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Das Ding trottete auf mich zu. Etwas Rotes funkelte in einer der Hände. Ich hob das Schwert, riß mich zusammen und war bereit, nach vorn zu stürmen.

»Nnng ... Nnng ...« Das Ding gab sabbernd unverständliche Worte von sich. Es blieb reglos stehen. »Nnng ... Bba ...« Es warf den roten Gegenstand von einer Hand in die nächste, und ich erkannte, daß es sich um einen Kinderball handelte.

Dazu bereit, loszustürmen und das Ding so zu behandeln, wie ich Monster gewöhnlich behandle, blieb ich stehen. Das Ding drehte den grotesken Kopf zur Seite, und ich spürte, daß diese Bewegung Verwirrung ausdrückte, beinahe ein Betteln. Erneut warf es den Ball von einer Hand in die nächste. Dann warf es ihn mir zu. Die wulstigen Lippen kämpften mit den Worten. »Bba ... Spielen!«

Der Ball flog mir entgegen.

Ich fing ihn mit der linken Hand auf und warf ihn zurück. Sofort hockte sich die Kreatur hin und winkte mit den sechs Armen. Einen übelkeiterregenden Moment lang dachte ich, ich hätte das Spiel nicht richtig gespielt. Das Geschöpf wankte hin und her, während der Ball auf es zuflog, und ich sah, daß es spielte. Es fing den Ball auf und stieß ein hohes triumphales Geräusch aus. Dieses Geräusch wurde von den bedrohlichen Schreien der Bogenschützinnen beantwortet, die mir hinterherjagten.

Das Geschöpf warf den Ball wieder hoch und auf mich zu. Diesmal benutzte ich das Schwert. Mit beiden Händen den Griff umklammernd, schwang ich es wie einen Schläger, traf den Ball im Flug und schlug ihn in die entfernteste Ecke des Gartens.

Dieser Schlag war in jedem Fall eine Goldmedaille wert.

Die Kreatur gab ein schnaubendes Quietschen von sich, was ich als Ausdruck des Vergnügens interpretierte, und lief hinter dem Ball her. Ich lief in die andere Richtung an der Mauer entlang und stürmte auf das entfernte Tor zu.

Das Geschöpf sprang schwerfällig um den Ball herum und hob ihn auf. Als es wieder dort ankam, wo ich gestanden hatte, stieß es ein verblüfftes Pfeifen aus.

Dann sah es aus dem Augenwinkel meine Bewegung und drehte sich um. Was es nun tun würde, wußte ich nicht. Hatte ich sein Spiel verdorben? Sollte ich jetzt so behandelt werden, wie Monster gewöhnlich Leute behandeln, die sie nicht mögen?

Es quietschte und warf mir den Ball zu. Ich bemerkte, daß es ihn weiter warf und meine Bewegung dabei einkalkulierte. Entgegenkommend benutzte ich mein Schwert und versetzte dem Ball einen sauberen Hieb, der ihn weit an den sechs Armen des Geschöpfs vorbeifliegen ließ. Es lief sofort hinterher. Ich stürmte, ohne anzuhalten, durch das offene Tor.

Die Bogenschützinnen kannten das Tier sicher und würden sich nicht von ihm aufhalten lassen. Ich mußte so schnell rennen, wie sich ein übler Geruch verbreitete, um hier wegzukommen, bevor sie mich mit Pfeilen spickten.

Jetzt lag die Ansammlung der roten Dächer hinter mir. Die Geräusche der Feier wurden undeutlicher. Diese Gärten hatte man hauptsächlich dem Gemüse gewidmet. Das munterte mich auf.

Meine Hoffnung wurde kurz darauf bestätigt, als ich hinter einem Garten, in dem helle Momolamschößlinge gesund emporsprossen, eine Mauer sah, die höher war als jene, denen ich bis jetzt begegnet war. Es mußte die Außenmauer sein!

Natürlich gab es in ihrer gesamten Länge weder Tür noch Tor.

Plötzlich, mit einem eisigen Schaudern, hörte ich neben den Schreien der Mädchen ein ständig lauter werdendes Heulen und Bellen. Ich erkannte das Geheul. Werstings! Sie hatten ein Rudel dieser Killer-Hunde auf meine Spur gehetzt. Sie würden mir erbarmungslos folgen, bis ich sie alle erlegt hätte – oder es mir, wenn mir extrem viel Glück beschieden war, gelänge, sie abzuschütteln. Und das war außerordentlich schwierig, bei Krun!

Während ich durch das nächstliegende Tor lief, sah ich mich nach einem Hilfsmittel um, mit dem ich die verdammte Mauer überwinden könnte.

Es handelte sich um die Außenmauer, und man war nicht so dumm gewesen, hier Bäume oder Schlingpflanzen wachsen zu lassen, damit jemand bequem eindringen könnte. Dies bedeutete: ich kam hier nicht hinaus!

Das bedrohliche Knurren und scharfe Bellen der Werstings schien ständig lauter zu werden.

Ein Aspekt der ummauerten Gärten, der mich von Anfang an beeindruckt hatte, waren ihre Sauberkeit und die Ordentlichkeit, mit der sie gepflegt wurden. Ich hatte während der Verfolgungsjagd versklavte Gärtnerinnen gesehen, aber mir war keine der kleinen Gärtnerhütten aufgefallen, die es sonst in Gärten gibt und in denen man das Handwerkszeug aufbewahrt. Die logische Antwort dafür war, daß die Sklaven ihr Werkzeug an einer zentralen Stelle von einem Aufseher erhielten. Sklavenhalter schätzen es nicht, gefährliche Gerätschaften herumliegen zu lassen, damit der erste unzufriedene Sklave sie sich schnappen kann. Nein, Sir.

An diesem Gedanken festhaltend, sah ich die Lösung meines Problems, als ich den nächsten Garten betrat. Natürlich gab es sofort weitere Schwierigkeiten, bevor ich sie in die Tat umsetzen konnte.

Die Mauern umschlossen einen Obstgarten. Die Bäume waren nicht übermäßig hoch, und eilig, wie ich war, kümmerte ich mich nicht darum, um welche Bäume es sich handelte. Ich wollte eine jener Leitern haben, die die Sklaven benutzten, um in die Baumwipfel zu steigen. Eine dieser Leitern müßte gerade bis zum Mauerrand reichen.

Ich vergewisserte mich, daß meine Uniform ordentlich saß, und marschierte zum nächsten Baum. Eine Frau arbeitete oben auf der Leiter, und unten wartete eine Gruppe. Ich verfiel in meinen Befehlston.

»Holt sofort die Leiter herunter! Bringt sie hier herüber! Grak!«

»Ja, Herr«, sagte die Sklavin mit dem gelben Stirnband. Sie mochte zwar eine Sklavin sein, aber man hatte ihr unbedeutende Autorität geschenkt, die allerdings nicht in der Klasse eines Balasstockes rangierte.

Die Sklavinnen trugen den grauen Sklavenlendenschurz. Die oben auf der Leiter rutschte so ordentlich herunter wie ein Seekadett an einer Pardune. Während ich wichtig in der Gegend herumstand und ihnen stirnrunzelnd zusah, nahmen vier Sklavinnen die Leiter auf, und die Aufseherin sah mich erwartungsvoll an.

»Worauf wartet ihr?« brüllte ich. »Hier entlang!« Ich trat durch das Gartentor auf die Außenmauer zu.

Sie folgten mir im Gleichschritt. Mittlerweile mußten sie die Geräusche der Verfolger gehört haben; das Heulen der Werstings und die aufgeregten Schreie der Bogenschützinnen und Jikai-Vuvushis. Aber sie zeigten kein sichtbares Zeichen von Interesse. Mit derlei Dingen hatten sie nichts zu tun. Um die Wahrheit zu sagen, mir kam der Gedanke, daß sie Geräusche dieser Art wahrscheinlich mit entflohenen Sklaven in Verbindung brachten.

Wir erreichten die Mauer. Ich machte eine herrische und verächtliche Geste, und sofort wurde die Leiter hochgestemmt, um oben gegen die Mauer zu prallen. Sie war etwa einen halben Meter zu kurz; dies würde kein Problem darstellen.

Die Aufseherin blickte furchterfüllt auf, um mich anzusehen.

Die Gewohnheit des sofortigen Gehorsams war so stark – sogar wenn sie glaubte, was sie sah –, daß sie es nicht schaffte, sich mir entgegenzustellen. Die Anwesenheit männlicher Wachen war in diesem Teil des Gartens, wo jenseits des ballspielenden Monsters Gemüse angebaut wurde, offensichtlich gestattet. Trotzdem wollte ich nicht, daß die armen Sklaven meinetwegen bestraft wurden.

»Ich werde die Leiter brauchen. Geht zurück an eure Arbeit! Schtump!«

Sie verschwanden, und ich stieg schnell die Leiter hoch. Oben einen schnellen Klimmzug, und ich saß quer auf der Mauer. Ein Pfeil flog mir am Ohr vorbei.

Die Verfolger stürmten in den Garten. Jikai-Vuvushis schwangen Schwerter und Speere; die Bogenschützinnen aus Loh rannten und blieben stehen, um zu zielen; vornweg befand sich das schreckliche Werstingrudel, schwarz-weiß gestreifte Höllenhunde.

Ich wehrte einen Pfeil mit dem Unterarm ab. Die Werstings konnten die Leiter nicht erklimmen; die Damen vermochten es mit Sicherheit. Also beugte ich mich hinunter, packte fest zu und zog. Die Leiter kam gerade hoch, als der erste Wersting einen wilden Sprung machte. Er fiel verblüfft zurück. Die Leiter balancierte auf der Mauer. Mit einer drehenden Bewegung fiel sie an der anderen Seite hinunter. Dort befand sich eine staubige Straße, und auf der anderen Straßenseite befand sich eine weitere – verdammt hohe – Mauer. Eigentlich hatte ich erwartet, wie ein hinterlistiger Meuchelmörder von der Mauer springen zu müssen; aber so konnte ich die Leiter hinabsteigen wie ein respektabler Einbrecher, der nach der Arbeit nach Hause geht.

Die gegenüberliegende Mauer sah genauso aus wie diese, sie war eindeutig die Außenmauer der Nachbarvilla. Die Straße sah in beiden Richtungen gleich aus. Der Staubgeschmack auf der Zunge wurde durch eine leichte Brise verursacht, die durch die enge Gasse fuhr. Also, welche Richtung sollte ich wählen? In nur wenigen Herzschlägen würden meine Verfolger kreischend durch das Haupttor stürmen und hinter mir her sein.

Ich ging nach links.

Zu meiner Linken befand sich ein geschlossenes Tor, und falls die Bogenschützinnen es benutzen wollten, mußte ich wohl so schnell rennen, wie ich konnte, da die verwünschte Straße, wie es sich gehörte, geradeaus auf eine Ansammlung von Gebäuden zuführte.

Nun ist es immer schlecht, wenn man von Werstings gejagt wird. Sie sind schlau, wenn sie sich auch nicht mit einem Menschenjäger messen können. Wenn ich sie hereinlegen wollte, mußte ich zugleich klug sein und Glück haben. Eine Sache war klar: Es war keine gute Idee, das vor mir liegende Dorf in der Wächteruniform zu betreten.

Der Schnickschnack ließ sich erfreulicherweise schnell abreißen. Ich mußte es darauf ankommen lassen, den örtlichen Sitten nicht zu entsprechen. Ich behielt ein tunikaähnliches Oberteil, das zusammen mit dem roten Lendenschurz ausreichen mußte. Ich machte aus der restlichen Kleidung ein Bündel und vergewisserte mich sorgfältig, daß eine Schärpe hinten herausragte. Mit einem guten Wurf schickte ich alles über die benachbarte Mauer, und die herausragende Schärpe verfing sich oben und blieb dort hängen. Gut!

Dies würde zumindest das Werstingrudel in zwei Teile spalten.

Schließlich hatten sie nichts, um meine Witterung aufzunehmen.

Ich rannte so schnell wie möglich und erreichte das Ende der Straße, wie ein Schwimmer gerade die rettenden Felsen erreicht, bevor sich seine Lungen mit Wasser füllen. Ich spähte um die Mauerecke. Wie eine Trompete verstärkte die enge Gasse die furchtbaren Geräusche der Wersting, die hinter mir her waren. Ich riß mich zusammen, holte Luft, sah mich um, wo ich gelandet war, und überlegte, wie mein nächster Schritt am besten aussah.

Im allgemeinen – nicht immer – errichten Zivilisationen, die etwas für private ummauerte Gärten mit fensterlosen Häusern übrig haben, ihre städtischen Gebäude mit einem andersartigen Antlitz. Ich erwartete Arkaden zu sehen, Säulengänge, offene Plätze und vielleicht schattenspendende Bäume und Springbrunnen.

Vierhundert Lichtjahre weit entfernt durch den leeren Raum wären diese Erwartungen zweifellos erfüllt worden. Aber ich befand mich auf dem herrlichen, doch oftmals schrecklichen Planeten Kregen, auf dem Kontinent Loh, und durfte nicht damit rechnen, daß mich etwas Vertrautes erwartete. Wir redeten alle in einer Sprache, die uns durch die territoriale Anordnung Paz' auferlegt und durch örtlichen Gebrauch etwas abgewandelt wurde. Darüber hinaus – nun, als ich mich umdrehte, erkannte ich, daß eine gemeinsame Sprache eine Sache ist und Architekturstile eine andere. Man konnte diesen Baustil als ›neckisch verziert‹ bezeichnen, da ihm wie einer üppigen Hochzeitstorte Ränge, Balkons und ein schwindelerregender Ausblick auf rote Dächer und weiße Säulengänge entsprossen. Und doch verführte er einen dazu, hochzuschauen. Weiter unten gab es tatsächlich Arkaden, aber sie verbargen Schatten und Geheimnisse und waren meinem Eindruck zufolge kein Ort des leidenschaftlichen rhetorischen und rechtlichen Wortstreites. Ich schaute und überlegte, wo ich mich am besten verstecken könnte.

Das Heulen der verdammten Werstings näherte sich geschwind, und es war nötig, langsam in Schwung zu kommen.

Ob es ein unglücklicher Zufall war oder pures Glück, kann ich nicht sagen. Aber gerade in diesem Augenblick bewegten sich nur wenige Menschen zwischen diesen merkwürdigen Gebäuden.

Schnell ging ich über den dazwischenliegenden Platz und tauchte in der schattigen Arkade unter, die direkt von dem Rudel wegführte.

Mein ständiges Flüchten war entschieden ärgerlich. Arbeit wartete auf mich. Der dumme Skorpion hatte mich in ein unbedeutendes Abenteuer verstrickt, dabei mußte ich mich um Paz kümmern und mich der skrupellosen Invasion der Fischköpfe – der Shanks – von der anderen Seite der Welt entgegenstellen. Viele Menschen der Länder, aus denen sich Paz zusammensetzt, wollten, daß ich etwas wurde, was sie als Herrscher aller Herrscher bezeichneten: Herrscher von Paz. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich diese Position nicht wollte und das Gefühl hatte, daß man sie mir aufzwang. Und das nicht nur durch den Willen der Menschen, sondern auch durch die Wünsche der Herren der Sterne. Sie hatten angedeutet – so hatte ich es jedenfalls aufgefaßt –, daß sie sich nur wegen dieses Unsinns vom Herrscher aller Herrscher überhaupt mit mir abgaben und mich deshalb nach Kregen geholt hatten.

Die Herren der Sterne benutzten mich auf diese abscheuliche Weise, weil ich über das Yrium verfügte, diese besondere Form des Charisma, das gewöhnliche, aber auch außergewöhnliche Leute dazu brachte, ihr Leben zu opfern, um mir zu dienen. O ja, ich schämte mich; ich fühlte mich erniedrigt. Doch wenn man die verdammten Shanks daran hindern wollte, jede Frau, jeden Mann und jedes Kind auf Paz umzubringen, mußte jemand gefunden werden, der die grundverschiedenen Länder von Paz zu einer gemeinsamen Allianz des Widerstandes zusammenschmieden konnte.

Und wie Sie sehen, war ich, Dray Prescot, dieser Onker.

Das Problem dabei war: Die göttliche Delia würde die Herrscherin aller Herrscherinnen werden. Natürlich gab es für dieses Amt keine Geeignetere. Trotzdem dachte ich über alle Gefahren nach, denen sie ausgesetzt sein würde. Natürlich war es lächerlich. Die Gefahr und Delia waren ein Paar. Gehörte sie nicht zu den Schwestern der Rose? Bestand sie nicht stolz Abenteuer für sie, und ebenso auf eigene Rechnung? Doch im Herzen weiß ich: Sollte meiner Delia, meiner Delia von Delphond, meiner Delia aus den Blauen Bergen, etwas zustoßen, konnten Kregen und die Erde zum Teufel gehen.

Diese Gedankengänge waren mir in diesem Moment widersinnigerweise wichtiger als das heulende Rudel sabbernder Werstings, die Bogenschützinnen aus Loh und die Jikai-Vuvushis, die alle mein Blut sehen wollten.

Die Arkade breitete sich vor mir aus, stellenweise voller Schatten, voller stillschweigender Drohung.

Gerade bevor ich in die Schatten eintauchen wollte, mußte ich kurz, aber in qualvoller Deutlichkeit, an das zottige Monster mit dem roten Ball denken. Mein Val! Es hätte die Kraft besessen, mir den Kopf sauber von den Schultern zu reißen. Es wäre außerordentlich schwierig gewesen, sich gegen seine sechs Arme zur Wehr zu setzen. Mächtig, überlebensgroß, ein Monster – und es wollte Ball spielen! Puh!

Ich verdrängte das Bild aus meinem Bewußtsein und rannte in die Schatten der Arkade.

Die Mauer zu meiner Rechten wurde von einigen großen schmalen Durchgängen durchbrochen. Sie alle waren mit stabilen eisenbeschlagenen Holztüren verschlossen. Über mir schwang sich das Dach von Säule zu Säule. Als ich den Rand des Gebäudes erreichte und zur nächsten Arkade hinüberjagte, kam das Licht der Sonnen von Scorpio von rechts. Der staubige Platz links von mir blieb leer, und ich dachte: Wie seltsam und fremdartig diese Stadt vielleicht auch ist, man sollte eigentlich mit mehr Leuten rechnen. Ein entferntes Gemurmel wie ein Bienenschwarm, das aus der Richtung vor mir kam, würde dieses Geheimnis sicherlich lüften.

Wieder überquerte ich eine trennende Straße, die im vermengten Licht lag. Das Geräusch wurde lauter. Zwei Männer und eine Frau liefen aus einer Tür, die hinter ihnen zuschlug, und rannten geradeaus los. Man brauchte nicht sonderlich scharfsinnig sein, um zu vermuten, daß sie sich der Menge anschließen wollten, die den Lärm verursachte. Ich folgte ihnen.

Bald kamen andere Leute hinzu, und ich ging inmitten einer kleinen Gruppe. Niemand beachtete mich. Die Männer trugen seltsame und prächtige Gewänder, nichts als schmückende Schärpen und Quasten. Auf ihren großen Schlapphüten steckten vielfarbene Federn. Ein paar Männer trugen Lendenschurze von leuchtender Farbe – die Beine blieben unbedeckt – und Schwerter an der Seite. Alle Frauen waren verschleiert. Die Schleier waren größer und dichter als die verführerisch durchsichtigen Stoffetzen, die die Haremsmädchen getragen hatten. Wir liefen alle, um uns der Versammlung anzuschließen.

Wir kamen auf einen ziemlich großen Kyro, der von den spitztürmigen Gebäuden umsäumt wurde, deren Fundament die Arkaden bildeten. Die Leute versammelten sich rings um den Kyro, bis der Kreis geschlossen war. Ich stand hinten in der Menge.

Das paßte mir gut. Welchen Hauch einer Fährte die Werstings auch gewittert hatten, in diesem Gedränge mußte er untergehen.

Eine Frau stieg auf den Sockel einer Statue, die Khibil darstellte, der einen lohischen Langbogen hochhielt. Die Statue – eine von vielen, die vereinzelt auf dem Kyro standen – war doppelt lebensgroß. Die Frau hob die Arme, und die Menge verstummte mit überraschender Schnelligkeit. Die Frau fing an, eine leidenschaftliche Ansprache zu halten; über die verlorene Ehre Walfargs, des uralten Reiches von Walfarg, das die Barbaren der Außenwelt als Reich von Loh bezeichneten. »Genau so«, rief sie schrill, »wie diese unwissenden Narren den verfluchten Zauberer aus Walfarg den Namen Zauberer aus Loh verliehen haben!«

Das entsetzte mich. Ich war tatsächlich schockiert; ich spürte sogar, wie mich ein unheilverkündender Schauder durchlief. Bei Vox! Einen Zauberer aus Loh zu verfluchen! Ich starrte die Frau gebannt an und erwartete eigentlich, daß sie in eine kleine grüne Kröte verwandelt würde.

Ihr Gesicht war von der starken und herben Sorte, das trotzdem auf frauliche Weise ansehnlich ist. Man konnte sie nicht als hübsch bezeichnen; ihre innere Stärke war es, die sie anziehend machte. Das erinnerte mich an Mevancy, auch wenn die beiden sowohl von dem äußeren Erscheinungsbild als auch von der inneren Kraft zwei völlig verschiedene Frauen waren. Sie trug ein prächtiges Gewand aus seidenen Stoffbahnen, die an ihren Schultern befestigt waren. Allerdings waren sie zurückgeschlagen und enthüllten sowohl die gerundete Lederrüstung, die ihre Brust bedeckte, als auch den Pteruges, der ihre Oberschenkel schützte. Widersinnigerweise war ihr Bauch nackt. Sie trug zwei Schwerter, einen Lynxter und ein kurzes Schwert der Art, die man in Loh als Laiker bezeichnet. Beide Waffen hatten verzierte Griffe. Ihre Füße konnte ich nicht sehen, da die Köpfe der Menge zwischen uns waren. Ihr Kopf war nicht bedeckt, und ihr hellrotes lohisches Haar strahlte im Schein der Sonnen.

Es wäre übertrieben zu sagen, daß diese Frau mich interessierte. Was sie gesagt hatte und warum – das interessierte mich, bei Krun!

Nun schimpfte sie darüber, daß dem Land Energie und Tatkraft fehlten. Die Leute waren faul. Die Leute lebten sündhaft. Sie dachten ausschließlich an ihren Bauch, ans Bett und ihr Geld. »Wir müssen uns erheben«, ereiferte sie sich. »Wir müssen uns erheben und das zurückerobern, was uns einst gehört hat!«

Ein paar vereinzelte zustimmende Rufe waren zu hören. Ein paar strengere ablehnende Stimmen wurden kurz laut. Die meisten aus der Menge blieben stumm oder sprachen halblaut miteinander.

So ist das also, dachte ich. Das Volk hat sich nicht aus seiner Lethargie befreit und ist hierhergelaufen, um dieser Frau zuzuhören. O nein. Es war hier, um zu erleben, wie sie zurechtgestutzt wurde. Wenn es nicht ein Zauberer aus Loh tat, würden sich zweifellos bald Mitglieder der örtlichen Polizei oder der Wache auf sie stürzen. Die Menge erwartete eine vergnügliche Unterhaltung.

Sie ekelten mich an.

Nun ließ die Sprecherin ihrer aufgestauten Wut und dem Haß über das Urteil der Geschichte freien Lauf. Sie machte die Zauberer aus Loh für den Niedergang des walfargischen Reiches verantwortlich, nicht zu vergessen das Unvermögen der walfargischen Soldaten. »Wir brauchen Schiffe, die durch die dünne Luft fliegen!« schrie sie. »Wir müssen Riesenvögel züchten, die uns auf ihren Flügeln in die Schlacht tragen, damit der Sieg unser ist!« Dies erzeugte Unmutsbezeugungen in der Menge. »Wir müssen diese Dinge haben! Wir werden sie bekommen! Ich, Mu-lu-Manting, schwöre es, so wahr ich hier stehe! Ich schwöre es bei den Sieben Arkaden!«

Das war ein heißes Eisen. Die Sieben Arkaden – was sie auch immer darstellten – wurden stets von den Zauberern aus Loh angerufen, wenn sie sich für etwas leidenschaftlich einsetzten oder zornig wurden. Vielleicht war das Mädchen so etwas wie eine Hexe aus Loh, möglicherweise hatte es die Abschlußprüfung nicht bestanden, oder man hatte ihr das Amt entzogen. Das konnte ihren Angriff auf die lohischen Magier erklären.

Unruhe in der Menge und das unverwechselbare Stampfen eisenbewehrter Schuhe kündeten das innig erwartete Schauspiel an. Es gab für mich keine Möglichkeit einzugreifen, um der Frau zu helfen. Ich glaube, ich hätte es getan, wenn ich Gelegenheit dazu gehabt hätte. Die Masse wich vor den Wachen zurück, die klirrend anrückten. Als sie die Statue von Khibil mit erhobenem Bogen erreicht hatten, war Mu-lu-Manting schon lange von dem Podest verschwunden.

»Diese unfähigen Narren!« Eine zänkische kleine Frau fauchte den unglücklich aussehenden Mann neben ihr an, als sei er dafür verantwortlich. »Diese abscheuliche Ketzerin, sie ist ihnen entkommen. Wenn ich sie in die Finger kriegen würde ...«

»Ja?« fragte eine tiefe, volle Stimme neben mir. »Was genau tätest du dann, meine Dame?«

Ich musterte den Sprecher. Er war in einen leichten seidenen Umhang eingehüllt, und sein flacher breitkrempiger Hut bedeckte Stirn und Ohren. Die Augen waren hell und blickten scharf. Bevor die zänkische Frau etwas sagen konnte, äußerte ihr Gatte piepsend: »Das geht Euch nichts an, Walfger ...«*

Die Frau brachte ihn mit einem Schwall von Bosheiten zum Schweigen. Dann fauchte sie: »Ich würde sie lehren, besser aufzupassen, was sie sagt!«

Die schlanke Gestalt eines Mädchens, das ein leichtes Gewand trug, drängte sich nach vorn und ergriff den Arm des Mannes mit der tiefen, einschmeichelnden Stimme. Wie jedermann sehen konnte, wollte er gerade, mit einer Predigt anfangen. Das Mädchen sprach hastig: »Es hat keinen Zweck, San. Komm jetzt, bitte komm jetzt hier weg!«

Er drehte den Kopf, um sie anzusehen, und ich konnte mehr von seinem Gesicht erkennen. Es trug einen verzerrten, asketischen Ausdruck, und um Mund und Augen hatten sich tiefe Linien des Leides eingegraben. »Ja, Xinthe, ich glaube, du hast recht. Aber habe ich dir nicht immer wieder verboten, mich San zu nennen?«

Für die zänkische Frau war dies Wasser auf die Mühlen. Sie rief sofort aus: »Du gehörst zu den schrecklichen Anhängern der Hexe Mu-lu-Manting. Ruft die Wache! Zu Hilfe! Hilfe!«

Ich bewegte mich schnell genug, um ohne Zeitverlust an der richtigen Stelle zu sein. Ich schob mich hinter die unangenehme kleine Dame und legte die Finger genau auf die richtige Stelle in ihrem Nacken. Als sie bewußtlos zusammenbrach, legte ich den anderen Arm um ihre Taille, die sich eher wabbelig als angenehm anfühlte. Ich stieß sie ihrem Ehemann entgegen – falls es sich bei ihm tatsächlich um diesen unglücklichen Menschen handelte.

»Die Dame ist ohnmächtig geworden«, sagte ich. Ich sprach ihn an wie ein Aufseher einen Sklaven. »Bring sie nach Hause, bevor sie sich verletzt.«

»Ja, ja, Herr«, brabbelte er und zerrte sie mit über den Boden schleifenden Fersen fort. Ich wünschte ihm alles Gute.

»Das habe ich gesehen!« keuchte das Mädchen in dem wallenden Gewand.

Ich deutete mit dem Kopf die kürzeste aller Verbeugungen an. »Kein Wort mehr, Dame. Laß uns jetzt diesen Walfger an einen sichereren Ort bringen.«

Sie widmete mir einen durchdringenden, gescheiten Blick aus hellbraunen Augen. Ihr Gesicht gehörte zu der Art, die man als elfenhaft beschreibt; aber auf ihrer Stirn zeichneten sich sanft die ersten Spuren der Linien ab, die auf Verantwortungsbewußtsein hinweisen. Sie traf eine Entscheidung.

»Gut. Ich danke dir. Wir müssen jetzt gehen, bevor uns die Wache findet.«

Im gleichen Moment hörte ich das haßerfüllte Heulen des Werstingrudels.