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Als wir uns zurückzogen, wurden meine diesbezüglichen Erwartungen nicht enttäuscht.
Die Wohnung rühmte sich zweier Schlafzimmer, einer Küche, einer Gelegenheit zum Frischmachen und einem Wohnzimmer. Ich legte mich mit einer alten, und wie ich zugeben muß, dünnen und abgenutzten Decke auf dem Boden des Wohnzimmers nieder. Da Sie die Erzählung Dray Prescots bis zu dieser Stelle verfolgt haben, ist es sicher überflüssig zu erwähnen, daß ein alter Haudegen an solche Situationen gewöhnt ist. Die restlichen Wohnungen des Gebäudes waren genauso karg. Haushaltssklaven würden am nächsten Morgen den nächtlichen Unrat beseitigen und Wasser bringen.
Als ich die Frage der Sklaverei ansprach, wurde ich teilweise beruhigt, da Wanlicheng die Meinung aussprach, daß es keiner Person gestattet sein sollte, eine andere zu besitzen. Dazu nickte Xinthe zustimmend, doch dann fügte sie auf ihre praktische weibliche Art hinzu: »Es wäre lästig, wenn man selbst alles diese Treppen rauf- oder runterbringen müßte.«
Es gab nur sehr wenige Leute in Paz, die nicht von den Shanks gehört hatten. Auf eine merkwürdige, doch völlig verständliche Weise waren die Berichte über die Shanks und ihre Greueltaten um so schrecklicher, je weiter man sich von der Küste entfernte. Die Apathie, in die Walfarg versunken war, würde jeden Angriff der Shanks zu einem fast sicheren Erfolg machen, erklärte Wanlicheng.
Das war genau die Art von Information, die ich brauchte – und bei Krun, natürlich die Art von Informationen, die ich nicht hören wollte!
Ich fuhr fort: »Habt ihr je von einer Entität, einem Geist, einem schrecklichen übernatürlichen Wesen namens Carazaar gehört? Nicht zu vergessen von seinem abstoßenden mehrdimensionalen Helfer Arzuriel?«
Sie schüttelten den Kopf. Nein, sie hatten nichts desgleichen vernommen.
»Oder von einem Zauberer aus Loh – Entschuldigung, einem Zauberer aus Walfarg – namens Na-Si-Fantong?«
»Fantong? Oh, von ihm hat man schon lange nichts mehr gehört. Die letzten Nachrichten über ihn, die einen Anspruch auf Glaubwürdigkeit besaßen, nannten Kothmir als seinen Aufenthaltsort. Den Gerüchten zufolge war er in irgendeine geschmacklose Gaunerei verwickelt, bei der es um eine Halskette ging.«
»Wie ich gehört habe«, ergänzte Xinthe, »mußte er Kothmir sehr schnell verlassen, weil sich das halbe Heer des Kovs an seine Fersen geheftet hatte.«
»Aber hatte er die Halskette?« sagte ich.
»Nein. Man bekam sie zurück.«
Darüber war ich erleichtert. Wofür dieser Fantong auch alle Edelsteine des Skantiklars haben wollte, man brauchte kein Hellseher zu sein, um zu wissen, daß keine ehrliche Absicht dahinterstand. Es mußten neun Edelsteine eingesammelt werden. Es war ihm nicht gelungen, den Stein der Königin Leone von Tsungfaril zu bekommen. Ich war in diese Affäre verstrickt gewesen. Wie viele der Juwelen besaß er bereits? Da kam mir ein böser Gedanke.
»War die Halskette intakt?«
»Merkwürdig, daß du das fragst. Ein Juwel fehlte. Der Geschichte zufolge, die ich gehört habe, sogar ein ziemlich großer.«
Also hatte der ränkeschmiedende Zauberer zumindest einen Edelstein des Skantiklars in seinem Besitz!
Als wir mit dem Essen fertig gewesen waren und ich gehen wollte, stellte ich fest, daß ich die beiden in mein Herz geschlossen hatte. Wie ihre Beziehung außer der Lehrer-Schüler Bindung aussah, ging mich nichts an. Sie schliefen in getrennten Zimmern.
Wanlicheng, von Xinthe eindringlich unterstützt, schlug vor, daß ich eine Zeit bei ihnen bleiben und die verschiedenen Pfade der Alternativen Magie studieren sollte.
Nun, ich gebe es zu: Ich war von der Idee sehr angetan. Wenn es nur möglich gewesen wäre!
Aber da gab es im Süden Tsungfaril, Mevancy, Tarankar, Taranik und Leone, ganz zu schweigen von Kuong und Llodi. Ihnen galt mein unverzügliches Interesse, auch wenn die Rückkehr nach Vallia und Valka stets mein vorrangiges Ziel blieb.
Ich drückte mein aufrichtiges Bedauern aus, und sie sahen, daß ich es ehrlich meinte. Sie wünschten mir für meine Reise viel Glück.
Und da lag natürlich das Problem. Wie sollte ich die vielen Dwaburs nach Süden zurücklegen?*
Eine Möglichkeit fiel mir ein, eine äußerst offensichtliche. Ich hatte zuviel Angst, sie zu verwirklichen. O ja, ich, Dray Prescot, Lord von Strombor und Krozair von Zy, kannte das Risiko zu gut, auch nur daran zu denken, in die andere Richtung – nach Hause – zu gehen und darauf zu warten, daß mich die Herren der Sterne ergriffen und in Tsungfaril absetzten, wo mein Einsatz verlangt wurde.
Wie man in Clishdrin sagt: Nicht einmal im Suff!
Also wie?
Bevor ich das Thema Everoinye und ihres schlauen blauen Phantom-Skorpions abschloß, gab es noch einen anderen kleinen Punkt im Bilanzbuch: Konnte ich diesem Ding überhaupt noch vertrauen? Der gerblische Onker hatte mich abstürzen lassen, oder etwa nicht? Mitten hinein! Also!
»Drajak, du siehst aus, als hättest du eine Zorca verloren und ein Calsany gefunden.«
Ich verzog die Lippen zu einer Art grimmigem Lächeln. »Wenn es einen Zeitpunkt gäbe, um deine Alternative Magie einzusetzen, dann ist er jetzt gekommen. Dann könnte ich durch die Luft nach Süden fliegen.«
»Eines Tages, eines Tages«, sagte Wanlicheng ermutigend.
Zwischen meinem Ziel und mir lagen die Dschungel von Chem. In diesen feuchten Tiefen lauerten Ungeheuer und Pflanzen-Monster wie die Slaptras und Slaptras. Wahrscheinlich wimmelte der Dschungel von kannibalischen Kopfjägern, die nur darauf warteten, daß ich für ihre tägliche Ration sorgte.
Nun, wenn ich mein Ziel nicht einigermaßen vernünftig zu Fuß erreichen konnte, wenn ich hinfliegen konnte, weil es keine Voller gab, und wenn ich zuviel Angst davor hatte, mich von den Herren der Sterne versetzen zu lassen, dann mußte ich mit dem Schiff reisen.
Als alter Seemann, der auf einem Vierundsiebzig-Kanonen-Schiff als Erster Leutnant gedient hatte, erwartete ich keine Schwierigkeiten, eine Koje zu finden. Besonders da ich Segler auf dem Binnenmeer von Turismond, dem Auge der Welt, und Schwertschiffe auf dem äußeren Ozean, mit besonderer Rücksicht der Hoboling-Inseln und Pandahems kommandiert hatte. Es war vielleicht eine angenehme Erfahrung, die westliche Küste von Loh hinabzusegeln, aber es konnte auch schrecklich sein. Auf jeden Fall war es aber mein Weg.
Sie begleiteten mich zum Flußufer, an dem eine Anzahl Flußboote festgemacht hatte. Sie boten an, den Fahrpreis bis zur Küste zu bezahlen, aber ich lehnte es ab, und kurz darauf hatte man mich als einfachen Matrosen auf einem breiten Schiff angeheuert, das mit Waren für die Städte im Westen beladen war.
Zuerst hielt ich es für eine glückliche Fügung, daß mich der dumme Skorpion näher an der Westküste als an der Ostküste Lohs fallengelassen hatte. Nach einigem Nachdenken änderte ich diese Meinung. Das Gebiet der Westküste Tarankars wurde von Shanks heimgesucht, wie wir glaubten. Ihre hervorragenden Schiffe würden die Häfen vom Meer aus patrouillieren. Hmm. Es wäre eindeutig sicherer gewesen – es hätte aber auch länger gedauert –, wenn ich Loh östlich umrundet hätte.
Als wir auseinandergingen, beugte sich Xinthe plötzlich vor und küßte mich auf die Wange. »Eines Tages wirst du zurückkommen.«
Die Leinen wurden losgeworfen, und der Bug des Schiffes hielt auf das bräunliche Wasser zu. Ich bückte mich zu seinem langen Ruder, schaute hoch und winkte mit einer Hand zum Ufer, als das Schiff von der Anlegestelle abstieß.
»Remberee, Ornol! Remberee, Xinthe!«
»Remberee, Drajak!«
Dann lehnte ich mich mit der Kraft meines Rückens in den Ruderschlag, und wir glitten hinaus in den stechenden braunen Geruch des Flusses.
Tsien-Ting, der Kapitän, ein kleiner nervöser Mann mit einem böse verunstalteten Gesicht, delegierte die meiste Arbeit an seinen Bootsmann weiter, einen ungeschlachten Khibil namens Pondro der Belegnagel. Kein Seemann brauchte zu fragen, was damit gemeint war.
Als das Schiff Quaynts Glück dahinglitt, konnte die Richtung leicht mit ein paar regelmäßigen Ruderschlägen gehalten werden. Das große Rahsegel wurde gewöhnlich nur bei langen geraden Flußabschnitten benutzt. Es gab eine Schonerbetakelung, die angeschlagen wurde, wenn das Schiff flußaufwärts kreuzte. Das Leben war nur hin und wieder anstrengend. Im Fluß der Glitzernden Anmut gab es weder gefräßige Fische noch Ungeheuer, was für den Khibil-Bootsmann Pondro der Belegnagel sehr von Vorteil war.
Als man ihn am Ende eines Bootshakens herausfischte, schaute er mich mörderisch an.
Was er sagte, hätte ich auf keiner Bühne Kregens oder der Erde besser hören können.
»Das wirst du mir büßen!«
Ich sagte nur: »Versuch nicht noch einmal, deinen Belegnagel an einen schutzlosen Kopf zu schlagen, der einem Burschen gehört, der nur halb so groß ist wie du.«
Der kleine Och, der Schiffskoch, der den Ärger verursacht hatte, schaute ängstlich aus dem offenen Oberteil seiner Kombüsentür. Um ehrlich zu sein, ich glaube, er war daran gewohnt, von Pondro herumgeschlagen zu werden; aber es ist nun mal leider meine Art, mich zwischen Schläger und Geschlagene zu drängen.
Tsien-Ting hastete heran und bemühte sich, mit Autorität aufzutreten, quietschte aber nur wie der Woflo in der Falle.
Ich war ärgerlich. Bemerkenswerterweise war ich weniger ärgerlich über mich als über die ungewollte Situation. So wie ich es sah, hätte ich mich nicht viel anders verhalten können.
»Zurück an die Arbeit, Shint!« fauchte Tsien-Ting.
Das wäre nicht nötig gewesen. Ich beachtete ihn nicht und griff nach meinem Ruder, um dabei zu helfen, die nahende Flußbiegung anzugehen.
Warum kann ich, Dray Prescot, nicht wegsehen, wenn Macht mißbraucht wird und Schwache mißhandelt werden; wenn ich auf Ungerechtigkeit und kleinliche Schikane stoße? Ich kann es nicht, aber wäre ich dazu fähig gewesen, hätte ich ein leichteres Leben gehabt und einige Beulen weniger eingefangen, bei Vox!
Für einen Burschen, der auf Kregen Abenteuer erleben will, ist die Fähigkeit, mit einem offenen Auge zu schlafen, mehr oder weniger lebenswichtig. Ich erwachte bei den leisen Schritten sofort und konnte Pondros Fußgelenk deshalb mit der Faust umschließen und ihn umwerfen. Wieder einmal fiel er in den Fluß. Diesmal war es Nacht. Ich zögerte. Das Eintauchen hatte keinen geweckt, da jedermann außer dem Brokelsh-Matrosen Bargray der Daumen schlief. Und Bargray dachte, ich sei über Bord gegangen. Also zögerte ich. Aber ich konnte es nicht.
Ich rief: »Mann über Bord!«
Allerdings ging ich nicht so weit, hinter dem Rast herzuspringen.
Als sie Pondro herausgefischt hatten, war die Quaynts Glück unter Rufen, Flüchen, Laternen und rennenden Füßen zum Leben erwacht. Wieder einmal öffnete Pondro den Mund, um mir mein genaues Schicksal zu schildern. Ich sah ihn an. Er schloß den Mund schnell wieder, schluckte und wandte sich ab.
Nun ja, ich nehme an, manchmal ist Dray Prescots fürchterliche Teufelsfratze ganz natürlich.
Trotzdem war ich schlau genug, das Schiff zu wechseln, als die nächste größere Stadt hinter einer Flußkrümmung auftauchte. In der Entfernung unterschied sich der Ort nicht sehr von Changwutung. Wie es Orte so an sich haben, erwartete ich bei näherer Betrachtung viele Unterschiede. Ich hatte unrecht.
Ternantung war Changwutungs Zwilling.
Die übrige Welt da draußen wußte von Walfarg in Loh nur, daß es da geheimnisvolle ummauerte Gärten und verschleierte Frauen gab. Mir kam der Gedanke, daß nach dem Zusammenbruch des Reiches nicht mehr übriggeblieben war.
Ich habe nicht vor, mich allzu ausführlich über meine Reise auf dem Fluß der Glitzernden Anmut auszulassen. Da gab es den Geruch; in Ufernähe war er kräftig und angenehm, mitten auf dem Strom überraschend frisch. Da war die nie endende Freude an wilden Tieren, Vögeln und Fischen. Am Ufer gab es Siedlungen, und dort legte die Garrus – mein neues Schiff – an, und man trieb mit den Waren Handel, die man beförderte. Kapitän Nath Hsienu, ein Apim, der Nath der Poller genannt wurde, führte sein Schiff wesentlich strenger als der unfähige Tsien-Ting. An Bord der Garrus gab es keine Schwierigkeiten. Außerdem war Nath der Poller süchtig nach dem Jikalla-Spiel, und wir spielten einige interessante Partien, obwohl, wie Sie wissen, mein Hauptinteresse auf diesem Gebiet beim Jikaida liegt.
Nath der Poller warnte mich, daß es schwierig sei, ein Schiff mit Kurs nach Süden zu finden.
»Ich habe Gerüchte gehört über viele Unannehmlichkeiten, die sich an der dortigen Küste abspielen sollen. Mein Vetter zweiten Grades Naghan der Omurdour stach mit einer prächtigen Mannschaft dorthin in See. Man sah sie nie wieder.«
»Und die Gerüchte?«
»Die Teufelsschiffe, die bei der Vernichtung des Reiches halfen. Sie sind wieder gesehen worden, als sie über die Küste flogen.« Er sah mich bedeutungsvoll an. Aufgrund seiner Arbeit als Schiffskapitän reagierte er nicht annähernd so träge auf Neuigkeiten wie die Mehrzahl seiner Landsleute. »Über der Westküste. Du weißt, was das bedeutet.«
Ich wußte es; zumindest glaubte ich es zu wissen. Es mußte sich um Shanks-Voller handeln. Aber es war klar, daß Nath der Poller sich auf Voller aus Havilfar und Hyrklana bezog; die Flugboote, die an der Niederlage Lohs mitgewirkt hatten.
»Du hast sie nicht gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wollte ich auch nicht. Man hat einen armen Teufel aus der See gefischt, der sich an einen Maststumpf klammerte. Er hatte sie gesehen. O nein, wenn du diese Schiffe durch die Luft fliegen siehst, ist es das letzte, was du in deinem Leben siehst, bei Lingloh!«
Diese Neuigkeiten waren tatsächlich mehr als nur ein Gerücht. Die Chance, ein Schiff zu finden, das nach Süden segelte, wurde mit jeder Minute schlechter.
»Kopf hoch«, riet mir Nath der Poller und richtete das Spiel zum neuen Beginn her. »Wir segeln bis nach Sardanar an der Flußmündung. Wenn du dort ein Schiff findest, das auch ausläuft, damit du dich umbringen lassen kannst, nun Dom, dann ... dann war dir wenigstens die Zeit vergönnt, bis dahin Jikalla zu spielen!«