vor. Streifenwagen halten vor dem Haus der Gaunts, Blaulicht kreist. In der Nachbarschaft gehen Lichter an, neugierige Augenpaare erscheinen hinter den Fenstern.

Mr Gaunt zieht den Gürtel des Morgenmantels zu. »Kein Wort zu Emily«, sagt er, als er vom Todessturz Mrs Lancasters erfährt.

»Weshalb? Weil die beiden Freundinnen waren?«

»Meine Frau ist … sie leidet unter der Furcht, dass das Leben vor allem Gefahren für uns bereithält. Die Nachricht, dass Harriet tot ist, würde sie …« Er schaut zum ersten Stock hoch.

»Wir werden ihr die Tatsache nicht vorenthalten können«, antwortet Ralph.

»Lassen Sie mich bitte zuerst mit Emily reden.« Gaunt will ins Haus.

»Ich fürchte, ich muss Sie daran hindern, sich mit Ihrer Frau abzusprechen.« Ralph stellt sich ihm in den Weg.

Gaunt sieht ihn erstaunt an. »Wollen Sie andeuten, dass ich etwas mit Mrs Lancasters Tod zu tun habe? Rücken Sie deshalb gleich mit dem Überfallkommando an?« Sein Gesicht verhärtet sich. »Es ist wohl besser, ich verständige meinen Anwalt.«

Dagegen hat Rosy nichts einzuwenden.

Mit der Familie Black hat es Rose noch schwerer.

»Sie wollen mich verhören?«, ruft der Versicherungsvertreter lautstark im Treppenhaus. »Ausgerechnet mich?« Er verwendet offenbar Haaröl für seine Frisur. Jetzt, ohne Vorwarnung aus dem Bett geholt, steht das Haar auf groteske Weise nach allen Seiten ab.

»Eine Befragung, nichts weiter«, erwidert Ralph.

Mrs Black stellt sich im gesteppten Morgenmantel an die Seite ihres Mannes. »Warum lassen Sie Sam nicht in Ruhe?«

»Wir müssen Sie bitten mitzukommen, Sir.«

»Um diese Zeit? Ich denke nicht daran!«

Plötzlich hört man aus dem Inneren der Wohnung ein zartes Stimmchen, leises Mamarufen.

Vorwurfsvoll sehen die Blacks die Ermittler an. »Sie haben das Kind geweckt.«

Eine Tür öffnet sich. Ein Mädchen im himmelblauen Schlafanzug schaut sich schlaftrunken um. »Mama, Papa?«

»Alles gut, mein Schatz. Du kannst weiterschlafen.«

Das Kind kommt zur Mutter gelaufen. Etwas klappert. Eine Art Schiene an seinem linken Bein.

»Sie trägt die Gehhilfe auch nachts?«, fragt Ralph.

»Der Mechanismus hält das Becken beim Schlafen in der richtigen Position«, antwortet der Vater.

Alice wird von Mrs Black hochgehoben.

»Wer ist das, Papa?«

»Das sind Polizisten. Sie wollen uns etwas fragen.«

Sergeant Bellamy, der zweifache Vater, tritt auf Alice zu. »Hallo. Ich bin Ralph. Entschuldige, dass wir dich geweckt haben.«

»Was willst du uns denn fragen?« Der Schlafanzug der Kleinen ist mit Luftballons bedruckt.

Er lächelt auf seine harmlose Art. »Was dein Papa und deine Mama heute Abend gemacht haben.«

Überrascht zieht Mrs Black das Kind an ihre Brust.

»Wann haben sie dich ins Bett gebracht?«, hakt Ralph nach, bevor sich der kräftige Versicherungsvertreter dazwischenschiebt.

»Das ist genug!«, zischt er mit verhaltener Wut.

»Sie haben mich nicht ins Bett gebracht«, antwortet Alice freundlich. Eine Zahnlücke wird beim Lächeln sichtbar.

»Ach nein?«

»Mrs Wittle hat mich ins Bett gebracht.«

»Schon gut, Schätzchen. Du musst wieder ins Bett.« Black nimmt seiner Frau das Mädchen ab und läuft zum Kinderzimmer.

»Mrs Wittle?«, fragt Ralph.

»Unsere Nachbarin«, antwortet Mrs Black. »Sie hilft manchmal als Babysitter aus.«

»Auch heute? Aus welchem Anlass?«

»Du sagst nichts mehr«, ruft Black von der Tür, bevor er Alice nach drüben bringt.

»Sie waren also abends nicht daheim?« Rosy ist nicht immer einverstanden, wenn Ralph die Leute so frech überrumpelt. Manchmal, so wie eben, gibt der Erfolg ihm recht.

»Wir waren aus. Im Kino.« Die Frau nestelt an ihrem Rüschennachthemd.

Black kommt zurück. »Kümmer du dich um die Kleine. Ich rede mit den Leuten.« Er pflanzt sich breitbeinig vor den Ermittlern auf. Wortlos geht Mrs Black ins Kinderzimmer.

»Sie waren im Kino?« Ralph und Rosy werfen einander einen Blick zu.

»Lassen Sie uns das nicht hier besprechen«, erwidert der Versicherungsvertreter.

»Lieber auf dem Kommissariat?«

»Ja. Ist besser so.« Sein Ton hat sich verändert. Etwas Eindringliches liegt darin. »Geben Sie mir ein paar Minuten zum Anziehen.« Black zeigt zum Wohnzimmer. »Nehmen Sie so lange Platz.« Er verschwindet ins angrenzende Zimmer. Von nebenan ist Mrs Black zu hören, sie singt ein Kinderlied.

Ich bin nicht ins Bett zurückgegangen, habe zu arbeiten versucht und bin am Schreibtisch eingenickt. Als ob man sich in dieser Nacht auf Keksdosen konzentrieren könnte. Früh kommt die Dämmerung. Mit knackenden Gelenken stehe ich auf, strecke mich. Es ist noch Kaffee übrig, keine volle Tasse. Es reicht als Verzögerung dessen, was ich tun muss. Ich gieße den schwarzen Rest in einen Henkeltopf und mache ihn heiß. Die Brühe schmeckt wie etwas zum Abgewöhnen.

Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder das Pflanzenschutzmittel hat sich durchgesetzt, dann finde ich Zehntausende Leichen unter meinem Lorbeer. Die andere Möglichkeit möchte ich mir gar nicht ausmalen, nicht am frühen Morgen. Soll ich im Schlafanzug gehen? Wer sieht mich auf dem eigenen Grundstück schon? Gartenpantoffel ohne Socken machen beim Laufen ein schmatzendes Geräusch.

Das Schloss mutet idyllisch an, das Rosenlicht verschleiert den Verfall. Dunst über den Beeten, die Tulpen heben sich ihre Farben für den Moment auf, wenn die Sonne kommt. Die Einsäumungen sind ockerfarben, das Grau des Nussbaums lichtet sich. Den Lorbeer wird die Sonne als Letztes erreichen. Mit auf dem Rücken verschränkten Armen nähere ich mich der Nordecke. Am Buchentor bleibe ich stehen. Ich wünschte mir mehr Hoffnung.

Habe ich das Wunder nicht schon einmal erlebt? Der Junikäfer saß in meinem Schneeball – Viburnum amplifolium. Der genügsame Strauch stammt aus der chinesischen Provinz Yunnan, er trägt duftende, schneeballförmige Blüten, die manchmal sogar im Winter austreiben. Die Herbstfärbung des Laubes vergoldet meinen Sträucherwall. Die Früchte sind purpurfarben bis schwarz.

Der Junikäfer ist der schlimmste Feind des Schneeballs. In dem Jahr, als die Plage ausbrach, surrte und schwirrte es in ganz Gloucestershire. Meine Sträucher hatten Blüten getrieben, die den Käfer nicht interessieren. Stattdessen fraß er sich gierig durch das Laub, bis von den Blättern nur noch Gerippe übrig blieben. Ich stand kurz davor, die Sträucher bis auf Kniehöhe zurückzuschneiden. Rosy und ich kannten uns damals noch nicht, ich warb um Debbie Macmillan und telefonierte häufig mit ihr. Auch im Garten der Macmillans tobte der Junikäfer. Der Lord vertraute auf die traditionelle Methode, wonach der Rasen vor Einbruch der Dämmerung mit einem Vlies abgedeckt wird. Die Käferweibchen legen ihre Eier im Gras ab, die Larven ernähren sich von Gräsern und Wurzeln. Ist der Rasen zugedeckt, können die Weibchen nicht abheben, die weitere Begattung wird unterbunden.

Debbie hatte von einem neuen biologischen Hilfsmittel gehört. Es handelte sich um parasitäre Pilze, die auf den Rasen gestreut werden. Der Pilz verbreitet sich rasant, wobei seine Sporen in die Larven des Junikäfers einwachsen und diese zum Absterben bringen.

Ich bestellte den Pilz, brachte ihn auf der Grasfläche nahe meiner Viburnum amplifolium aus und wartete. Eine nervenaufreibende Zeit, denn mein Schneeball wurde auf das Grausamste zerfressen. Doch irgendwann im Hochsommer verschwand der Käfer von einem Tag auf den anderen. So hatten meine Sträucher bis zum Herbst noch genügend Zeit, neu auszutreiben. Frische Zweige wuchsen, hellgrüne Blätter wucherten, und als der erste Schnee fiel, blühte der Schneeball sogar. Der Parasitenpilz hat eine Lebenserwartung von 15 Jahren. Tatsächlich ist der Junikäfer seither in meinem Garten nie wieder aufgetaucht.

Diese Erinnerung lässt mich den Lorbeergarten in optimistischeren Farben sehen. Ich straffe das Kreuz und trete durch das Buchentor. Auf den ersten Metern sieht der Lorbeer nicht übel aus. Die Pflanze hat gelitten, nach der Giftspritze nur verständlich, schlapp hängen die Blätter, die Äste sind graublau. Das Pestizid wird sich erst nach einiger Zeit verflüchtigen. Alles wirkt wie am Tag nach der Apokalypse. Nur die Leichen auf dem Boden fehlen. Wo sind die verendeten Fliegenkinder?

Ich hebe den ersten Zweig an. Wo sich die geflügelte Laus gestern als Einzelgänger satt gefressen hat, sind heute Klumpen von Insekten. Sie haben sich zusammengerottet. In der Rotte sind sie stark, in der Rotte konnten sie überleben. Sie hüpfen nicht mehr, krabbeln nur und haben einen dicken Panzer aus Wachs gebildet, der das Vertilgungsmittel an seinem Tötungswerk hindert. Um sicherzugehen, betrachte ich andere Zweige: überall das Gleiche. Die Laus ist angeschlagen, aber sie lebt. Mein Angriff war erfolglos. Ich habe ökologische Richtlinien missachtet und die härteste Waffe eingesetzt, die es legal zu kaufen gibt. Ich wollte meinen Lorbeer retten. Jetzt sind die Sträucher von der Chemiekeule genauso angeschlagen wie der Schädling. An manchen Zweigen sondert die Pflanze bläulichen Schaum ab. Eine Wiederholung der Prozedur verbietet sich. Im Schlafanzug sinke ich zu Boden, setze mich in den Kies und lasse meiner Ratlosigkeit freien Lauf. Jetzt erst, und das bedaure ich insgeheim, kommt mir die Tote auf der Treppe in den Sinn. Sie starb vor meiner Haustür. Wie respektlos von mir, an diesem Morgen nur an meine Leichen zu denken. Kann ein Tag trostloser beginnen?