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Zu dritt bewegten wir uns schwungvoll, doch ohne ungebührliche Hast von der Menge fort und mieden die weiteren Arkaden, die in einer Seitenstraße standen. Das vermischte strömende Licht der Sonnen von Scorpio brannte mir in den Augen. Hinter uns gab es Schatten, die allerdings nicht besonders lang waren, da wir uns hier in Walfarg und nicht allzuweit nördlich vom Äquator befanden. Die Hitze ließ angenehmerweise nach, da der Nachmittag langsam in den Abend überging.
»Wir haben nicht einmal ein Llahal ausgetauscht«, bemerkte der Mann.
»Llahal«, sagte ich sofort. »Mein Name ist Drajak.« Ich gab den Namen an, den ich vor kurzem unten in Tsungfaril benutzt hatte. »Drajak ti Zamran.«
»Lahal, Walfger Drajak. Ich bin Wanlicheng, Ornol Wanlicheng, der früher in Paradem lebte und nun ein wandernder Scholar ist ...«
»O San Ornol! Du bist ein großer Lehrer!« rief das Mädchen Xinthe aus. »Jawohl«, fuhr es etwas erbost fort und lachte dann resigniert. »Und du weißt es ganz genau.«
»Und das hier«, sagte Ornol Wanlicheng mit seiner einschmeichelnden Stimme, »ist Xinthe, meine strenge, aber geduldige Schülerin, wie du bemerkt haben wirst.«
»Lahal, Wr. Drajak.* Es ist besser, wenn wir uns beeilen.«
Sie trieb Wanlicheng an. Da das furchterregende Heulen uns verfolgte, brauchte ich keine Aufforderung, um mit ihnen Schritt zu halten.
Da kam mir der offensichtliche und unangenehme Gedanke: Wenn die Werstings immer noch auf meiner Fährte waren – und ich hielt das eigentlich für ziemlich unwahrscheinlich –, würden sie diesem Paar folgen. Ich würde ein Werstingrudel auf San Ornol Wanlicheng und die Dame Xinthe hetzen. Meiner Meinung nach tat ein Dray Prescot so etwas nicht. Also erzählte ich ihnen, daß ich von einem Rudel Werstings verfolgt wurde.
Xinthe, die immer noch vorwärts eilte, erschauderte. »Sie sind schrecklich, wenn sie eine Witterung aufgenommen haben. Obwohl die Welpen süß sind.«
»Das macht nichts, Drajak. Ich habe etwas, um die Situation zu bereinigen.« Wanlicheng sprach ziemlich unbeteiligt, als wäre das Problem sowohl einfach zu lösen als auch ohne praktischen Nutzen.
Von dem zentralen Platz einmal abgesehen, wo die Gebäude frei für sich standen und recht eindrucksvoll gewesen waren, schien die Stadt aus einem Labyrinth enger Gassen zu bestehen, die häufig von Arkaden gesäumt waren; je weiter wir gingen, um so zahlreicher wurden die hohen glatten Mauern. Von gegenüberliegenden Mauern geworfene Schatten lagen auf den Ziegeln. Ich könnte nicht sagen, daß mir auch nur ein einziger Baumwipfel aufgefallen ist, der über einen Mauerrand ragte. Diese Städter waren wirklich vorsichtig.
Die Eingänge waren allgemein hoch und schmal; die Türen waren mit eisernen Bändern versehen und mit Nägel beschlagen. Xinthe schloß eine Tür auf und öffnete sie; sie war einst blau gewesen, jetzt sah man das nackte Holz, trocken und rissig. Wir betraten den Hof. Xinthe wollte die Tür wieder schließen, nachdem sie einen Blick zurückgeworfen hatte. Wanlicheng hielt sie auf.
»Einen Augenblick, meine Liebe, laß mich ein einfaches Siegel des Vorbeigehens anbringen.« Er trat wieder in die Gasse, und da Xinthe mir im Weg stand, konnte ich nicht sehen, was Wanlicheng tat. »Gut, das müßte reichen.« Er kam zurück in den Hof, und Xinthe knallte die Tür zu.
Ob die Werstings meine Fährte nun verloren hatten oder ob es an Wanlichengs Siegel des Vorbeigehens lag, konnte ich in diesem Moment nicht sagen. Was es auch war, wir wurden weder von dem Rudel noch von seinem Hikdar belästigt.
Der Hof war von Gebäuden mit kleinen schäbigen Fenstern umgeben. Direkt vor uns führte ein gewölbter Durchgang in den Innenhof. Rechts lagen die Ställe, in dem das Heu lag. Irgendwie haftete dem Hof etwas Schäbiges und Armseliges an.
Wanlicheng führte uns durch den gewölbten Durchgang in den Hof. Da ich die farbige Pracht von Gärten, munteren Springbrunnen und Statuen erwartet hatte, wurde ich ungemein enttäuscht. Der Innenhof war lediglich ein größeres Abbild des äußeren Hofs. Allerdings waren die Fenster etwas größer. Wanlicheng wartete, bis Xinthe eine der vielen schmalen Türen aufgeschlossen hatte, die es hier überall gab. Wir traten ein und stiegen eine Schwarzholztreppe hinauf. Da wir das letzte Licht der Sonnen so plötzlich verlassen hatten, wirkte die hier herrschende Finsternis noch dunkler. Oben empfing uns ein spartanisch ausgestatteter Raum, der wie ein schlichtes Wohnzimmer möbliert war. Ich sah kein einziges Kissen. Die Stühle aus gebogenem Holz sahen ziemlich hart und nicht gerade einladend aus.
»Ich bitte dich, fühl dich wie zu Hause, Drajak. Xinthe, meine Liebe, wärst du so nett?«
»Roten, Weißen, Rose oder den üblichen?«
»Ich denke, ich nehme das übliche. Drajak, welchen magst du?«
»Da mache ich keine Unterschiede, San Ornol, aber Roter wäre schön.«
»Nenn mich Ornol, bitte! Ich halte das Wort San für eine vulgäre Form der Prahlerei, genauso wie Prinz, Kov und dergleichen. Ich gebe zu, daß diese Namen manchmal ihren Nutzen haben – am richtigen Ort und zur richtigen Zeit. Aber Walfarg hat zuviel durch seine Sans und Königinnen der Schmerzen gelitten.«
Ich konnte seinen Standpunkt verstehen. Das früher einmal große und mächtige Reich von Loh, das von den berühmten Königinnen der Schmerzen unbarmherzig regiert worden war, existierte nicht mehr. Es war weggeblasen wie Rauch im Wind. Wenn das Volk, wie das laute Mädchen Mu-lu-Manting behauptet hatte, die Zauberer aus Loh und ihre eigenen Herrscher dafür verantwortlich machte, konnte es nicht viel von Sans und Königinnen halten.
Xinthe brachte den Wein in tönernen Bechern; da ich ein saures und wie Essig schmeckendes Gebräu erwartet hatte, wurde ich von dem Geschmack des lieblichen und erfrischenden Rotweines angenehm überrascht. Wanlicheng beobachtete meine Reaktion. Er lächelte, und die Strenge seines Gesichtes verwandelte sich erstaunlicherweise in ein anziehendes Strahlen. »Ja, ich glaube, daß Wein und Blut miteinander verwandt sind, und darum ist eine gute Qualität von wesentlicher Bedeutung.«
»Ein tadelloses Prinzip«, bemerkte ich und trank.
Xinthe verschwand; ich nahm an, sie wollte das Essen vorbereiten.
Die Umgangsformen waren hier wahrscheinlich ähnlich wie anderswo auf Kregen. Mit den wenigen konversationellen Fähigkeiten, über die ich verfügte, hatte ich schnell herausgefunden, daß Xinthe Wanlicheng als Schülerin, Dienerin und Köchin diente und daß – vielen Dank, Walfger – man gern beim Abwasch behilflich sein durfte.
Die Mahlzeit war einfach, gut und vielleicht eine Spur zu knapp bemessen für meinen Geschmack; doch einem alten Seemann wie mir machte es nichts aus, den Gürtel ein Loch enger zu schnallen.
Als wir aufgegessen und das gereinigte Geschirr in einem hölzernen Regal verstaut hatten, sagte Wanlicheng: »Und jetzt, Xinthe, die Vorbereitungen für den zehnten Winkel.«
»Ja, Meister ... Welchen Pfad meinst du?«
»Unbedachtheit!« Seine dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, als er sprach. »Das weißt du sehr gut, Tikshvu.«
Es versetzte mir einen Stich, als er spaßhaft das Wort Tikshvu verwendete, das ich früher einmal als ›kleines Fräulein‹ übersetzt habe. Gewöhnlich dient es dazu, ein junges Mädchen zu bedrohen und einzuschüchtern, das sich widerspenstig benommen hat. Es schien, als hätten diese Leute ihre eigenen Regeln.
Sie breitete die Hände im Schoß aus und nickte. »Der Pfad des Ib.«
Es bedeutet Pfad des Geistes oder der Seele. Wanlicheng schürzte die Lippen. »Beim Pfad des Ib kommt dem zehnten Winkel eine besondere Bedeutung zu. Er ähnelt der Wichtigkeit des siebenten Winkels beim Pfad der Welt.«
»Beim Pfad des Fleisches ...«, begann Xinthe.
»Zwei Pfade sind im Augenblick genug«, herrschte er sie an.
»Ja, Meister.«
»Konzentrier dich jetzt auf den neunten Winkel.« Während er dies sagte, beugte er sich vor und legte ihr beide Daumen auf die geschlossenen Augenlider. Die Schatten im Zimmer wurden länger, als die Sonnen untergingen. Es gab eine billige Mineralöl-Lampe, doch die wurde nicht angezündet, als Xinthe sich auf ihre Übungen konzentrierte.
Ich saß ganz still. Wanlicheng und Xinthe hatten das rote Haar echter Loher. Er trat zurück und setzte sich, ohne ein Geräusch zu verursachen, auf seinen Stuhl. Das Schweigen wurde bedrückend. Ich trank nicht von dem guten Rotwein. Ich fragte mich, was wohl in Xinthes hübschem Kopf vorging. Was ihren Lehrer anging, so blieb sein Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet.
Schließlich bewegten sich ihre Lippen, und sie sagte flüsternd: »Der Winkel ist wahrhaftig. Ich halte ihn. Fest.«
»Gut. Verankere ihn und kehr dann zurück«, befahl Wanlicheng.
Als Xinthe endlich wieder die Augen öffnete, war das Lächeln, mit dem sie ihren Lehrer bedachte, ein hervorbrechender Sonnenstrahl der Schönheit. »Ja«, sagte sie. »O ja!«
Sein strenges Gesicht verriet Vergnügen. Was er in letzter Zeit auch getan haben mochte, hier war ein Mann, der die vornehmen Dinge des Lebens zu schätzen wußte. Mit seiner wohlklingenden Stimme fing er eine allgemeine Unterhaltung an. Wie die meisten Leute, die eine neue Bekanntschaft machen, wollte er alles über mich wissen. Denn, wie er bemerkte: »Man kann sehen, daß du nicht aus Loh kommst.«
Xinthe blieb sitzen, und ich nahm an, daß sie sich von dem Ereignis erholte, das gerade in ihrem Kopf stattgefunden hatte.
Ich gab die gewöhnlichen Lügen über mich zum besten und wagte dann, eine Frage über die Szene zu stellen, der ich eben beigewohnt hatte.
»So etwas wie einen wahren Weg gibt es nicht. Man muß seinen Weg so gut wie möglich finden und dazu die Fähigkeiten einsetzen, über die man verfügt. Dies hat manchmal zur Folge, daß man vielleicht einen bestimmten Gott ablehnen muß oder sich einem anderen verschreibt. Bis jetzt ist es noch niemandem gelungen, mich davon zu überzeugen, daß es nur einen Wahren Gott gibt – ebensowenig wie nur einen Wahren Weg.« Ich wollte ihm zwar in seiner Ansicht über die Götter nicht widersprechen, aber ich muß zugeben, ich hielt dies für einen ernsten Fehler in seiner Theorie, wie immer sie aussah.
Er fuhr fort und erklärte, der Glaube an die Magie und die Götter habe ihn so oft im Stich gelassen, daß er nach einem besseren Weg Ausschau halte. Er hatte glücklicherweise eine weise Frau kennengelernt – er nannte sie Lisa die Ehrliche, auch wenn dies nicht ihr richtiger Name war –, die ihm die Augen für eine alternative Magie geöffnet hatte.
»Wir nennen unsere Bewegung Alternative Magie, da sie auf eine sehr reale Weise wirkt. Aber sie ist viel mehr als eine bloße Alternative zur Magie und den Göttern. Wir trachten danach, das gleiche Ergebnis wie die Zauberer, also Magie, und die Götter, also Wunder, zu erzielen, indem wir unsere eigene menschliche Kraft einsetzen. Es mag gottlos klingen, vielleicht sogar ketzerisch. Aber ich versichere dir, Drajak, jeder Mann und jede Frau haben im eigenen Kopf die Kraft dazu. Über die Pfade nähern wir uns unserem Ziel. Wir können die Kraft des menschlichen Geistes entfesseln, wir brauchen dazu keine Zauberer. Was die Götter angeht, so haben sie einen anderen Nutzen.«
»Gibt es viele von euch?«
»Nicht so viele, wie wir gern wären. Trotzdem gibt es eine stattliche Anzahl von Mitgliedern, die hier und da verstreut leben.«
»Werdet ihr nicht verfolgt?«
»Nein, warum sollten wir? Wir verkünden unseren Glauben nicht von Rednerpulten auf dem größten Kyro der Stadt.«
Xinthe warf mir einen scharfen Blick zu. Ich schüttelte den Kopf.
»Das ist alles ganz neu für mich, Dame Xinthe. Ich bin kein Spion.«
Nun, natürlich war es mir nicht völlig neu. Es gibt zwei wohlbekannte Wege, die zu Gott führen: Ablehnung eines Abbildes oder Bejahung eines Abbildes. Ich hatte auch mit kregischen Philosophen und Mystikern gesprochen, die die drei Pfade anerkannten, die Wanlicheng erwähnt hatte. Sie hatten noch den Pfad der Eingebung hinzugezählt. Was dieser Mystiker hier versuchte, war neu. Wenn er Magie und Wunder ohne Hokuspokus zustande brachte, direkt aus dem Kopf heraus, war er tatsächlich ein bemerkenswerter Bursche. Und Xinthe und die Mystikerin, die er als Lisa die Ehrliche bezeichnete, würden dem Verfahren eine besondere weibliche Note verleihen. Wenn sie es schafften, alle Winkel des Pfades zu erlangen, wollte ich als erster Interesse anmelden.
Sie nannten sich selbst Pilger.
Manchmal wurden sie auch als Wanderer oder Finder des Pfades bezeichnet.
Sie wollten die Alternative Magie zum Nutzen der Menschheit vervollkommnen.
Ich wünschte ihnen dabei alles Gute.
Dann erkundigte ich mich nach der fanatischen Mu-lu-Manting.
»Sie will ihre Wünsche verwirklichen, indem sie schreit, predigt und das Volk für den Ruhm vergangener Zeiten begeistert. Ich fürchte, sie findet kein Vergnügen an ihrer Aufgabe.«
Mu-lu-Manting wollte ein neues lohisches Reich. Sie ergötzte sich an schwelgerischen Gedanken über Macht und Einfluß, an denen sich Walfarg einst erfreut hatte. Sie behauptete, alles sei hinweggefegt worden, weil die Zauberer aus Walfarg versagt hätten und es der Regierung nicht gelungen sei, Flugboote zur Verfügung zu stellen. Weil zu Anfang des Zusammenbruches des Reiches ein König auf dem Thron gesessen hatte, machte Mu-lu-Manting Männer für die Katastrophe verantwortlich. Mit der Wiederbesinnung auf Frauen, die als Königinnen der Schmerzen herrschen sollten, würde das Reich Walfarg, das Reich Loh, wieder auferstehen!
»Die Menschen in Loh sind zu schwach, um sich für eine Rückkehr zu den Herrlichkeiten des Reiches zu interessieren.« Wanlicheng schüttelte den Kopf. »Es ist auch besser, daß dergleichen in Vergessenheit geraten ist.«
»Trotzdem«, bemerkte Xinthe, »kannst du nicht bestreiten, daß Loh von Königen beherrscht wurde, als das Reich zusammenbrach.«
»Unter bestimmten Umständen kann die Verneinung einer offensichtlichen Wahrheit die Wahrheit für nachfolgende Generationen vernichten. Also Fräulein, nimm dich in acht!«
Sie aß gerade eine Handvoll Palines und warf eine der gelben Beeren nach ihm. Er fing sie geschickt genug auf, also nahm ich an, daß dies nicht zum erstenmal passierte. Es freute mich, daß er trotz seines strengen Erscheinungsbildes kein steifer Pedant von einem Meister war. Und wenn er nur mit Hilfe seines Kopfes Berge versetzen konnte ...!
Ich stand auf.
»Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Ich muß mich jetzt auf den Weg machen.«
»Du wirst hier übernachten, Drajak. Ich dachte, das sei klar.«
»Das ist sehr großzügig von dir ...«
»Du bist fremd in Changwutung. Die Menschen sind vielleicht armselig, aber wir haben hohe Mauern. Die Gassen sind in der Nacht nicht sicher.«
»Ich verstehe, was du meinst, und danke dir noch einmal. Ich schätze mich glücklich, mich deiner Gastfreundschaft weiter aufdrängen zu dürfen.«
Xinthe warf eine Paline nach mir.
Ich fing sie, warf sie in den Mund und kaute sie genüßlich.
Ich freute mich auf einen vergnüglichen Abend mit kultivierter Unterhaltung.