11
Scharfe Spitzen stachen durch das Segeltuch. Ich spürte das verdammte kleine Picken auf dem ganzen Körper. Die kleinen Schrecken hatten Schnäbel, spitz wie Segs Pfeile! Das brachte mich auf den Gedanken, daß Rollo der Läufer vielleicht so arg zugerichtet wurde, daß er Vallia nie zu Gesicht bekommen und durch die Schneisen voller Lisehnbäume spazieren würde, aus denen man die prächtigen vallianischen Bogenstäbe herstellt.
Ich zuckte zusammen und sprang hoch, als sich die Schnäbel in mein Fleisch bohrten. Aber das Segeltuch und die Pelze schützten vor der Masse der gekrümmten Schnäbel. In der Hauptsache fingen und fraßen diese Vögel kleine Lebewesen, die auf den Baumstämmen lebten, sowie Insekten, die in den Ritzen der Rinde hausten. Was die Xichuns anging, so konnten sie die großen Echsen mit ihrer Folter in den Wahnsinn treiben. Und wenn wir nicht schnell hier herauskamen, würde es uns genauso ergehen.
Die ganze Zeit über hatte meine geistige Wasseruhr die verstreichenden Murs gezählt. Wir mußten das Ende der Öffnung zwischen den Bäumen erreicht haben, durch die ich unseren Kurs gesetzt hatte. Ich mußte mich draußen umsehen. Ich mußte das Segeltuchstück zurückschlagen, damit ich etwas sehen konnte, und das bedeutete, daß die kleinen tödlichen Vögel ihre Schnäbel direkt in mein Auge stoßen konnten. Bei Makki-Grodnos eiternden und baumelnden Augäpfeln! Das kam gar nicht in Frage.
Der Dolch, den ich dem armen alten Lin abgenommen hatte, machte es sich in meiner Hand gemütlich. Ich hielt ihn vor dem Auge hoch, die geschliffene Seite nach vorn gerichtet. Dann hob ich mit der anderen Hand vorsichtig das Segeltuchstück hoch. Ich starrte an dem Dolch vorbei in das Zwielicht unter den Baumwipfeln, und sofort warfen sich kleine Körper auf mein Gesicht, schlugen verrückt auf das ein, was sie als Bedrohung ansahen, und stürzten sich auf den Dolch. Viele von ihnen wurden aufgeschlitzt und fielen zur Seite. Ich durfte dem ganzen Tumult keine Beachtung schenken. Ich mußte sehen, wo sich die Baumstämme befanden und wo die nächste Lücke zwischen ihnen war. Der Dolch zitterte in meiner Hand, so groß war der Druck. Die Baumstämme bildeten etwas zu meiner Rechten eine gerade Reihe. Ich konnte den Dolch nicht senken. Also sprang ich wie ein Eskimo umher, griff mit der linken Hand nach den Kontrollen und hielt weiterhin das Segeltuchstück über dem Auge fest, damit ich an dem Dolch vorbeisehen konnte. Den Voller auf die Öffnung zwischen den Baumstämmen zu lenken und das Segeltuch wieder fallenzulassen, nahm nur wenige Augenblicke in Anspruch. Ich senkte den Dolch. Ich fühlte mich so ausgelaugt, als hätte ich das Cyphren-Meer durchschwommen.
Danach verging nur eine kurze Zeit, bevor das Geräusch kleiner Körper erstarb, die den Voller trafen. Keine scharfen kleinen Schnäbel stießen mehr ihre Spitzen durch die Segeltuchrüstung. Jetzt hörte ich ein monotones Piepsen, das vom Deck achtern von den Kontrollen herkam.
Schwach und gedämpft sagte eine Stimme: »Sie sind weg!«
»Nimm das Segeltuch noch nicht ab, Rollo! Bleib ruhig!«
Da stieß er einen lauten Schrei aus. Ich konnte mir denken, was passiert war.
»Warte, warte!« schrie ich.
Ich konnte das Segeltuch jetzt weit genug abstreifen, um richtig zu sehen. Mir flatterten keine kleinen Vögel mehr ins Gesicht. Die Lücke zwischen den Baumstämmen schloß sich allmählich, und ich wählte einen neuen Kurs aus. Dann schaute ich mir das Deck an.
Das Segeltuchbündel war Rollo. Eine ganze Menge kleiner Vögel hatten sich darin verfangen und flatterten wie verrückt. Andere hüpften und flatterten an Deck umher. Jedesmal, wenn sie hoch genug flogen, wurden sie nach achtern fortgeweht. Rollo hatte sein Segeltuch in dem Augenblick abgeworfen, als der Hauptangriff abgeflaut war, und einer der kleinen Burschen hatte ihn gestochen.
»Alles in Ordnung, Rollo. Vorsichtig. Und bedeck vorsichtshalber die Augen!«
Das Segeltuchbündel bewegte sich wie ein Faulpelz am Sonntagmorgen. Schließlich kam Rollo zum Vorschein und schaute sich bleich um.
Ich sagte: »Sieh nach achtern, mein Junge!«
Er drehte sich um.
Nach einer kurzen Pause, in der die Vögel hochflatterten und wegflogen, sagte er: »Ich kann kein Mitleid für die Shanks empfinden, nach allem, was man sich über sie erzählt, nein, bei Lingloh! Trotzdem ...«
»Trotzdem haben die kleinen Vögel aus Paz eine Truppe Shanks besiegt.« Das war die Wahrheit. Die beiden fliegenden Pinassen bewegten sich ziellos zwischen den Bäumen. Eine krachte frontal an einen Baumstamm, brach auseinander und stürzte ab. Körper fielen heraus. Ich fragte mich, was die örtliche Tier- und Pflanzenwelt wohl mit dem Fischfutter anfangen würde.
Die andere Pinasse neigte sich und flog in die Tiefe; sie verschwand in den Schatten des Bodens unter den riesigen Baumstämmen.
»Allen Namen sei Dank!« seufzte Rollo. Er warf das Segeltuch ab, und der letzte der Vögel befreite sich. Jene, die sich in meinem Segeltuch verfangen hatten, flogen jetzt auch rasch davon. Wir hatten den Voller für uns.
»Wir können zwischen den Bäumen weiter nach Süden fliegen – bis sie aufhören.« Ich faßte Rollo ins Auge. »Oder wir versuchen, das Meer im Westen zu erreichen; wir können aber auch aufsteigen und über dem Wald fliegen.«
»Die Shanks werden an der Küste sein. Wir müssen nach Süden fliegen.«
Mir gefiel die Art, wie er so unbefangen ›fliegen‹ sagte.
Wir hatten eine böse Feuerprobe überstanden. Jetzt mußten wir das Bestmögliche aus unserer Chance herausholen. Es war nötig, Rollo im Auge zu behalten, falls ihn das große Zittern überfiel. Ich glaubte scharfsinnig, daß das nicht passieren würde, da für ihn alles Teil des Abenteuers war. Und wenn er es bekam (nahm ich genauso scharfsinnig an), würde er es schnell überwinden.
Die stürmische Geschwindigkeit des Vollers konnte nun verringert werden. Er flog in aller Ruhe vor sich hin, und es war außerordentlich viel Zeit dafür vorhanden, den Kurs zu ändern, um den ehrfurchterweckenden Säulen auszuweichen, die in den grünen Himmel aufragten.
Steuerbord fielen die vermischten Strahlen der Sonnen durch eine Lücke und verwandelten die dazwischenliegenden Baumstämme in dunkle, wie von Farben eingefaßte Hölzer. In dem dazwischen liegenden Raum, der in den Schatten verschwand, die die entfernt stehenden, blockierenden Bäume warfen, wogte nebelartig schwirrendes Leben aufgeregt hin und her.
Rollo und auch ich waren von den Ausblicken in die Grenzenlosigkeit beeindruckt, die im verborgenen unter dem grünen Teppich der Baumwipfel lag. Der Duft des Brellamwaldes blieb uns noch Tage später in Erinnerung, wie mir einfällt. Die vielen Insekten, die in schimmernden Wolken unruhig hin und her flatterten, bildeten einen Gegensatz zur großen Förmlichkeit der Bäume. Höhlen tief unter Wasser? Nein, das denke ich nicht. Die seltsame Welt unter den Blättern der Brellambäume war eine eigene, abseits stehende; eine Welt, die sich in nichts mit dem Leben unter dem Meer vergleichen ließ.
Rollo seufzte tief und sagte: »Ich bin am Verhungern.«
Viel zu fröhlich erwiderte ich: »Eine großartige Idee!«
Schwermütigkeit, Schweigen, das war die richtige Grundstimmung hier.
Wir aßen irgendwas. Ich verlangsamte den Voller im Rahmen seiner möglichen Geschwindigkeit. Normalerweise treibt man ein Flugboot nicht die ganze Zeit über mit Höchstgeschwindigkeit an. Damals glaubte man allgemein, wenn man einen Voller zu hart antreibe, verkürze man seine Lebensspanne beträchtlich. Deshalb kreuzten Piloten mit der bestmöglichen Geschwindigkeit, wann immer es möglich war.
Als wir schließlich bemerkten, daß wir den echten Brellamwald verließen und in richtigen Regenwald kamen, den Dschungel, beschloß ich aufzusteigen. Die Hitze war jetzt beträchtlich. Obwohl Kregens gemäßigte Zonen sich viel weiter ausbreiten als die der Erde, ist der Äquator trotzdem heiß. Wir schwitzten, bei Krun.
Wir stiegen auf, fanden eine Lücke, und während wir vorsichtig das Reich des Himmels über dem Dschungel betraten, schwebten wir in die strahlende Helligkeit der Sonnen.
Ein schneller Rundblick, gefolgt von einem gründlicheren Spähen, enthüllte keine entfernten verhängnisvollen Punkte. Wir hatten den Himmel für uns.
»Und nun!« rief Rollo aus. Er streckte den Brustkorb vor und sah zufrieden aus.
»Und jetzt, du junger Halunke, ist es an der Zeit, Inventur zu machen.«
Ich suchte die Metallkassette heraus, die Lord Farris in dem Voller verstaut hatte. Was immer sie enthielt, meine Jungs vom Wachkorps hatten sie inbrünstig bewacht. Nun hatte meine Delia, die ihre geheimnisvollen Aufträge für die Schwester der Rose verfolgte – Aufträge, die sie so gnadenlos von meiner Seite rissen, wie die Herren der Sterne mich ihr entzogen –, die Prägung einer Sondermünze befohlen. Sie hatte die Herstellung von Gold-, Silber- und Bronzemünzen in verschiedenen Größen und Gewichten angeordnet. Ihr Unterschied zu den normalen Münzen Vallias lag in ihrer Anonymität. Auf der Vorderseite ein nichtssagendes Gesicht, die verschwommene Szene einer Schlacht und ein Gemetzel auf der Rückseite, ein paar tiefschürfende Worte in allgemeingültigem Kregisch – ›Ehre das, was ehrenvoll ist‹ –, und man hatte Geld, das man überall ausgeben konnte, ohne Aufsehen zu erregen.
Vallia besaß als große Handelsnation Zugang zu den Münzen vieler fremder Länder. In der Metallkassette mußten neben der besonderen Deliawährung die Münzen vieler Länder liegen. Es gab auch eine angemessene Anzahl vallianischer Talens, da die Leute einem Fremden, der keine vallianischen Münzen in der Börse trug, wahrscheinlich eher mißtrauisch gegenüberträten. Interessanterweise fand ich auch eine ordentliche Anzahl bronzener Krads, der patriotischen Münze, die Vallias Garnison während der Zeit der Unruhe geprägt hatte. Sie hatten den Hauptteil des Soldes für die vallianische Befreiungsarmee ausgemacht. Ich rieb mit dem Daumen über einen Krad und dachte an die Vergangenheit ...
»Stimmt, Sonnenschein«, sagte ich und raffte mich auf. »Wir werden teilen.«
»Aber ...«, fing er an und verstummte.
»Du mußt lernen, wohlüberlegt mit Geld umzugehen. Wenn du auf Kregens Antlitz ein freier Abenteurer werden willst, gibt es viele Verhaltensmaßregeln, die du beherrschen, und viele Lektionen, die du lernen mußt.«
»Nun, ich lerne ...«
»Sicherlich.« Ich war dabei, die Münzen zu teilen. Ich gab ihm die Hälfte. Ich hätte gern mehr für ihn erübrigt, aber es gab zwei Gründe, die dagegen sprachen.
Als ich die Münzen in einer verschlissenen Börse verstaute, die Farris zur Verfügung gestellt hatte, entdeckte ich eine Münze, die so schlecht beschnitten war, daß sie eine eiförmige Form aufwies. Sie gehörte zu Delias spezieller Prägung, die sie ihr ›Spielgeld‹ nannte. Um den Rand gab es einen Ring aus Punkten. Ein guter kregischer Münzschneider ließe sich nie davon abhalten, eine Münze zu rändern. In manchen Gegenden war das Münzenschneiden eine beinahe religiöse Angelegenheit.
»Du bist großzügig, Drajak ...«
»O nein. Versteh mich nicht falsch! Du wirst nach Vallia reisen, um unter San Deb-Lu zu studieren. Du kannst in den Ferien mit deinem Bogen schießen.«
Er hatte wieder sein überhebliches halbes Lächeln aufgesetzt. »Dieses Abenteuer ist noch nicht ganz durchgestanden. Vallia ist noch weit entfernt.«
Ich verzichtete auf eine Antwort.
Wir flogen stetig weiter und legten rasch eine große Strecke zurück. Von den Shanks sahen wir keine Spur. Die Überquerung der Wüste erwies sich als einfache Aufgabe, so einfach, daß es mich an die Plackerei der Karawane erinnerte, unter der Mevancy so gelitten hatte. Fliegen macht das Reisen wahrlich viel angenehmer! Zumindest auf Kregen.
Ich sagte: »Es wäre keine gute Idee, in Makilorn zu landen, der Hauptstadt Tsungfarils. Wir würden viel zuviel Aufmerksamkeit erregen.«
»Ja, das verstehe ich. Aber wenn wir abseits landen, wie kommen wir ...?«
»Genau. Wir können am westlichen Ufer niedergehen, kurz bevor die Sonnen aufgehen, und den Voller in einer der dortigen Höhlen verstecken. Dann treffen wir zu Fuß ein.«
Er zog eine Grimasse.
»Das nehme ich auch an.«
Genauso machten wir es dann. Es gelang alles reibungslos; wir versteckten den Voller und marschierten zum Fluß der Treibenden Blätter, an dem sich Makilorn befindet. Hier ließ ich mir von dem Fährmann nichts erzählen, wies ihn darauf hin, daß ich schon einmal über den Fluß gebracht worden war und nur den vorgeschriebenen Preis bezahlen würde. Weil Mevancy dabei übers Ohr gehauen wurde, nannte ich sie Hühnchen, so wie sie mich Kohlkopf nannte.
An unseren Tuniken war klar zu erkennen, daß wir Fremde* waren, da hier jedermann das gelbe oder ockerfarbene Wüstengewand mit Umhang trug.
Die Hitze war drückend; sie lag auf mir wie ein bleiernes Tuch, und ob Wind wehte oder nicht, die Luft schien immer voller Staub zu sein, der schal auf der Zunge lag. Ich lenkte die Schritte zur Mishuro-Villa, da San Lunky Mishuro ein Mitglied unserer Verschwörung gewesen war, selbst wenn er als Seher versuchte, sich von unseren ausgefalleneren Taten abseits zu halten.
Die Wache war mir unbekannt. Eine Silbermünze und ein knappes Wort sorgte dafür, daß meine Botschaft durch den Deldar weitergeleitet wurde. Der Deldar kam sehr bald zurück und rief: »Laßt Drajak den Schnellen durch! Der San befiehlt es.«
So betraten wir also den Innenhof mit den schattenspendenden Bäumen, und da eilte auch schon Lunky herbei, um uns zu begrüßen. Er sah nicht mehr so aus wie früher. Er füllte seine neue Stellung als Seher aus, war durch sie gewachsen. Im Gesicht war er voller, und er strahlte mehr Zuversicht aus. »Drajak!« rief er aus und eilte auf uns zu. »Wo im Namen von Lohrhiang dem Unergründlichen bist du gewesen?«
»Was das betrifft, Lunky, ich wünschte, ich wüßte es. Allerdings wird Tsung-Tan es mit Sicherheit wissen.« Ich gab ihm das Lahal und fügte hinzu: »Du mußt San Chandra fragen, wenn du eine genaue Erklärung haben willst.«
Nun war ich sehr begierig zu erfahren, ob unsere Verschwörung erfolgreich gewesen war. Ich war von dem ungeschickten Skorpion in dem Moment fortgerissen worden, als wir mit Königin Leone entkommen waren, nachdem wir sie nicht getötet hatten. Saß Kirsty jetzt sicher auf dem Thron; hatte man sich der Verbrecher entledigt; war alles nach Plan verlaufen?
Rasch schilderte Lunky in groben Zügen die Einzelheiten dessen, was während meiner Abwesenheit passiert war. Ja, Kirsty war tatsächlich Königin; sie hörte mit großer Aufmerksamkeit auf San Chandras Ratschläge. Der Erfolg der von Shang-Li-Po geführten Partei war in die Schranken gewiesen worden. Im Westen gab es Schwierigkeiten – in Tarankar und Kuong; Mevancy und Llodi waren dorthin gereist. Ich hatte mir schon gedacht, daß sie dort waren, wo es Probleme gab, und doch war ich enttäuscht, daß ich sie verpaßt hatte.
»Sie sind zu Kuongs Trylonat in Taranik gereist. Die Königin stellt ein Heer auf, das ihnen folgen soll. Wirst du dich diesem Heer anschließen, Drajak?«
Es klang sehnsüchtig. Ich fragte: »Der Dame Telsi geht es gut?«
»Wir werden heiraten, sobald ...« Er spreizte die Finger der linken Hand. »... sobald es passend erscheint. Die Ereignisse üben einen starken Druck aus.«
Ich sagte: »Du hast hier deine Arbeit, Lunky. Dein Leben ist nicht zum Kämpfen bestimmt.« Ich hatte nicht vergessen, daß er versucht hatte, Telsi zu beschützen, und daß er zurückgeritten war, um Mevancy und mir beizustehen.
»Zum Ruhme Tsung-Tans.« Er wurde fröhlicher. Ich machte das Pappattu zwischen Rollo und ihm, und er meinte, es sei Zeit für eine Mahlzeit. Als echte Kreger widersprachen wir nicht. Wir betraten die Villa und nahmen ein wirklich gutes Mahl ein. Telsi war charmant und reizend, aber ich wurde allmählich wegen der Verzögerung unruhig. Ein Mann muß essen, das ist richtig, bei Krun! Aber danach muß er sich an die Arbeit machen. Ich sah Rollo den Läufer mit einigem Bedauern an, aber die heimtückische Tat mußte vollbracht werden. Eines war sicher: Ich wollte nicht, daß er noch einmal als blinder Passagier mitreiste.
Immer nur Arbeit und kein Vergnügen – das macht Nath zu einer traurigen Figur. Aber das Gegenteil davon macht Nath mit Sicherheit unausstehlich.
»Wirst du San Chandra im Palast einen Besuch abstatten?« Während er sprach, reichte Lunky die silberne Schale mit Palines herüber.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich täte es gern, aber es bleibt keine Zeit für diese Höflichkeit. Ich muß nach Taranik aufbrechen.« Ich wandte mich an Rollo. »Es wird sehr bald eine Invasion stattfinden, eine Invasion anderer Art als die der verdammten Shanks. Du wirst hiermit zum Verbindungsoffizier ernannt. Du wirst ...«
»Ich fliege mit dir nach Taranik.«
»Du wirst dich um das Wachkorps kümmern. Du wirst genau erklären, wer Drajak der Schnelle ist und warum sein Name Drajak ist.«
Die Dame Telsi fragte listig mit leicht geschürzten Lippen: »Was hat es damit auf sich? Drajak, warum bist du Drajak der Schnelle?«
Ich lachte auf vielsagende Weise und wich der Frage aus. »Oh, ich glaube, ich handle manchmal einfach zu schnell.«
»Wofür wir dankbar sein können«, seufzte Lunky.
»Ich halte es noch immer für besser, dich zu begleiten ...«
Ich unterbrach ihn brutal. »Welche Art von Kleidung trägt man im Westen drüben?« Ich warf mir eine Paline in den Mund. »In Taranik oder auch in Tarankar?«
»Ähnliche wie wir. Wüstengewänder ... Oh, ich verstehe!« Lunky starrte meine Tunika an. »Ja, das wäre unpassend.«
Telsi nahm sich der Angelegenheit an. Sie stattete mich aus, und Zair ist mein Zeuge, ich dachte an Thelda und ihre unentwegte Geschäftigkeit. Ich seufzte und kehrte wieder in die Gegenwart zurück. Rollo schmollte. Ich wußte nur zu gut, daß ich mich wegschleichen mußte. Nun, ich hatte genug Übung in dem Spiel, der fanatisch ergebenen Aufmerksamkeit meiner Jungs aus den verschiedenen Jurukker-Regimentern zu entrinnen.
Rollos Begeisterung für mein Wachkorps überraschte mich nicht. Jede Ansammlung derartiger Leute zieht das Interesse auf sich.
Eine Beobachtung, die Rollo im Laufe der Unterhaltung mitgeteilt hatte, fand ich interessant. Seiner Meinung nach – die sich auf das wenige gründete, das er bisher von Tsungfaril und Makilorn gesehen hatte – waren die Menschen hier weniger träge als in Walfarg. Das war für mich kein Anlaß zum Jubeln. Bei Zair! Diese Menschen hier brauchten einen Stachel, den man an ihrem Hinterteil anbrachte, damit sie sich auch mit anderem beschäftigten als mit ihrer Besessenheit, ins Paradies des Giliums zu kommen. Es war kein Geheimnis, daß Königin Kirstys Heer beinahe ausschließlich aus Söldnern bestehen würde.
Für diesen Stachel würden die Shanks schon sorgen – gnadenlos.
Lunky bot Rollo die Gastfreundschaft der Mishuro-Villa an. »Du junger Halunke, das ist etwas anderes als unsere Zeit in Hinjanchung.«
»Das ist der Großzügigkeit deiner Freunde und dir zu verdanken. Dennoch ...« Er machte eine Handbewegung. »Ich bleibe trotzdem nicht hier.«
Ich preßte die Lippen zusammen. Nun, ich würde ihn hier zurücklassen müssen, das war alles.
Und genau das tat ich auch. Ich besorgte mir weitere Informationen über den Westen, brachte mich auf den neuesten Stand der derzeitigen Situation – was alles noch zum richtigen Zeitpunkt enthüllt werden wird – und schlich mich an jenem Abend durch einen Hintereingang, an den ich mich noch gut erinnerte, leise aus der Mishuro-Villa.
Mit Silber bezahlte ich die Flußüberquerung. Bevor Rollo mir hätte folgen können – selbst wenn er bemerkt hätte, daß ich gegangen war, was ich durch eine listige Halblüge verhindert hatte –, war ich bei der Höhle angelangt und holte den Voller heraus.
Das prächtige Flugboot unter mir sprang in die Höhe. Ich stieg in den Nachthimmel Kregens auf und flog unter dem strahlenden goldrosafarbenen Schein der Errötenden Dame in Richtung Westen.