Rosy trinkt Darjeeling, zu stark für meinen Geschmack. Ich halte mich an meine Hausmischung aus Brombeerblättern und Ingwerwurzel. Rosy im geblümten Morgenmantel, sie trinkt, stellt die Tasse ab, sie schaut an mir vorbei. Spät kam sie heim, aß meinen Reisauflauf mit Karotten ohne besonderen Appetit. Sie nahm sich die Akte Perry vor, bis jetzt ein dünner Ordner. Der Anfang eines Falles, Rosys härteste Zeit. Das Gespinst ist noch hauchdünn, durchlässig, schwer zu greifen. Mit jedem Faden, den sie einzieht, wird Rosy sicherer. Nach und nach findet sie sich in den Kreis der Personen ein, die mit dem Mord zu tun haben. Rosy lernt das Opfer kennen, als wäre es ein guter Freund. Sie erforscht die Trauernden, die Gleichgültigen, die Verdächtigen. Sie lebt mit ihnen, wächst mit ihnen zusammen, wie in einer Familie. Und eines Tages, ich habe es oft erlebt, werden ihr die Verhältnisse klar. Die Familie demaskiert sich, Habgier, Leidenschaft, Rache treten zutage. Plötzlich gibt es nur noch eine Lösung, Rosy benennt sie, beweist sie. Dafür ist sie berüchtigt, auch gefürchtet. In solchen Phasen ist sie angespannt und unruhig. Die Besonnene wird streitlustig, ungerecht. Sie wird zur Zeitbombe. Ich weiß nie, wann sie hochgeht. Sutherly Castle ist riesig, unsere drei Räume sind beengt. Wenn Rosy ihre Stimmung hat, ist die Burg nicht groß genug für zwei. Ich ziehe mich dann meistens in meinen Winkel zurück und gebe vor zu arbeiten. Zugleich lausche ich, was Rosy nebenan tut.
Letzte Nacht blieb sie friedlich, bis wir ins Bett gingen. Ohne Berührung lagen wir nebeneinander, den Blick zur Decke gerichtet.
»Der Zeitpunkt ist noch günstig«, sagte sie.
»Wahrscheinlich«, war meine Antwort in der Dunkelheit.
»Hast du Lust?«
»Und du?«
»Wir könnten es probieren.«
»Einfach so, hauruck? Ein bisschen romantischer stelle ich mir das schon vor.« Ich machte den entscheidenden Fehler.
»Romantik willst du, nach einem Vierzehnstundentag?« Stocksteif lag sie da. »Soll ich Reizwäsche anziehen, um dich in Stimmung zu bringen? Wollen wir erst in die Badewanne, Kerzen anzünden, Kuschelrock hören? Kommst du dir sonst missbraucht vor, ein Zuchtbulle, ein Sklave meines Eisprungs?«
Sie meinte es nicht so. Es tat ihr leid, während sie es sagte, aber die Bombe musste hochgehen, weil Bomben dazu da sind. Ich erwiderte kaum etwas, wahrscheinlich entschuldigte ich mich sogar, bevor ich mich auf die Seite drehte.
Beim Aufstehen legte Rosy eine Mischung aus Bedauern und Beharren auf ihrem Standpunkt an den Tag. Die Stunden, in denen eine Eizelle bereit ist, zum Fötus zu werden, sind gezählt. Ich bin der Schuldige. Ich habe eine gute Möglichkeit vertan.
»Mich wundert, dass sich niemand meldet.« Rosy bläst in den Tee.
»Sich meldet worauf?«
»Eine beste Freundin, ein verliebter Student, ein besorgter Verwandter. Es muss Leute geben, die sich fragen, wo Gwendolyn geblieben ist.«
Den Fall mit mir zu diskutieren ist Rosys Brücke zurück zur Normalität.
»Heute kommt Miss Perrys Mutter aus Birmingham.« Sie seufzt. »Das wird hart. Es geht nur um Formalitäten, trotzdem wird es hart. Es ist schrecklich, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt.«
»Und auf diese Weise.«
»Die Leiterin der Kinderkrippe, in der Miss Perry arbeitete, hat sich gestern krank gemeldet. Ich fahre jetzt dorthin.«
»Aha?« Ich wittere nichts Bestimmtes, da ist nur etwas, das mich wachsam macht.
»Kommst du mit?«
Ich tue, als hätte ich es nicht begriffen. »Ich soll dich bei den Ermittlungen begleiten?«
»Warum nicht?« Ein scheues Lächeln. »Schau dir die Krippe an. Die Lage wäre nicht schlecht. Morgens könnte ich das Kind dort absetzen, nachmittags holst du es ab.«
»Welches Kind?« Ich nehme ihre Hand. Die Schwertlilie wünscht es sich so sehr. Und ich habe letzte Nacht meine Mitwirkung verweigert. »Es gibt keine gute Lage, wenn man von Sutherly irgendwohin will.«
Rosy senkt den Blick aufs Frühstücksei. »Wir könnten uns eine Wohnung in der Stadt suchen.«
»Als Zweitwohnung? Wie sollen wir uns das leisten? Die Erhaltung des Schlosses verschlingt jetzt schon alles, was ich habe.«
Sonst köpft Rosy ihr Ei mit morgendlichem Schwung, diesmal klopft sie vorsichtig daran, als könnte auch hier ein neugeborenes Wesen ausschlüpfen. »Wenn ich schwanger würde, wärst du bereit, Sutherly zu verlassen?«
Mir bricht der Schweiß im Rücken aus. »Verlassen?« Ich buttere mein Rosinenbrötchen.
»Ein Kind hier oben, in dieser Bruchbude, das geht nicht.« Sie meint es genau so, wie sie sagt.
»Neunhundert Jahre lang wurden hier Kinder geboren, aufgezogen und behütet«, antworte ich verhalten. »Soweit ich weiß, ist keines in den Burggraben gefallen.«
Rosys blau blitzender Blick erschreckt mich. Die Butter läuft vom heißen Brötchen.
»Kinder waren hier glücklich. Ich war es, so lange ich mich zurückerinnern kann.«
»Überall lauern Gefahren.«
»Man kann toll spielen. Es ist ein einziges Abenteuer.«
»Für ein Baby?«
»Ein Schloss, Rosy. Du brauchst dem Baby nichts von Schlössern und Prinzessinnen vorzulesen. Es lebt im Schloss, es ist eine Prinzessin.«
»Wieso kein Prinz?«
»Ja, sicher, auch gut, wie du willst.«
»Jedes Zimmer liegt auf einer anderen Ebene. Wie stellst du dir das mit dem Kinderwagen vor?«
»Ich baue Rampen ein.«
»Die Balkonbrüstungen sind zu niedrig. Er kann hinunterstürzen.« Sie vergisst, ihr Ei zu salzen.
»Die Menschen im Mittelalter waren kleiner, sie brauchten keine hohen Geländer. Und wenn ich mich nicht täusche, ist er zu Beginn auch ziemlich klein.« Meine Hand umkrampft das Buttermesser. »Später spanne ich Hasengitter um den Balkon.«
»Was, wenn er krank ist? Wie komme ich zum Arzt? Soll ich erst 106 Stufen nach unten rennen?«
»Wir suchen uns einen sportlichen Arzt, der gern zu uns hochjoggt.«
Ärgerlich lehnt Rosy sich zurück. Die Vase mit der Hyazinthe schwankt.
»Ich bin schon einmal fort gewesen.« Ich lege das Messer hin. »Mein Vater, ein gütiger Mensch, glaubte, es sei der beste Weg, einen Mann aus mir zu machen. Er schickte mich ins Internat. Nach Cheltenham, verstehst du, nur ein Katzensprung, aber ich glaubte, er schickt mich auf den Mond. Nie wieder war ich so unglücklich. Zwei Jahre lang bemühte ich mich, meinen Vater nicht zu enttäuschen, und blieb. Die Furcht, für immer abgeschoben zu werden, das permanente Heimweh … Ich wurde krank. Ich hatte Ausschlag am ganzen Körper.« Ich breche ein Stück vom Brötchen ab. »Bei Nacht und Nebel bin ich abgehauen. Zu Fuß. Es dauerte zwei Tage, bis ich daheim war. Ich brauchte meinem Vater nichts zu erklären. Er verlangte nicht, dass ich zurückgehe. Ich glaube, es hat ihn sogar glücklich gemacht, dass ich so an Sutherly hänge. Das hier«, ich zeige auf die Wände, die dringend gestrichen gehören, »ist alles, was eine Schnecke wie ich will. Nimm ihr das Haus weg, und sie geht ein.«
Rosy sitzt nur da. Meine Geschichte berührt sie, an ihrer Haltung ändert es nichts.
»Bis jetzt existiert der kleine Prinz doch nur in unserer Vorstellung.« Ich merke, dass mein Messer auf sie zeigt, und drehe es weg.
»So siehst du das also. So ernst ist es dir mit unserem Kind.«
»Es ist mir ernst. Aber verlangst du, dass ich Sutherly auf Verdacht verlasse?«
Rosy steht auf. Ungekämmt sieht ihr Haar aus wie ein Wischmopp. Gleich wird sie es nach hinten frisieren und eine Schirmmütze darüberstülpen. Im Hinauslaufen wirft sie den Bademantel ab.
»Rosemary! Du musst was essen.«
Es wird ein übler Tag. So etwas weiß ich. Ich kann es am Himmel ablesen, an der Art, wie die Gänse fliegen, oder daran, ob mir das Frühstücksei gelingt. Nach Rosys Aufbruch spüle ich nicht wie sonst, mache nicht die Betten, arbeite nicht. Ich möchte in den Garten. Unter der Linde setze ich mich auf die geschnitzte Bank. Die Wolken lockern auf, über Sprocklards Fall ahnt man schon die Sonne. Dieses Jahr blühen im Inselbeet Adonisröschen und Kriechender Günsel, in den schlangenlinienförmigen Beeten wechseln sich Tausendschön und Gefleckter Aronstab ab.
Ich sollte mich nicht morgens mit Rosy anlegen, wenn ihr Verstand geschärft, ihr Geist angriffslustig ist. Wenn sie nach einem aufreibenden Tag die 106 Stufen hochkeucht, könnte ich es mit meiner Schwertlilie aufnehmen. Doch dann will ich ihr Behaglichkeit verschaffen.
Mein Topiari ist nicht groß. Ich habe die Berberitzensträucher stufenförmig angelegt, dahinter beginnt der eigentliche Formgarten aus immergrünem Königslorbeer. Die Spiralform der Hecken überblickt man am besten vom Fenster unseres Schlafzimmers. Ich mag weniger den ornamentalen, eher den architektonischen Gartenschnitt. Das Topiari muss dreimal jährlich geschnitten werden: nach dem Austrieb im Frühling, zum Sommerende und, wenn der Herbst mild war, vor dem Winter. In diesem Jahr kam die Wärme früh, es juckt mich, hier und da die Schere anzusetzen. Ich trete durch das Buchentor.
Die Lorbeerblätter scheinen vom Jahreszeitenwechsel verfärbt zu sein. Ich ergreife den erstbesten Zweig. An der Oberseite ist nur die Verfärbung festzustellen. Ich drehe ihn um. Manche Blätter sind verkrüppelt, andere bis an die Kapillaren abgefressen.
Ein Killer sucht meinen Garten heim. Wann ist er eingedrungen, wie konnte ich ihn übersehen? Wie unter Schock drehe ich mich im Kreis, fasse hierhin, dahin, überall die Spur der Vernichtung. Der Täter ist entkommen. Er hat sich heimtückisch davongemacht und eine schleimige Fährte zurückgelassen. Nachdem das Wirtstier sich satt gefressen hatte, überließ es die Blätter seiner Brut. Vorsichtig berühre ich das bläuliche Gespinst auf der Unterseite. Wie Wachs fühlt es sich an, schmiert zwischen den Fingern und klebt. Ich zerdrücke es, da kriecht eine winzige Fliege aus dem Kokon, noch eine, immer mehr von ihnen. Als ich sie zerquetschen will, springen sie davon. Sie haben Flügel, fliegen aber nicht, sie hüpfen. Ich richte mich auf, schaue über die Kugeln und Quader, die ich dem Lorbeer aufgezwungen habe. Die Hoffnung, der Schädling möge sich auf wenige Sträucher beschränken, ist einfältig. An vielen Stellen entdecke ich die Verfärbung, in der Nähe der Wurzel genauso wie an den Kronen. Wo ich hinlange, kriecht die Fliegenpest aus den klebrigen Nestern, ein Drittel des Lorbeergartens ist befallen.
Mein Vater starb an einer Krebsart, wie sie peinigender nicht sein kann. Bei vollem Bewusstsein erlebte er, wie sich sein Körper von innen auffraß. Er klagte wenig und starb voll Würde. Die Sinnlosigkeit, mit der mein Vater den Befall seines Körpers bekämpfte, steht in diesem Moment vor mir, das Wissen, dass man am Ende nichts ausrichten kann.
Ich kenne fast alle Schädlinge, weiß, zu welcher Jahreszeit sie auftreten und wie man sie bekämpft. Der Lorbeerkrebs scheidet aus, er bildet orangefarbene Fruchtstände an den Schnittflächen der Blätter. Aus China wurde der Buchsbaumzünsler eingeschleppt. Ähnlich gefräßig, sind die Raupen dieses Schmetterlings nicht bläulich, sondern beige, sie hinterlassen helle Kotkrümel. Mottenschildlaus oder Trauermücke wären eine Möglichkeit. Ich habe die Mottenschildlaus aus meinem Gewächshaus in übler Erinnerung. Vor ein paar Jahren fiel ihre Plage so heftig aus, dass ich das Glashaus nicht mit offenem Mund betreten konnte, so dicht schwirrte das Ungeziefer. Aber die Fliegen auf meinem Lorbeer sind nicht weiß, sondern schwarz und länglich.
Ich greife zum Telefon. Auch im Garten trage ich es bei mir, manchmal ruft Rosy an, weil sie es nicht zum Essen schafft, manchmal hat sie einen Gemüsewunsch. Egal, ob sie sich über eine Leiche beugt oder jemanden verhört, für mich hat Rosy Zeit.
»Rosemary?«
»Hmmm?« Mehr nicht. Niemand soll merken, dass das Gespräch privat ist.
»Eine Katastrophe.«
»Aha?«
»Im Lorbeer sitzt die Pest. Das ganze Topiari ist befallen.«
»Wann hast du das entdeckt?«
»Gerade erst. Alles ist zerfressen.«
»Ich rufe dich zurück.«
»Wann? Wir müssen überlegen, wie man den Killer unschädlich macht. Kann sein, dass ich den Lorbeer komplett abholzen muss.«
»Dazu kommt es nicht. Kein Schädling ist dir gewachsen.«
Rosy weiß, wie sie mich ruhigstellt. Sie hat oft miterlebt, wenn mich Panik überfiel. So weit ich mich zurückerinnere, kam es am Ende nie so schlimm wie in meiner Vorstellung. Lässt sich daraus eine Regel ableiten, oder könnte diesmal der Ernstfall eintreten, die Vernichtung jahrelanger Bemühungen, das Ende meines Gartens?
»Am besten, du holst Dr. Merediaths Standardwerk hervor«, sagt Rosemary, »und grenzt ein, was es sein könnte.«
»Der Zünsler scheidet aus. Bei den Thripsen bin ich nicht sicher, weil der Kokon so klebrig ist – vielleicht eine Mutation. Durch die chemischen Dünger verändern sich die Spezies rasant …«
»Arthur?«
»Ja?«
»Ich kann mir das jetzt nicht anhören.«
»Nicht? … Entschuldige. Wir reden in Ruhe darüber.«
»In aller Ruhe.«
»Wann kommst du? Ich schmökere schon mal bei Dr. Merediath.«
»Kopf hoch«, sagt sie. Dann ist die Leitung tot.
Auch wenn ich keinen Rat bekommen habe, ist es heilsam, mit Rosemary zu sprechen. Sie kennt die Wege aus einer Katastrophe, sie reduziert ein Ereignis auf das Wesentliche und lässt sich durch das Erscheinungsbild nicht täuschen. Als beim Fall Shrewmaker die beweiskräftigen Patronenhülsen am Tatort nicht zu finden waren, kriegte Rosy raus, dass die Grauhörnchen in unseren Wäldern die Eigenschaft haben, glänzende Gegenstände zusammen mit ihren Wintervorräten einzulagern. Ein Großaufgebot an Polizisten fand die Patronenhülsen 100 Yards entfernt in einer hohlen Eiche. Im Kindermordfall Howe überführte Rosy die Mutter des Mädchens mithilfe alter Kinderfotos als Mörderin. Die Frau hatte ihre Tochter ertränkt, weil das Kind nicht seinem Vater, sondern Mrs Howes heimlichem Geliebten mit jedem Jahr ähnlicher sah.
Es gibt Synapsen in Rosys Gehirn, über die ich nicht verfüge. Sie stellt die Verbindung zwischen scheinbar zusammenhanglos nebeneinanderstehenden Ereignissen her. Mit Rosys Hilfe werde ich den Ursprung der Fliegenpest herauskriegen und ein Mittel gegen den Killer finden. Mit neuem Mut verlasse ich den Garten.