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Salubritas et Eruditio, Gesundheit und Bildung, lautet der Wahlspruch von Cheltenham. Als Universitätsstandort hat die Stadt weniger Bedeutung als durch das Cheltenham College, eines der renommiertesten Internate des Landes, und durch die internationalen Pferderennen. Rennbahn und Internat liegen außerhalb, die Universität im Zentrum.

Bei bedecktem Himmel steuert Ralph auf Cheltenham zu. »Wer geht mitten in der Nacht ins Labyrinth?«

»Liebespaare.« Rosy hat den gerichtsmedizinischen Bericht auf dem Schoß. »Die Kondome, die morgens unter Lady Carolines Statue liegen, beweisen es. Könnte Miss Perry aus diesem Grund dort gewesen sein?«

»Jock hat keine Anzeichen einer sexuellen Betätigung festgestellt.« Ralph nimmt die Kurve sportlich. »Auch keinen Hinweis auf Nötigung oder sonstige Gewaltanwendung. Nur die Schläge auf den Kopf.«

Rosys Blick schweift über den Golfplatz. Schlaff hängen die Fähnchen, nicht ein Spieler ist zu sehen. »Woher kam Miss Perry an diesem Abend? War sie allein, kam sie zusammen mit ihrem Mörder? Ist er ihr gefolgt, hat er sie überrascht?«

Obwohl der Tacho 40 Meilen anzeigt, beugt Ralph sich zu den Nahaufnahmen auf Rosys Schoß. »Sechs Schläge, aber nur einer war tödlich. Glatter Bruch des Dens axis, Durchtrennung des Rückenmarks.«

»Schau lieber auf die Straße.« Sie nimmt die Mappe hoch. »Man muss schon sehr gut zielen, um einen Schlag so zu platzieren.«

»Woher stammte die Waffe? Hat der Täter sie mitgebracht?« Ralph bremst vor dem Kreisverkehr, Rosy wird nach vorn gedrückt. Vorsichtig lockert sie den Gurt über ihrem Unterleib.

»Vielleicht lag in den Büschen etwas herum.«

»Onkel und Neffe haben nichts gefunden.«

»Trotzdem sprechen die zügellosen Schläge für eine Tat im Affekt.«

»Vielleicht will der Täter, dass wir das glauben.«

Ralph hält an einer Ampel. »Was ist mit dem Ring an ihrem Finger? Ein kleiner Stein, nicht besonders wertvoll.«

»Könnte trotzdem ein Geschenk gewesen sein.«

»Vielleicht ein Verlobungsring?«

Rosy schaut zum grauen Himmel.

Sie trägt ihren Ring im Alltag nicht, und ich bin damit einverstanden. Unvergesslich der Abend, an dem ich sie auf die Zinne bat. Das Wetter war wechselhaft, aber ich wollte es nicht anders. Vielleicht auch deshalb, weil mein Vater seinen Antrag auf die gleiche Weise machte. Er bat meine Mutter, eine gebürtige Tourraine, mit ihm den Mittelturm von Sutherly zu besteigen. Dort steckte er ihr den Ring an den Finger, einen ovalen Saphir, gefasst von neun Brillanten. Er ist erst seit dem 18. Jahrhundert der Verlobungsring der Escroynes. Ich kannte Rosy zwei Jahre lang, seit zehn Monaten hatten wir eine Beziehung. Ich glaube, sie wusste trotzdem nicht, weshalb sie die vielen Stufen hochsteigen sollte. Zu der Zeit, als mein Vater ein junger Mann gewesen war, befand sich der Turm in einem besseren Zustand. Als ich mit Rosy hinaufging, war die Treppe an zwei Stellen eingebrochen. Wir bewegten uns dicht an der Mauer entlang.

Normalerweise ist der Blick von unserer Zinne prachtvoll. Kaum traten wir ins Freie, fing es zu regnen an. Heftige Böen ließen uns von der Brüstung zurücktreten. Der Turm ächzte, dass einem bang werden konnte.

»Komm endlich raus mit deiner Überraschung«, schrie Rosy über den Sturm hinweg. Ihr Haar war ein einziges Gezause, man konnte das Gesicht kaum sehen.

Heimlich nahm ich das Etui aus der Tasche, ging auf mein linkes Knie, das seit dem Fahrradsturz schmerzt.

»Geliebte Rosemary«, begann ich. »Du bist die mutigste Frau, die mir je begegnet ist. Du hast den Mut besessen, einen verarmten Schlossbesitzer in dein Herz zu lassen, einen verrückten Gärtner, dem Pflanzen mehr bedeuten als Menschen. Du hast mich …«

Weiter kam ich nicht. Der Sturm riss die Tür auf, krachend schlug sie in Rosys Rücken. Sie taumelte in meine Arme, ich fing sie, konnte sie auf dem lädierten Knie aber nicht halten. Wir stürzten beide hin und rollten auf den Steinboden voller Staub und Schutt. Das Etui entglitt mir. Ängstlich, dass es durch eine Schießscharte fallen könnte, tastete ich danach.

»Was suchst du?«, rief Rosy.

»Deinen Verlobungsring!«

Sofort war sie ebenfalls auf den Knien. Nach ein paar Sekunden hatten wir das Kästchen gefunden. Bei Sturm und Regen öffnete ich es, im Zwielicht des Gewitters sah Rosemary den Saphir zum ersten Mal. Wortlos steckte ich ihr den Ring an, ohne dass sie mir ihr Jawort gegeben hatte. Er passte. Mehr Zustimmung brauchten wir nicht. Wir küssten unsere nassen Gesichter, umarmt flohen wir ins Trockene. Rosy trug den Ring in dieser Nacht und am darauffolgenden Morgen. Bevor sie zum Dienst aufbrach, zog sie ihn ab und verwahrt ihn seitdem in ihrer persönlichen Truhe.

»Ich kann so einen Ring nicht bei der Arbeit tragen. Er ist zu kostbar, zu auffällig.«

»Das verstehe ich.«

»Nicht, dass ich es nicht wollte. Ich würde ihn liebend gern tragen.«

»Es geht eben nicht.«

»Verlobt sind wir trotzdem«, sagte sie. »Ich will verlobt sein, es gefällt mir gut.«

Die Ampel springt um. Ralph biegt in die Fairview Road.

»Bei St. Margaret’s hättest du rechts gemusst«, sagt Rosy mit eigenartigem Lächeln.

»Warum sagst du mir das nicht früher?«

»Ich dachte, du kennst die Universität.«

Ohne eine Möglichkeit zu wenden fährt Ralph an dem altehrwürdigen Gebäude vorbei.

»Ich bringe Sie zu Mr Gaunt.« Die Sekretärin bittet die Polizisten weiter. Der Korridor führt über schwarze und weiße Quadern. Vom Deckengewölbe grüßt ein marmorner Engel. Das Licht bricht sich in den Butzenscheiben des Spitzbogenfensters.

»In dieser Umgebung wird unsere Jugend auf die Wirklichkeit vorbereitet?«, raunt Ralph.

»Eine schreckliche Tragödie«, sagt die Sekretärin über die Schulter. »Weiß man schon Genaueres?«

Rosy erstickt ihre Neugier im Keim. »Wie viele Studenten hat Mr Gaunt?«

»Als Tutor betreut er mehrere Jahrgänge. In der Gruppe von Miss Perry sind es vierzehn.«

Bevor die Sekretärin die Klinke berührt, geht die Tür auf. Ein Mann im grauen Anzug tritt auf Ralph zu.

»Guten Tag, Inspector, ich bin Edward Gaunt.«

»Ich bin Sergeant Bellamy.« Ralph schüttelt seine Hand. »Das ist Detective Inspector Daybell.«

»Oh, verzeihen Sie.« Der Mann fährt sich durch den Dreitagebart. Seine Krawatte sitzt locker, er neigt zur Korpulenz.

Rosy geht als Erste hinein. Mr Gaunt bietet den Gästen Stühle an, er selbst bleibt vor dem Fenster stehen. Die alten Butzenscheiben schaffen einen unruhigen Hintergrund.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist unvorstellbar.«

»Was ist unvorstellbar, Mr Gaunt?«

»Dass Miss Perry nicht mehr bei uns ist.«

»Was studierte sie?«

»Lehramt. Sie wollte Grundschullehrerin werden.«

»Wie lange sind Sie schon ihr Tutor?«

»Im Sommer werden es drei Jahre. Ich selbst unterrichte Englische Literatur und Sport. Als Tutor bin ich vor allem für die Vernetzung von Theorie und Praxis zuständig.«

»Wie sieht das aus?«

»Im Herbsttrimester widmen wir uns Fragen der Pädagogik, im Frühling geht es praktischer zu. Miss Perry stand in der Phase des Microteaching. Das sind erste Unterrichtsversuche, die in der Gruppe diskutiert werden.«

Rosy nimmt ihr Smartphone aus der Tasche. »Was für ein Mensch war Gwendolyn Perry?«

»Verschlossen, würde ich sagen, keine einfache Studentin.« Gaunt zeigt auf das Telefon. »Zeichnen Sie das auf?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben. Was meinen Sie mit verschlossen?« Sie legt das Handy auf den Schreibtisch.

»Nach dem ersten Jahr sagte ich ihr, dass sie an ihrer Persönlichkeit arbeiten müsse, vor allem im sozialen Umgang. Sie war – wie soll ich sagen? Der Ausdruck Hybris trifft es am besten. Gwendolyn behandelte die Menschen gern von oben herab.« Er hebt die Schultern. »Ich erlebe das immer wieder bei jungen Frauen, die besonders attraktiv sind.«

»Und das war Miss Perry?«

»Das kann man wohl behaupten.«

»Hat sich nach Ihrem Gespräch an ihrem Auftreten etwas verändert?«

Gaunt stößt sich vom Fensterbrett ab. »Was einen guten Lehrer ausmacht, ist weniger sein Fachwissen oder die Lehrmethode. Das Wichtigste ist Beständigkeit. Der Lehrer ist der Fels in der Brandung kindlicher Unberechenbarkeit. Durch ihn lernen junge Menschen, aus ihrer Fantasiewelt, in der noch alles möglich ist, einzutreten in die Welt der Wirklichkeit und ihrer Grenzen.«

»Wäre Miss Perry eine gute Lehrerin geworden?«

»Ich war zuversichtlich. Dass sie halbtags mit Kleinkindern arbeitet, trug zu ihrer Entwicklung bei.«

»Sie wussten von ihrem Job?«

»Ich habe ihr die Stelle bei Mrs Lancaster vermittelt.«

»Wie kam das?«

Gaunts Züge werden weicher. »Als Tutor erfährt man viel. Ich fand heraus, dass Gwendolyns Mutter ihr den Studienaufenthalt nicht bezahlen konnte. Gwendolyn brauchte Geld. Mrs Lancaster, die Leiterin der Toddler, ist eine Freundin meiner Frau. Sie hat schon öfter ausgeholfen, wenn eine Studentin sich nebenbei was verdienen wollte.«

»Lassen Sie uns über gestern reden. Haben Sie Miss Perry gesehen?«

»Erst abends. Da findet unser Gruppenseminar statt. Der Jahrgang tauscht sich über Praxiserfahrungen aus. Das Seminar geht von halb sieben bis acht Uhr.«

»Wie viele Studenten waren zugegen?«

»Das Treffen ist Pflicht. Soweit ich weiß, waren alle da.« Er schlägt ein ledergebundenes Buch auf. »Bis auf Ogilvy.«

»Ist das Ihr Klassenbuch?«

Unaufgefordert dreht er es in Rosys Richtung. Sie betrachtet seine dezidierte Schrift.

»Was hat Miss Perry nach dem Ende des Kurses gemacht?«

»Das weiß ich nicht.«

»Ihr Vermieter sagt, dienstags ginge sie meistens aus.«

»Gut möglich.«

»Sind Sie bei solchen Treffen nie dabei?«, fragt Ralph.

»Nein. Wieso?«

»Ein wenig Geselligkeit mit Ihren Schutzbefohlenen. Oder ein Student möchte einen persönlichen Rat.«

»Dafür gibt es die Einzelsprechstunden.« Gaunt nimmt hinter dem Schreibtisch Platz. »Ich bin verheiratet. Wenn ich mich auch noch außerhalb der Dienstzeit um meine Schäfchen kümmern würde, bekäme meine Frau mich gar nicht zu Gesicht. Studenten sind Parasiten, Detective, liebenswürdig, aber gierig.«

»Hatte Gwendolyn eine feste Beziehung?«

Die Frage scheint ihn nicht zu überraschen. »Miss Perry war ziemlich beliebt, soweit ich das beurteilen kann.«

»Hatte sie Verehrer?«

»Zweifellos. Ich vermute allerdings, dass Gwendolyn keine Zeit für eine feste Bindung gehabt hätte. Vormittags arbeitete sie in der Kinderkrippe, den Rest des Tages an der Uni.«

»Ich würde ihre Kommilitonen gern befragen.«

»Selbstverständlich. Ich bestelle den Jahrgang ein. Heute sind sie allerdings beim Probeunterrichten, über die ganze Grafschaft verteilt.«

»Wie wäre es dann morgen?« Rosy schaltet das Handy ab. »Wann ist die Lunchpause?«

Gaunt ist von der Programmänderung nicht begeistert. »Ich versuche es einzurichten – um zwölf?«

»Danke.« Rosy steht auf. »Wie lange sind Sie verheiratet, Mr Gaunt?«

»Dreizehn Jahre.«

»Haben Sie Kinder?«

»Leider nein. Meine Frau …« Er bricht ab und bringt die beiden zur Tür.

»Waren Sie Dienstagnacht daheim?«

»Allerdings. Sie finden den Weg hinaus?«

Er öffnet den hohen Eichenflügel. Die Polizisten verlassen das Gebäude über weiße und schwarze Quadern.