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Leider kann niemand bezeugen, wo Sie zur Tatzeit waren, Mrs Lancaster.«

Nachdem Rosemary und Ralph im Kindergarten zwanzig Minuten hatten warten müssen, bat die Leiterin sie ins Büro. Die Verzögerung entschuldigte sie mit einem Vorstellungsgespräch. Sie müsse die Stelle von Miss Perry so schnell wie möglich nachbesetzen, der Kindergarten sei überbelegt.

Die Ermittler sitzen auf denselben Stühlen wie tags zuvor, hinter der Glasscheibe spielen die Kinder. Nur die Stimmung hat sich geändert, sie ist aggressiv, geradezu feindselig.

»Was meinen Sie mit bezeugen«, fragt die Lancaster mit verkniffenem Mund. »Sind Sie alleinstehend, Inspector?«

»Nein.« Für einen Moment ist Rosy irritiert.

»Nehmen wir an, Sie wären geschieden, wie ich. Wer könnte bezeugen, dass Sie um ein Uhr nachts im Bett gelegen haben?«

Verrückte Bilder gehen Rosy durch den Kopf. Zwei Körper, die sich auf einem Bett herumwerfen, in dem Queen Elizabeth I. einmal schlief. Die Kommissarin verscheucht die Bilder.

»Das würde ich Ihnen gern glauben, Mrs Lancaster«, antwortet sie. »Hätte es diesen Anruf nicht gegeben.«

Abrupt wendet die Rothaarige sich zu Ralph. »Ich bin immer noch außer mir, Sergeant! Wie konnten Sie das tun? Ich habe meinen Anwalt eingeschaltet.«

Ralph kratzt sich an der Schläfe. »Dem sehe ich gelassen entgegen, Mrs Lancaster.«

Fakt ist, dass Ralph die Kindergartenleiterin zu Hause besuchte und sie noch einmal zu ihrem Alibi befragte. Als sie ihn ein paar Minuten allein ließ, bemerkte er den Anrufbeantworter neben dem Couchtisch. Drei Nachrichten waren gespeichert. Ralph drückte den roten Knopf und hörte die Anrufe ab.

Rosy findet sein Verhalten tadelnswert, sie selbst lehnt solche Methoden ab. Heimlich bewundert sie ihn dafür, dass er es mit der Dienstvorschrift nicht so genau nimmt. Sein kleiner Trick brachte ein interessantes Ergebnis.

»Um zwanzig Minuten nach elf rief Ihre Mutter bei Ihnen an und klagte über Schmerzen in der Brust«, sagt Rosy.

»Ich habe geschlafen. Ich habe nichts gehört.«

»Ihre Mutter hat lange und dringlich auf das Band gesprochen. Da Ihr Schlafzimmer gleich nebenan liegt, müssten Sie den Anruf gehört haben.«

Mrs Lancaster faltet die Hände auf dem Schreibtisch. »Es war aber nicht so.«

»Wenn meine Mutter mich mitten in der Nacht anruft, weil sie Schmerzen hat, würde ich drangehen«, sagt Ralph. »Wollen Sie uns nicht erzählen, was Sie um kurz nach elf gemacht haben?«

Mrs Lancasters Fingerknöchel treten weiß hervor. »Das wissen Sie bereits.«

»Sie bleiben dabei?«

»Haben Sie sonst noch Fragen?«

Rosy lenkt ein. »Gab es in letzter Zeit ein besonderes Ereignis im Leben von Miss Perry?«

»Spielen Sie wieder auf ihren geheimnisvollen Freund an?«

»Das nicht. Ich suche einen Vorfall, der sie veranlasste, ihre Gewohnheiten zu ändern.«

»Inwiefern?«

»Es gehörte nicht zu Gwendolyns Gewohnheiten, nachts ins Labyrinth zu laufen.«

»Vielleicht war sie dort verabredet.«

»Mit wem?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Nach meiner Erfahrung ändern die Menschen ihr tägliches Leben so lange nicht, bis ein äußerer oder innerer Anlass sie dazu zwingt.« Rosy beugt sich vor. »Bitte helfen Sie mir. Sie haben Gwendolyn täglich gesehen, Sie waren ihre Vertraute. Was könnte ihr Leben verändert haben?«

Da ist es wieder, das Lächeln von Frau zu Frau. Die Zuversicht, dass man der Kommissarin trauen darf. Mrs Lancaster macht ein paar Schritte zum Fenster. »Mir fällt nur die Sache mit Alice ein. Das ist schon einige Zeit her, aber es war ein schlimmer Schock für Gwen.«

»Wer ist Alice?«

»Ein Kind in unserer Obhut.«

Rosy wirft einen Blick durch die Scheibe.

»Sie ist nicht mehr hier. Ihre Eltern haben sie rausgenommen.«

»Weshalb?«

Mrs Lancaster wirkt nun gefasster. »Unser Garten ist leider klein, darum gehen wir bei schönem Wetter mit den Gruppen woanders ins Freie. Manchmal auf den Spielplatz oder auch bis Cherry’s Wood. Gwen war Volontärin, das heißt, sie wurde einer Gruppe als Zweitbetreuerin zugeteilt. Die Verantwortung trägt eine hauptberufliche Kindergärtnerin.«

»Werden alle Gruppen von zwei Frauen betreut?«

»Das ist Vorschrift, damit jemand da ist, wenn eine mal hinausmuss.« Mrs Lancaster kehrt zu Rosy zurück. »Gwendolyns Augenmerk gehörte Kindern, die scheuer waren, die nicht im Mittelpunkt standen, sich nicht so viel trauten. Mir hat das gefallen.«

»Alice war so ein Kind?«

»Ein Mädchen, das aus ihrem Elternhaus die Überzeugung mitbrachte, das Leben sei grundsätzlich gefährlich. Kein Wunder, ihr Vater ist Versicherungsvertreter. Alice traute sich nicht auf die Wippe, sie fürchtete sich vor Hunden, vor lauten Motorrädern, vor der Müllabfuhr. Sie hatte sogar Angst vor Theodore, unserer Schildkröte, der harmlosesten Kreatur der Welt. Ich fand es richtig, dass Gwen das Kind zu mehr Courage ermutigte.«

»Was ist mit Alice passiert?«

»Die Sache war an und für sich harmlos. Eine alte Lady kam mit ihrem Hund nach Cherry’s Wood. Die Kinder machten auf der Wiese Lärm, der Hund lief hin und wollte spielen. Die anderen begrüßten ihn, Alice fürchtete sich vor ihm. Gwen wollte ihr zeigen, wie lieb der Hund war. Sie warf ihm sein Bällchen, er brachte es wieder. Gwen gab Alice den Ball. Der Hund sprang an ihr hoch, sie fing zu schreien an. Das Tier spürte Alices Angst, knurrte und bellte, in Panik rannte sie davon und gelangte auf die Straße.«

Mrs Lancaster hebt die Hand. »Keine dicht befahrene Straße, nur eine asphaltierte Schneise durch den Wald. Der Wohnwagen bremste und wich aus, aber Alice stand wie angewurzelt da. Das Heck des Trailers streifte sie und schleuderte sie ins Gebüsch. Zuerst sah es schlimm aus. Wir fürchteten, sie wäre querschnittsgelähmt. Gottlob war die Wirbelsäule unverletzt. Es hatte sie an der Hüfte erwischt.«

Rosy schaut zu den Kindern hinüber. Kann einer Mutter, einem Vater etwas Schrecklicheres widerfahren? Sie hat genug Vorstellungskraft, sich den Schmerz einer Familie vorzustellen, wenn das geliebte Kind durch Fahrlässigkeit zu Schaden kommt. »Gab es ein Verfahren?«

»Die Staatsanwaltschaft prüfte den Fall, entschied aber, dass die Betreuerinnen sich nichts hatten zuschulden kommen lassen.«

»Hätten Sie die beiden Betreuerinnen nicht trotzdem entlassen müssen?«, fragt Ralph.

Energisch wendet sich Mrs Lancaster zu ihm. »Das haben einige von mir erwartet. Von Seiten der Eltern gab es erheblichen Druck. Ich habe zu meinen Mitarbeiterinnen gehalten.«

»Was unternahmen die Eltern des Mädchens?«

»Sie ließen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nicht gelten und strengten eine zivile Klage an.«

»Auf welcher Grundlage?«

»Sie wollten Gwendolyn Fahrlässigkeit und Unterlassung der Aufsichtspflicht nachweisen. Sie forderten eine hohe Schmerzensgeldsumme, weil Alice lebenslang gehandicapt sein wird.«

»Hatte die Klage Erfolg?«

»Sie wurde abgewiesen. Die Blacks müssen akzeptieren, dass es ein tragischer Unfall war.« Mrs Lancaster hebt den Kopf. »Sie glauben doch nicht, diese Familie hätte etwas mit Gwendolyns Tod zu tun?«

»Ist Ihnen der Gedanke noch nicht gekommen?«

»Keine Sekunde.«

»Auf welche Weise hat dieses Erlebnis Gwendolyn verändert?«, fragt Rosy.

»Sie war still, nachdenklich, oft so traurig, dass es mir das Herz zusammenschnürte.«

»Wie lange ist das her?«

»Der Unfall passierte vor fast einem Jahr. Aber die Sache mit den Eltern zog sich bis vor Kurzem hin. Alice … Sie spielte so gern Himmel und Hölle. Das wird sie nun nie wieder können.«

»Wie, sagten Sie, heißen die Eltern von Alice?«, fragt Ralph.

»Black. Sam und Iris Black.«

»Die beiden wohnen nicht zufällig in der Waverly Terrace?«

»Doch«, antwortet Mrs Lancaster überrascht. »Woher wissen Sie das?«

Die Ermittler sehen sich an. Nun begreift auch Rosy, was er meint.

»Wissen Sie, ob Gwendolyn die Familie Black einmal aufgesucht hat?«

»Das hat sie. Es muss schrecklich gewesen sein.«

»Wieso?«

»Gwen wollte den Eltern persönlich ihr tiefes Bedauern aussprechen und ging mit einem Blumenstrauß zu ihnen. Ein eiskalter Wind, so hat sie mir die Begegnung geschildert. Die Eltern hätten sie nur in den Flur gelassen, die Blumen nicht entgegengenommen und Gwen beschimpft. Selbstverständlich gestatteten sie ihr nicht, Alice zu sehen.«

»Beschimpft? Auf welche Weise?«

Mrs Lancaster begreift, wie man ihre Aussage interpretieren könnte. »Im Schmerz sagt man wahrscheinlich die schlimmsten Dinge. Es ist doch etwas anderes, einen Menschen zu erschlagen.«

»Vielen Dank, Mrs Lancaster.«

Beim Aufstehen kommen die Gesichter der Frauen einander nahe. Die Leiterin der Kinderkrippe hält dem Schwertlilienblick nicht lange stand. Sie bringt die Polizisten an die Tür.