Neue Zürcher Zeitung
Bilder eines Paparazzos
Leif Davidsens Roman «Der Augenblick der Wahrheit»
Hinter dem nichtssagenden Titel verbirgt sich ein gut geschriebener und spannender Unterhaltungsroman. Das Piepsen eines Handys bringt den Stein ins Rollen: das Opfer, ein spanischer Minister, hebt den Kopf und schaut mit zusammengekniffenen Augen die Felsen hinauf, die sich über einer kleinen, versteckten Bucht an der Costa Brava türmen. Oben liegt seit einigen Stunden ein Sensationsphotograph auf der Lauer, um vom Politiker und von der jungen Frau ein Bild zu schiessen. Der Minister kann das Piepsen zwar nicht hören, das Rauschen des Meeres überdeckt jedes Geräusch, aber er spürt es und alarmiert seine Leibwächter.
Der Sensationsphotograph heisst Peter Lime. Er ist Däne, um die fünfzig, mit einer Spanierin verheiratet und Vater einer siebenjährigen Tochter. Seine Arbeit – die Jagd und die Erlegung der Beute – erfüllt ihn mit tiefer Befriedigung. Die Skrupel, Reiche und Berühmte zu blamieren und aus der Neugier der Menschen Profit zu schlagen, wischt er beiseite. Schliesslich gehört er einer Generation an, die «die Welt ins Bessere» kehren wollte und von «Liebe und Gleichheit» träumte – was kümmert ihn der Sturz eines bürgerlichen Politikers, den die Veröffentlichung der Photographie zweifellos nach sich ziehen wird? «Vielleicht lag es an meinem Alter, dass ich meinen Beruf mehr und mehr in Frage stellte», überlegt der Ich-Erzähler Lime in seiner Rückblende. Aber im Grunde weiss er, dass sich seine Werte gewandelt haben, denn inzwischen zählt er selbst zum Establishment, und Frau und Kind sind ihm wichtiger als alles andere.
In Davidsens Roman ist die Vergangenheit des Protagonisten der Angelpunkt der Handlung. Das Piepsen des Handys, das Peters Aufnahmen vom Minister und von seiner Geliebten abrupt beendet, beschwört sie herauf: Lime soll Auskunft geben über eine Photo, die er vor dreissig Jahren in der dänischen Provinz geschossen und an eine Lokalzeitung verkauft hat.
Nach diesem Auftakt bleibt kein Stein auf dem andern: das scheinbar harmlose Bild einer Frau mit Gitarre und Marianne-Faithfull-Haarschnitt macht aus dem Jäger einen Gejagten, Frau und Kind kommen ums Leben, Limes Vergangenheit wird aufgewühlt, und Treulosigkeit und Verrat lassen Welten zusammenbrechen.
Lesenswert ist dieser erste auf deutsch vorliegende Roman von Leif Davidsen nicht nur auf Grund der Darstellung seines zwiespältigen Protagonisten, sondern auch auf Grund der Authentizität der Schauplätze und der Einbettung der Handlung in die Zeitgeschichte. Davidsen, 1950 (und wie sein Protagonist) auf Fünen geboren, arbeitete als Journalist, politischer Korrespondent und Nachrichtenredaktor, ehe er sich der Schriftstellerei zuwandte. So lässt er etwa Kenntnisse über die baskische Terrororganisation ETA und über die Arbeit der Gauck-Behörde in den Roman einfliessen, und er verwebt den Skandal um das 1996 erbaute dänische Kunstmuseum Arken, dessen Direktorin ohne jegliche Überprüfung ihres akademischen Leistungsausweises angestellt worden war und mit einem Millionenbetrag spurlos verschwand.
Christine Holliger -- Dieser Text bezieht sich auf eine andere Ausgabe: Gebundene Ausgabe .
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'Eine absolute Entdeckung, ein Thriller der Spitzenklasse, der zum Nachdenken anregt .' BRIGITTE