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Ich habe es schon früher gesagt, und wenn die Feuerstein-Sichel von Kranlil dem Sensenmann mich verschonen sollte, werde ich es sicher noch oft sagen: Ah! Durch die süße Luft Kregens zu rasen; die Brise streicht dir durchs Haar, und überall scheinen die Sonnen. Das ist Leben!

Erfüllt von der reinen Freude des Fliegens, ließ ich das Flugboot immer schneller werden. Kurs Süd war angesagt, im Süden lagen die Gefahr und der Schrecken, dort lauerte an jeder Ecke der Tod. Als ich mich hungrig fühlte – nun, eigentlich eher ausgehungert –, schlang ich die Schleife eines Taus um die Kontrollen, um den Voller auf geradem Kurs zu halten, und wühlte in den an Bord befindlichen Vorräten. Meine Jungs erfüllten mich mit Stolz. Es gab Körbe mit Essen und Flaschen mit Getränken, und in kürzester Zeit brannte auf der Schiefertafel ein Feuer. Man muß auf einem Schiff mit offenem Feuer vorsichtig umgehen, sowohl auf dem Wasser als auch in der Luft. Ich erinnerte mich an frühere Abenteuer mit Seg, achtete peinlich genau auf alles, und der Voller fing kein Feuer.

Köstliche Essensdüfte stiegen auf. Ich leckte mir die Lippen. Es würde eine üppige Mahlzeit werden, da es vielleicht die letzte war, die ich für einige Zeit zu mir nehmen konnte. Also verwendete ich alle verfügbaren Zutaten, und das kräftige Aroma füllte den Voller.

Eine klagende Stimme sagte: »Ich verkünde, daß meine Eingeweide mich betrogen haben.«

Ich drehte mich nicht um.

»Da ist ein Teller und Eßgeschirr«, sagte ich. »Nimm dir eine Flasche.«

»Meine Eingeweide danken dir, auch wenn es mir schwerfällt.«

Er setzte sich und beschäftigte sich eifrig mit der Flasche. Ich sagte: »Wie hast du es geschafft, dich meinen Wachen zu entziehen?« In dem Moment, da die Worte meinen Mund verlassen hatten, erkannte ich die Dummheit der Frage.

Die ganze alte Herablassung kam in einem Wortschwall zum Vorschein, als er sagte: »Du vergißt etwas: Ich bin ein Zauberer aus Walfarg.«

Es war ihm gelungen, aus dem Voller zu entweichen und unbemerkt in den meinen zu klettern. In diesem jungen Halunken steckte offensichtlich mehr, als ich erwartet hatte. Ich mußte ihn einer genaueren Prüfung unterziehen.

Dann verriet er – Zauberer aus Loh oder nicht –, daß er noch immer ein Jüngling war, der einer feindlichen Welt entgegenflog. Er sagte in einem ganz anderen Tonfall, den ich nicht als ängstlich bezeichnen möchte: »Du zeigst keine Reaktion ... daß ich hier bin. Ich hätte erwartet, daß du zornig bist.«

»Schimpfen bringt nichts, wenn man das Calsany aufgescheucht hat.«

»Wenn es so ist, stimme ich zu.« Er wechselte das Thema. »Ich versteckte mich unter dieser Plane neben einer Kiste, die offensichtlich Pfeile enthält. In der Kiste daneben liegen meiner Meinung nach Bögen.«

»Ja.«

Er schluckte. »Ich wollte dich fragen, ob ich, äh, mir einen Bogen ausleihen dürfte.« Er blickte mich rasch von der Seite an. »Wenn wir dort sind, wo sich der Schrecken ballt, wie du es ausdrückst, wären ein guter Bogen und ein guter Schütze recht nützlich.«

»Außerordentlich.«

»Nun?«

»Such dir einen aus.«

Ich sah ihm zu, wie er die Kisten öffnete – es war Standardmaterial der vallianischen Armee – und sich einen Bogen aussuchte. Er traf eine gute Wahl. Sein Gesicht verriet die Freude am Bogenschießen und seine Hoffnung, das Ziel zu treffen. In diesem Moment war er menschlicher als je zuvor, abgesehen von seiner Reaktion bei dem Shuckerchun. Ich mußte ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit loswerden.

»Ich habe geschworen, daß ich als Bogenschütze aus Loh Abenteuer bestehen werde. Und nun tue ich genau das, bei Hlo-Hli!«

Er wollte offenbar weiterplappern, und da ich mich in meine eigenen Gedanken zu versenken vermag, um Ruhe zu finden, murmelte er unbekümmert einige Zeit weiter. Ich schaffte es, hin und wieder eine einsilbige Erwiderung zu geben. Dann sagte er: »Deine Wachen sind wilde Burschen. Ich war begeistert von ihnen. Sie sind dir eindeutig ergeben, und sie haben große Ehrfurcht vor dir ...«

»Ehrfurcht?«

»O ja. Aber ich glaube nicht, daß sie dich fürchten.«

»Mich fürchten? Bei Vox, mein Junge, das will ich aber auch nicht hoffen!«

»Trotzdem rücken sie aus und sterben für dich.«

»So etwas passiert«, sagte ich mürrisch. Das Sterben tapferer Männer und Frauen ist ein heikles Thema für mich. Also fuhr ich fort: »Du solltest die Regimenter bei der Parade sehen! Die Musikkorps, die Flaggen, der Glanz und der Schwung, der allem innewohnt. Ja, das ist die Seite des Soldatentums, die man sehen und genießen sollte; aber die Realität ist natürlich schmutzig und unangenehm. Meine Jungs wissen, daß ich den Krieg nicht mag. Ich versuche, sie am Leben zu halten, und sie wissen es zu würdigen.«

»Oh«, machte er mit dem typischen alleswissend-hochmütigen Gebaren. »Sie wissen mehr als nur das an ihrem Kendur zu schätzen, dem Herrscher aller Herrscher.«

»Und was dich angeht«, sagte ich mit tiefem Ernst, »so werfe ich dich ohne Remberee über das Schanzkleid, wenn noch mehr davon kommt!«

Er hatte den Anstand, wegzusehen und zu schweigen.

Man kann Dray Prescot nicht so ohne weiteres Honig ums Maul schmieren, nein, bei Krun!

Die Mahlzeit war hervorragend, und entsprechend wurde auch mit ihr verfahren. Als wir uns zurücklehnten, sagte Rollo: »Ich spüre etwas ... Es ist interessant. Hör mal, ich würde gern ein Experiment ausführen. Wenn du bitte die Augen schlössest!«

Nun gibt es Leute auf Kregen – bei Krun, auch auf dieser Erde –, in deren Gegenwart ich nicht im Traum daran dächte, die Augen auch nur für einen Moment zu schließen. Aber ich spürte, daß ich Rollo dem Läufer vertrauen konnte. Also schloß ich die Augen.

Nach kurzer Zeit hörte ich an den unmißverständlichen Geräuschen, daß Rollo sich übergab.

Als ich die Augen öffnete, lehnte er über der Reling und entledigte sich des ganzen schönen Mahles.

An Bord gab es Wasserkrüge und Handtücher, und nachdem er sich erholt und gesäubert hatte, sah ich ihm ins Gesicht. Es war immer noch grün. Er hatte die Schweißperlen abgewaschen. Er schaute mir nicht in die Augen.

»Dein Experiment ist fehlgeschlagen?«

Er nahm einen Schluck Wasser und zog eine Grimasse. Er sah ziemlich unglücklich aus.

»Nein, es war durchaus erfolgreich.«

»Dann verschon mich mit deinen Fehlschlägen!«

Er sah mich böse an und trank noch einen Schluck. »Wie ich sagte, habe ich etwas gespürt. Jetzt weiß ich, was es ist. Du besitzt ein Schutznetz.«

»Deb-Lu hat es mir gesagt. Es ist Zauberei.«

»Es ist außerordentlich mächtig ...«, fing er an. Da verstand ich.

»Ich verstehe! Du hättest meine Eingeweide in ziemlichen Aufruhr versetzt, wenn Deb-Lus Schutznetz deinen verdammten Spruch – oder was es auch sonst immer war – nicht zurückgeschleudert hätte! Ich verstehe ...«

»Nein, nein. Ich versichere dir, es wäre nur ein leichtes Zwicken gewesen.«

Ich sah ihn unheilvoll an, doch konnte ich ihm nicht einmal böse sein, ließ er sich doch nur von seinen Interessen und seinem Temperament leiten. Und außerdem trug er den Schaden davon. Auf Kregen sagt man bei solchen Mißerfolgen nicht wie auf der Erde, das Experiment sei fehlgeschlagen, sondern man verwendet ein einziges kurzes Wort: Snizz. Und das bedeutet nichts anderes, als daß man sich beim Ausholen mit dem Schwert die Zehen abschlägt. Rollos Experiment war ein Snizz gewesen.

»Hm, nun gut. Das bedeutet aber, mein Junge, daß du der Zauberei mächtig bist. Das könnte sich als überaus nützlich erweisen ...«

»Oder es könnte mich umbringen. Ich weiß.«

»So ist es. Nun, da du entschlossen bist, mit mir zu fliegen, ist es erforderlich, daß du die Steuerung kennenlernst.«

Er schaute erschrocken drein. »Diesen Apparat fliegen?«

»Shuckerchun.«

Er wischte sich mit dem gelben Handtuch übers Gesicht. »Ja, ich verstehe. Nun gut.«

Es ist nicht sehr schwierig, ein kregisches Flugboot zu steuern und die Kästen zu kontrollieren, die für Bewegung und Auftrieb sorgen. Ein bestimmtes Können ist leicht zu erlernen. Rollo war schnell und intelligent, und er hatte den Bogen schnell heraus. Es ist einfach, einen Voller zu fliegen. Das wahre Können großer Piloten kommt durch Übung, Hingabe, Begeisterung und reines Talent für die Luftfahrt. Einige dieser Waghälse vollbringen haarsträubende Kunststücke. Ein Vollerpilot der ersten Klasse wird in jedem Luftdienst eines Landes hoch geschätzt.

Die Landung eines Flugbootes ist der schwierigste Teil des ganzen Flugs. Der Pilot muß die Höhe einschätzen und genau zur richtigen Zeit die Kontrollen bedienen, die die Silberkästen in ihrer Kreisbahn auseinanderbringen, die mittels Messing und Balass hergestellt wird. Ich werde nie das erste Mal vergessen, als Delia mir alles zeigte. Mir blieb fast das Herz stehen – auf mehr als nur eine Weise, Opaz sei Dank!

»Sachte, Rollo, so ist es richtig! Entwickle das Gespür dafür, und geh langsam tiefer.«

Wir landeten mit einem riesigen Knall im Gras.

»Steig auf und versuch es noch einmal. Sachte!«

Diesmal war der Knall beträchtlich leiser.

»Noch einmal.«

Diesmal mußte ich in die Kontrollen greifen und den Hebel steil nach oben schieben, so daß wir wie ein hochschnellender Lachs in die Luft schossen. »Ich will nicht Lord Farris ständig um neue Voller bitten müssen.«

Rollos grüne Färbung kehrte zurück.

»Dieses Mal hübsch und sachte, dann werden wir weitersehen.«

Er brachte eine beinahe perfekte Landung zustande. Wir gingen in einer Lichtung zwischen den Bäumen nieder, die keinen hellgrünen Mittelpunkt hatte.

»Ich will dir etwas sagen«, sagte er, und die erfolgreiche Landung war beinahe schon vergessen. »Ich werde ein paar Pfeile für dich abschießen.«

»Einverstanden.«

Also holten wir an Ort und Stelle unsere Bogen hervor, spannten sie, überprüften sie und einigten uns über Ziele und Entfernungen. Er war sehr gut. Ich glaube, sogar Seg wäre widerstrebend ganz zufrieden gewesen. Aus irgendeinem Grund schoß ich schlecht. Es lag wahrscheinlich daran, daß ich immer wieder an die schwerwiegenden Probleme unten im Süden denken mußte. Ich weiß, für einen Kämpfer ist das unverzeihlich, und ich habe keine Entschuldigung dafür. Das Endergebnis war, daß ich mit weitem Abstand zu Rollo verlor.

Rollo gab keinen Kommentar zu meinen miserablen Schießkünsten ab. Damit bewies er zumindest einen Takt, der für einen Älteren typisch gewesen wäre. Er hätte eine Bemerkung machen können, daß hier eine weitere Dray Prescot-Legende zur Ruhe gebettet werde. Wissen Sie, die meisten Geschichten über die Meisterschaft im Bogenschießen standen in Wirklichkeit Seg zu – und Inch die Geschichten, laut denen Dray Prescot mit einer gewaltigen Streitaxt aufräumte.

»Da du gesiegt hast, steht dir auch die Ehre zu, alle Pfeile wieder einzusammeln.«

Die von uns als Ziel ausgewählten Bäume waren mit Pfeilen gespickt. Etliche meiner Pfeile waren daran vorbei und weiter in den Wald gezischt.

Rollo rümpfte die Nase. »Die Preise für die Kunst des Bogenschießens werden in Vallia offenbar sehr großzügig vergeben.«

»Frag besser nicht, was du bekommst, wenn du verlierst«, riet ich ihm.

»Keine Gerechtigkeit, das ist mir klar, bei Lingloh!«

»Da wir nicht offiziell gewettet haben, gibt es auch keinen rechtmäßigen Gewinn. Da du jedoch gesiegt hast, darfst du den Bogen und einige der Pfeile behalten.«

»Ah! Das gefällt mir schon besser. Ich danke dir.«

Er lief erleichtert los, um die Pfeile einzusammeln.

Ich war nicht so dumm zu glauben, daß ein Mann – vielmehr ein Junge – wie Rollo mit billigem Lob zu kaufen ist. Von Rollo dem Läufer wäre noch eine Menge an ärgerlichen Hochmut zu erwarten.

Als wir an Bord gingen, befolgte Rollo das Fantamyrrh, was mir gefiel, und er stieg sehr tollkühn auf; auf recht unbesonnene Art beförderte er uns in die Luft. Ganz oben hatten sich ein paar Wolken gebildet, und der Tag neigte sich seinem Ende zu. Ich hatte mich in der Nähe der Bäume, wo wir uns mit dem Bogenschießen beschäftigt hatten, nicht sonderlich wohl gefühlt. Hätte ich Rollo gegenüber mein ungutes Gefühl erwähnt, hätte er sie meiner Niederlage bei dem Wettbewerb zugeschrieben. Eine Meinung, der vielleicht sogar eine gewisse Wahrheit zugrunde gelegen hätte, bei Krun.

Wir sahen einen hübschen kleinen Fluß, der sich durch ein Tal schlängelte; hier und da gab es ein paar Bäume. Das Gras sah immer noch schön grün aus. In den vorausliegenden Schatten erschienen im Dunst die roten Dächer und weißen Türme einer Stadt. Die Sonnen mußten bald untergehen.

In dieser Nacht kampierten wir an Bord des Vollers. Wir wechselten uns bei der Wache ab. Obwohl es sicherer für uns gewesen wäre, wenn wir weiter durch die Nacht geflogen wären, sprachen zwei Faktoren dagegen. Einmal hielt ich es nicht für unbedingt empfehlenswert, blind durch die Dunkelheit zu rasen, auch wenn wir uns in Loh aufhielten, wo es keine anderen Voller gab. Und dann glaubte ich, daß diese Belastung für Rollo zu groß wäre.

Wie es bei einem Feldzug nun einmal ist, kann jede Mahlzeit die letzte sein. Also sorgte ich dafür, daß wir immer alles aufaßen. Und so entwickelte sich dann unser Tagesablauf in der darauffolgenden Zeit, als wir mit gleichmäßiger Geschwindigkeit rasch über Loh dahineilten. Ich lernte Rollos Qualitäten immer mehr schätzen und war völlig davon überzeugt, daß Deb-Lu ihn zu einem erstklassigen Zauberer erziehen könnte. Die Luft wurde wärmer.

»Drajak«, sagte er eines schönen Morgens, »hast du vor, Chem zu überfliegen?«

Genau über dieses Problem dachte ich nach. Chem, tropisch, mit Dschungel bedeckt, voller Ungeheuer, war keine einladende Landschaft. Wenn wir in der Luft blieben, wären wir sicher – trotz der riesigen geflügelten Kreaturen, die es mit Sicherheit gab und die nur aus Klauen und Rachen bestanden.

»Wenn wir uns in Richtung Westen bewegen und die Küste entlangfliegen, ziehen wir vielleicht ungewollt Aufmerksamkeit auf uns.«

»Shanks.«

»Aye.«

»Vor einigen Perioden traf ich Las-po-Wehning, nachdem er aus Chem zurückgekehrt war. Er hatte dort eine gute Stellung, da es dort tief im Dschungel fast vergessene Städte gibt. Die Einwohner sind so wild und unversöhnlich wie die Ungeheuer, die sie bekämpfen. Laspo hatte gelbe Haut, eingefallene brennende Augen, war bis auf die Knochen abgemagert, und ihn plagte das Zittern. Er schwor bei den Sieben Arkaden, daß ihn nichts zu einer Rückkehr nach Chem bewegen könne.«

»Egal, wir können fliegen.«

»Du meinst, du fliegst mit diesem Apparat auch in der Nacht?«

Ich gab ihm einen kurzen Abriß über die Schwierigkeiten, die wir mit den Flugbooten gehabt hatten, nachdem wir sie von Hamal gekauft hatten. »Jetzt, da Hamal ein Verbündeter ist, liefert man uns gute Voller.«

»Du willst damit sagen, Menschen haben ihr Leben in diesen Dingern riskiert, obwohl sie wußten, daß sie versagen können?«

»Das war in der schlechten alten Zeit.«

Ich ging nicht näher darauf ein. Vielleicht hätte ich schon das nicht erzählen sollen. Die Wahrheit war: Voller konnten aus einer Vielzahl von Gründen versagen, so gut sie gefertigt oder wie vortrefflich die Silberkästen auch waren. Selbst heute noch.

Rollo hatte die Angewohnheit, plötzlich das Gesprächsthema zu wechseln. Er tat es mit einem besonderen Maß an Können und Absicht. Und er kam wieder auf das ursprüngliche Thema zurück, wenn es ihm paßte. So sagte er nun: »Deine Wachen hatten es sehr eilig, in die Kämpfe verwickelt zu werden, obwohl du sie zurückhalten wolltest. Sie erwarten viele Schlachten unter deinem Kommando als Herrscher aller Herrscher, als Herrscher von Paz, und sie erweckten in mir den Eindruck, als wären sie begierig, der Welt ihren Mut zu beweisen.«

Auf den Schultern dieses jungen Halunken, dieses Zauberlehrlings aus Loh, saß ein alter Kopf – zumindest manchmal. Er durchschaute die äußere Erscheinung.

»Hm«, machte ich, »da bin ich mir nicht so sicher. Sie kennen alle meine Einstellung zu Schlachten recht gut.«

»Natürlich, aber wenn du Herrscher von Paz werden willst ...«

»Augenblick, mein Junge! Ich will nicht der verdammte Herrscher von Paz werden! Mein Val! Denk doch nur einmal daran, was das zur Folge hätte! Ich müßte zwischen Ländern von Paz Bündnisse und Freundschaften schmieden. Doch viele gingen einander lieber an die Kehle. Ist das eine Aufgabe, die ein geistig gesunder Mann oder eine kluge Frau gern übernähmen, hm?« Wenn er den äußeren Anschein zu durchschauen vermochte, wie ich eben andeutete, dann hätte er erkennen müssen, daß ich mit dieser unangenehmen Arbeit nichts zu tun haben wollte.

»Es gibt Leute, die sich darauf stürzen würden.«

»Makibs, eine ganze Menge. Stell dir ein Gebiet vor, das zwei Nationen für sich beanspruchen. Sie führen deswegen Krieg, und die Angelegenheit ist bis zum nächsten Krieg geregelt. Ich müßte mich also um beide Parteien kümmern und nachdenken, wie ich das Problem löse. Ich müßte entscheiden, daß das Land der einen Nation statt der anderen gehört. Oder ich müßte es teilen. Was ich auch entscheide, es ist falsch. Stimmt's?«

Er bedachte mich mit einem schmalen Lächeln. »Aber denk an den Ruhm, die Macht, das Ansehen! Das brächte das Blut eines jeden Mannes in Wallung.«

»Es ist offensichtlich, daß du mich überhaupt nicht verstehst ...«, fing ich an. Dann tadelte ich mich selbst. Das schmale Lächeln spielte auf seinem Gesicht, kräuselte ihm die Lippen. O ja, er war klug! Er prüfte mich, verhörte mich. Die Wahrheit war: Er blieb ein Zauberer aus Loh. Ich hatte ihm eine Arbeit angeboten – oder genauer: ihm angeboten, sein Klient zu werden. Er wollte meine Gefühle und meine Meinung über das Thema Macht kennenlernen. Was ihm auch völlig zustand.

Bedächtig sagte ich: »Hast du je von einem Zauberer aus Loh gehört, den man Phu-Si-Yantong nennt?«

Das Lächeln verschwand sofort.

»Er verriet die heiligsten Lehren Whonbans. O ja, er war bekannt. Jetzt ist er tot.«

»Opaz sei Dank. Und doch habe ich immer nach etwas Positivem in ihm gesucht.«

»Meine Lehrer auch. Ich glaube aber nicht, daß man etwas gefunden hat.«

»Nun, er bleibt ein Beispiel. Doch ich glaube weiterhin daran, daß er nicht völlig böse war ...«

Mit der ganzen Arroganz der Jugend fauchte er: »Das ist nichts als Dummheit.«

»Vielleicht.«

Er wandte sich ab und starrte an der Seite des Vollers entlang zum Horizont. Ich spürte – ich hoffte –, daß meine Erwiderungen seine Fragen beantwortet hatten.

Ich sagte: »Man hat mir die Stellung des hohen und mächtigen Herrschers aufgenötigt. Glaub mir, bei Vox, in dem Moment, da die Aufgabe erledigt ist, trete ich zurück. Ich habe andere Dinge zu tun ...«

»Bessere Dinge?«

»Natürlich, wenn man es in einem bestimmten Zusammenhang sieht. Im Zusammenhang mit der Invasion der Shanks müssen die besseren Dinge warten. Es ist eine verdammte Pflicht, die mir da aufgebürdet wurde.«

»Wenn wir unser Abenteuer zusammen zu Ende gebracht haben, wird es mich freuen, in Vallia unter Deb-Lu-Quienyin zu lernen.«

»Dondo!« Damit drückt man aus: ›Gut!‹

Wieder wechselte er das Thema. Er hob einen Pfeil auf und bewegte ihn zwischen den Fingern. »Es ist eine allgemein anerkannte Tatsache, daß die beste Befiederung eines Pfeils aus den blauen Federn des King-Korf aus Erthyrdrin hergestellt wird.« Er glättete sanft die rosarote Befiederung, die vom Zim-Korf Valkas stammte. Farris kannte meine Vorliebe, was Pfeile anging, und hatte die valkanischen Pfeile für mich an Bord genommen. Bei den Pfeilen aus der Waffenkammer des vallianischen Heers waren allerdings braune und weiße Federn verbreiteter. »Die hier sind nicht rot gefärbt. Wo kommen sie her? Bei Lingloh, sie sind sehr gut gemacht.«

Ich verriet es ihm und fügte hinzu: »Sogar Bogenschützen aus Erthyrdrin sollen sie ihren eigenen vorgezogen haben – manchmal.«

Er redete weiter und erklärte, daß der Bogen, den ich ihm gegeben hatte, sehr schön sei. Er lobte enthusiastisch seine Qualitäten. Ich sah von der Bemerkung ab, daß nur das Beste genügte, seit Seg die Bogenschützen von Vallia befehligte. Ich gebe zu, daß ich ziemlich gespannt darauf war, wie Seg auf diesen Jüngling und seinen Wunsch, ein Bogenschütze aus Loh zu werden, reagieren würde.

Da erkannte ich, daß ich sehr streng mit dem guten alten Seg sein mußte. Es gab keinen Zweifel, daß Rollos Leben in die thaumaturgische Richtung gesteuert werden mußte. Er konnte sich nebenher so lange als Bogenschütze aus Loh betätigen, wie er Lust hatte. Und das ließ mich natürlich sofort innehalten. Welches Recht hatte ich, Rollo oder irgendeinem Menschen zu diktieren, was er mit seinem Leben anfangen sollte?

Nur weil ich der verdammte Herrscher von Paz war? Beziehungsweise es vielleicht irgendwann einmal werden sollte?

Ich sagte: »Steure also nach Westen. Wir werden versuchen, in der Nähe der Küste zu bleiben. Halt die Augen offen!«

»Oh, das werde ich tun, das werde ich tun. Ich will nicht zum Sklaven der Shanks werden.«

»Ich hätte gedacht, ein Zauberer aus Loh könnte sich etwas ausdenken, um diesem Schicksal zu entgehen.«

Er antwortete nicht, als der Voller in dem strahlenden vermischten Licht der Sonnen eine Kurve beschrieb.