Petranko übernachtete bei Panker. Freitag kehrte zu seiner Familie heim, noch immer traurig, dass FNews aus dem Internet verschwunden ist. Cench vereinbarte mit Kokoschansky, dass er sich meldet, sobald er Näheres über Wolfgang Richters alias Mitnicks Zustand erfährt. Sowohl Petranko und Panker bestanden darauf, dass Kokoschansky und Lena nach Hause fahren und sich ausschlafen.
Endlich wieder im eigenen Bett, ein wahres Gottesgeschenk, und beide fielen sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Trotzdem stellte Kokoschansky den Wecker auf 9 Uhr. Es liegt noch ein Haufen Arbeit vor ihnen, wenn tags darauf die Pressekonferenz ein Knüller werden soll.
Bereits um 8 Uhr läutet das Prepaid-Handy, das Kokoschansky nur für den Notfall, falls mit Günther etwas nicht in Ordnung ist, besorgt hat. Sofort ist er hellwach.
»Ja.«
»Ich bin es, Sonja.«
»Stimmt etwas nicht mit Günther?«
»Nein, alles bestens. Dem Jungen geht es ausgezeichnet. Ich muss mit dir reden.«
»Was jetzt?«
Inzwischen ist auch Lena wach geworden, reibt sich die Augen und sieht ihn fragend an. Kokoschansky legt nur den Zeigefinger an die Lippen als Zeichen, ruhig zu sein.
»Ja, jetzt.«
»Und wo? Bei dir zu Hause?«
»Nein, es ist so ein schöner Morgen. Gehen wir doch ein bisschen spazieren«, schlägt Kokoschanskys Exfrau vor.
»Wo soll das sein?«
»Auf der Donauinsel.«
Das verheißt nichts Gutes. Kokoschansky quälen böse Vorahnungen. »Na gut. Wann?«
»In einer Stunde, um 9 Uhr.«
»Die Donauinsel ist groß. Wo genau?«
»Auf der Reichsbrücke, ein Stück von der U-Bahn-Station stadteinwärts entfernt, auf dem Fußgängerweg bei der Ausbuchtung, wo man so schön auf die Donau, den Kahlenberg und Leopoldsberg sieht.«
»Warum ausgerechnet dort?« Kokoschansky traut ihr nicht. Dieser ungewöhnliche Treffpunkt irritiert ihn. »Wäre es nicht einfacher …?«
»Nein«, schneidet Sonja ihm barsch das Wort ab, und ihre Stimme klingt merkwürdig, »von dort kann Günther die großen Schiffe besser sehen.« Im Hintergrund hört Kokoschansky seinen Sohn jubeln.
»Ich werde da sein. Um 9 Uhr.«
»Ich warte. Dann wird es Günther bestimmt sehr gut gehen.«
Aufgelegt …
»Was ist los?«, fragt Lena. »Ist Günther krank?«
»Nein, nein.« Kokoschansky ist völlig durcheinander. »Ihre Stimme war so eigenartig. Entweder sind das ihre verdammten Tabletten, oder sie hat getrunken oder beides. Warum dieser komische Treffpunkt? Jetzt ist genau das eingetreten, was ich immer befürchtet habe. Sie will sich mit Günther umbringen, und ich soll ihr dabei zusehen. Das ist ihre Rache. Diese Verrückte will sich mit dem Buben von der Brücke in die Donau stürzen.«
»Wenn wir Sonja mithilfe der Polizei zu Hause abfangen?«, schlägt Lena vor.
»Sie wird nicht öffnen und wenn sie merkt, dass die Polizei mit im Spiel ist, dreht sie komplett durch und nimmt Günther als Geisel. Das ist mir viel zu gefährlich. Ich muss es riskieren.«
»Ich komme mit.«
»Nein«, bestimmt Kokoschansky barsch. Ungewaschen und unrasiert schlüpft er in seine Klamotten. »Ich weiß, was wir tun. Du setzt mich bei der Reichsbrücke ab. Dann fährst du über die Brücke und kommst von der anderen Seite. Du hältst dich aber im Hintergrund. Leider ist es dort total einsehbar, aber ich werde versuchen, Sonja abzulenken. Hoffentlich spinnt sie nur und hat nicht das vor, was ich glaube.«
*
Alfred Cench wurde noch in dieser Nacht von Katterka auf unbestimmte Zeit wegen seines nicht genehmigten Alleinganges beurlaubt, was nichts anderes wie Suspendierung bedeutet, nur eleganter formuliert.
»Wolfgang Richter« konnte zu den Vorgängen noch nicht befragt werden, er ist weiterhin nicht ansprechbar, und sein Zustand hat sich in den letzten Stunden erheblich verschlechtert.
Der neue Tag ist längst angebrochen, die ersten Strahlen einer morgendlichen Herbstsonne dringen durch die Fenster in das Bundeskanzlerbüro am Ballhausplatz, und noch immer wird heftig über die weitere Vorgangsweise diskutiert.
»Wer ist dieser Journalist Heinz Kokoschansky?«, fragt der Bundeskanzler. »Was konnte bisher über ihn an Informationen eingeholt werden?«
»Der ist sehr lange im Geschäft«, klärt ihn der Generaldirektor für Öffentliche Sicherheit auf, »war früher beim ORF, arbeitet aber seit Jahren nur mehr frei und schreibt Bücher. Was er in den letzten Jahren aufdecken konnte, hatte immer Hand und Fuß. Verfügt über beste Kontakte zu allen möglichen Kreisen und Schichten.«
»Auch zur Mafia?« Die Innenministerin, noch nicht lange im Amt und eine politische Quereinsteigerin, bleibt skeptisch.
»Denkbar ist es auf jeden Fall«, sagt der GD völlig wertfrei, »wenn er tatsächlich der tolle Journalist ist, für den viele seiner Kollegen ihn halten, durchaus.«
»Also, da möchte ich doch dagegensprechen«, meldet Katterka sich energisch zu Wort, »ich glaube nicht, dass die `Ndrangheta, die Cosa Nostra oder irgendeine Verbrecherorganisation auf einen Herrn Kokoschansky angewiesen ist. Ein Kaliber wie Salvatore Madeo sprach nie, auch nicht in Italien und in Deutschland, mit einem Journalisten. Das widerspricht dem Schweigegelübde, der omertá. Abgesehen davon ist es wohl im Reich der Utopie anzusiedeln, dass ein Mafiaboss einen Journalisten, ausgerechnet noch dazu einen Österreicher, einlädt und so nah an sich heranlässt, ihn in seinem Hause wohnen lässt.«
»Vielleicht gehört er ja selbst dazu?«, wirft die Innenministerin ein.
Die Gedanken, die Katterka im gleichen Augenblick aufgrund ihrer Frage durch den Kopf gehen, behält er lieber für sich. »Frau Ministerin, dafür müsste er Italiener sein.«
»Aber ist er wirklich sauber?«, forscht die Innenministerin nach.
»Bislang ist er nie straffällig geworden«, antwortet Katterka.
»Hat er gesagt, dass er von diesem Madeo eingeladen wurde?«, mischt der Bundeskanzler sich ein.
»Nein. Als er mich überraschend gestern Abend in Amt aufsuchte, war er nur frech.« Die Fragerei wird dem BKA-Chef zunehmend lästig. Langsam fühlt er sich als Beschuldigter. »Es ist nicht auszuschließen, dass die Fotos, die im Internet auf dieser inzwischen abgeschalteten FNews-Seite die weltweite Runde machten, angeblich sind sie auf YouTube noch zu sehen, ein ganz anderer geknipst hat und aus uns noch unbekannten Gründen Kokoschansky zugespielt hat. Das Gleiche gilt für dieses Videoband. Vielleicht ist Ebbe in Kokoschanskys Kasse, seine Bücher verkaufen sich schlecht, die Aufträge bleiben aus, deshalb nutzt er die Gelegenheit, gibt Fotos wie Video als seine Errungenschaften aus, und dabei will er sich bloß wichtigmachen.«
»Dieser Meinung bin ich nicht«, widerspricht der GD, »nach meinen Erkundigungen ist Kokoschansky absolut integer und würde sich niemals auf derartige Deals einlassen. Ebenso ist seine wirtschaftliche Lage mehr als zufriedenstellend.«
Der Bundeskanzler hat sich von seinem Platz an der Stirnseite des Besprechungstisches erhoben, geht zu einem der Fenster, öffnet es, sein Blick fällt hinunter in den Burggarten, wo ein paar Jogger fleißig ihre Runden drehen. »Die frische Luft wird uns guttun. Meine Damen, meine Herren, jetzt haben wir uns die Nacht um die Ohren geschlagen ohne brauchbares Ergebnis. Mir ist dieser Herr Kokoschansky, unter uns, völlig wurscht. Viel wichtiger ist, dass wir eine sich anbahnende Krise zwischen Österreich und Israel unter allen Umständen verhindern müssen, den guten Ruf unseres Landes bewahren. Das ist ein schwerwiegendes Problem. Wenn auch unser Außenminister vorübergehend den Botschafter besänftigen konnte, ist das Problem nicht vom Tisch. Hinzu kommen unsere internen Schwierigkeiten. Markus Schloimo zählt dazu. Leider ist er momentan nicht greifbar, weil er in Tel Aviv weilt. Ich bin kein Kriminalist, aber das sagt mir der gesunde Menschenverstand, die gesamte Angelegenheit stinkt zum Himmel, ein für uns noch unbekanntes Entführungsopfer wird auf einem Grundstück, das Schloimo gehört, befreit, wurde in einer Jagdhütte, die Schloimo an Mannsbergkh-Souilly verpachtete, festgehalten und genau an diesem Ort erschoss sich vor wenigen Tagen Oberstaatsanwalt Bortner. Die COBRA rückt an, und Schloimo sitzt in einem Flieger nach Israel. Wann ist eigentlich Bortners Begräbnis?«
»Morgen, 13 Uhr«, unterrichtet der GD den Bundeskanzler, »er wird im engsten Familienkreis im Krematorium auf dem Wiener Zentralfriedhof eingeäschert. Die Angehörigen haben um polizeiliche Unterstützung gebeten, die ihnen natürlich gewährt wird, um Gaffer und vor allem Journalisten abzuhalten.«
»Nach meinen Informationen soll er sich mit einem Jagdgewehr in den Hinterkopf geschossen haben«, resümiert der Bundeskanzler, »schwer vorstellbar, wie das praktisch funktionieren soll. Aber die Obduktionsergebnisse sagen aus, es ist möglich. Eine Einäscherung erspart uns jedenfalls weitere lästige spätere Nachforschungen. Vielmehr Sorgen bereitet mir das Video, auf dem eindeutig Kurt-Friedrich Midas und Adolphe Mannsbergkh-Souilly zu erkennen sind, wie sie das Anwesen des `Ndrangheta-Bosses Salvatore Madeo betreten. Das sind die wahren Probleme. Wie erklären wir das alles der Öffentlichkeit, wenn es publik wird? Dieser Kokoschansky behauptet, das Originalband zu besitzen. Wie mir dieser Mann geschildert wurde, glaube ich nicht, dass er sich davon abhalten lässt, es tatsächlich zu veröffentlichen. Wie kann man ihn daran hindern?«
»Wenn ich Sie richtig verstanden habe, Herr Bundeskanzler«, fasst der GD zusammen, »wollen Sie so lange wie möglich Stillschweigen bewahren. Kokoschansky hat sich bisher nicht strafbar gemacht. Wir können ihn nicht dazu zwingen, sein Material herauszurücken. Wir müssen uns an die Gesetze halten. Es sei denn, Sie bestehen auf einer unlauteren Vorgangsweise. Allerdings ohne mich. Dann würde ich sofort meinen Rücktritt einreichen.«
»Ich denke, ich habe mich klar genug ausgedrückt, und ich habe vollstes Vertrauen, dass Sie, meine Damen und Herren, diese Probleme diskret lösen werden. Enttäuschen Sie mich nicht.«
*
Günther sieht seinen Vater zuerst, winkt und ruft nach ihm. Kokoschansky beschleunigt seine Schritte, wedelt mit beiden Armen in der Luft. Komisch, normalerweise lässt Sonja den Jungen stets auf seinen Papa zulaufen, doch sie hat ihn hochgehoben und hält ihn im Arm, was Kokoschansky noch mehr verunsichert. Dann fällt ihm der Grund ein, und er wird ein bisschen ruhiger. Parallel zu den Fußgängern auf der Reichsbrücke verläuft auch der Radweg, auf dem die Radler meist undiszipliniert mit hoher Geschwindigkeit hin- und herflitzen.
Knappe drei Meter trennen den Journalisten noch von seiner einstigen Familie. Plötzlich setzt Sonja den Buben auf das Geländer, hält ihn an den Ärmchen fest.
»Bleib stehen, keinen Schritt weiter«, herrscht sie ihren Exmann an.
»Mama, lass mich runter, ich habe Angst!«
»Sei still!«
Kokoschansky droht das Herz stehen zu bleiben. Lena wollte nie glauben, dass Sonja zu allem fähig ist. »Sonja, lass Günther runter.« Der Kleine beginnt zu weinen, doch seine Ex kümmert es nicht. Mit sonderbarem, steinernem Gesichtsausdruck und mit hasserfüllten Augen steht sie Kokoschansky gegenüber. »Das ist dein böser Papa.«
»Mein Papa ist nicht böse! Ich habe Angst!«
»Sonja, hör sofort auf damit! Lass das Kind in Frieden!«
Kaum geht er einen halben Schritt vorwärts, schreit sie ihn wieder an, stehen zu bleiben. Permanent sausen hier Radfahrer herum, nur ausgerechnet jetzt nicht! Nicht einmal Spaziergänger sind zu sehen.
»Jetzt hast du auch meinen letzten Freund vertrieben, du Schwein!«
»Was?«
»Du weißt genau, wen ich meine.«
»Du meinst Erharter? Ich habe schon lange gewusst, dass du etwas mit ihm hast. Deine Sache, geht mich nichts an.«
»Ich will zu meinem Papa!«
»Komm, Sonja, lass ihn runter. Wir können alles in Ruhe besprechen. Ich bin gekommen, wie du siehst.«
»Das ist wohl das Mindeste, was ich verlangen kann. Er hat mich per SMS abserviert. Einfach so. Wie einen Regenschirm in die Ecke gestellt. Da steckst du dahinter, und du hast ihn auch zusammengeschlagen oder den Auftrag dafür gegeben.«
»Sonja, das meinst du doch nicht ernst.«
Mein Gott, wo bleibt nur Lena!
»Du vergönnst mir nicht, dass ich auch glücklich bin. Du hast ja deine kleine Schlampe.«
»Sonja, mach jetzt keinen Blödsinn, ich bitte dich! Was immer du jetzt beabsichtigst, damit ist niemandem gedient.«
»Doch, mir«, Sonja lacht höhnisch, wirft ihre Haare in den Nacken, »zuerst werfe ich Günther hinunter …«
»Mama!«
»Sei ruhig, alles wird gut. Dann springe ich nach. Du kannst ja versuchen, uns zu retten. Vielleicht kommen wir in einer anderen Welt wieder zusammen und sind dann glücklicher, als wir es jemals waren.«
Endlich sieht Kokoschansky Lena. Er muss Zeit gewinnen, Sonja hinhalten, nach einer Möglichkeit suchen, ihr Günther zu entreißen.
»Sonja, du machst uns alle doch nur unglücklich.«
»Wenn du leidest, bin ich glücklich. Du hast nichts anderes verdient. Günther, mein Schatz, deine Mama und du, wir machen jetzt gleich eine wunderbare Reise, und deinen bösen Papa wirst du nie wiedersehen.«
»Sonja!«, brüllt Lena aus vollen Leibeskräften und rennt los, als wäre der Teufel hinter ihr her. Sie hat die gefährliche Situation sofort erkannt. Das ist der Moment, auf den Kokoschansky gewartet hat. Überrascht dreht Sonja sich zur Seite. Diesen Bruchteil der Unachtsamkeit nützt Kokoschansky, macht einen gewaltigen Satz, bekommt Günther an einem Ärmchen zu fassen, reißt ihn von Sonja los, packt zu und presst ihn fest an sich. Dann bricht er zusammen, weint bitterlich, während sein Sohn fürchterlich schreit und bibbert. Instinktiv spürt der kleine Kerl, dass sein Vater ihn soeben vor etwas Fürchterlichem, was er sich gar nicht vorstellen kann, beschützt hat.
»Beruhige dich«, spricht Kokoschansky leise auf ihn ein und ist selbst dermaßen aufgewühlt, dass er unfähig ist, einen klaren Gedanken zu fassen. Ströme von Tränen rinnen über sein Gesicht. »Jetzt kann dir niemand mehr etwas Böses tun. Ich bin bei dir.«
»Du bist wirklich verrückt, Sonja«, keucht Lena und hält sich am Brückengeländer fest, »total übergeschnappt.«
»Du verfluchte Hure!«, tobt Sonja und versucht, auf sie einzuschlagen. Kokoschansky sieht nur aus den Augenwinkeln, was vor sich geht, hält Günthers Köpfchen an seine Brust gedrückt, will nicht, dass der Kleine seine Mutter so sieht.
Obwohl Sonja ihr körperlich überlegen ist, gegen eine trainierte, ausgebildete, wenn auch nicht mehr aktive Polizistin hat sie keine Chance. Einige präzise Griffe und Sonja liegt wehrlos auf dem Bauch. Lena drückt ihr ein Knie in den Rücken, dreht ihr einen Arm nach hinten und fixiert den anderen mit ihrem Fuß.
»Brauchst du Hilfe?«
»Nein, ich habe sie im Griff. Kümmere du dich um Günther.«
»Was ist mit meiner Mama?«
»Mama ist sehr, sehr krank, und Lena versucht, ihr zu helfen.«
»Ich will zu meiner Mama.«
»Später, Günther, später. Erst muss Mama wieder ganz gesund werden.«
Sonja brüllt, schreit hysterisch wie am Spieß, schimpft wie ein Rohrspatz und versucht verzweifelt, sich aus Lenas eisernem Griff zu winden.
Endlich bleibt ein Radfahrer stehen. »Was ist denn hier los?«
»Haben Sie ein Handy dabei?«, fragt Kokoschansky. In der Aufregung hat er sein Cryptophone zu Hause liegen gelassen.
»Ja.«
»Dann rufen Sie die Polizei, 133.«
»Klar.«
»Danke. Bleiben Sie so lange in der Nähe, bis die Funkstreife kommt.«
»Natürlich.«
»Hast du dich beruhigt, Sonja?«
Ihr Ja kommt ganz leise.
»Willst du jetzt aufstehen?«
»Ja, bitte.«
»Du versprichst mir, keine Dummheiten zu machen.«
Wieder nickt Sonja, und Lena lockert ihren Griff, richtet sich auf, hilft Sonja auf die Beine. »Jetzt lande ich sicher in der Psychiatrie.«
»Ich weiß es nicht, Sonja. Aber zu einem Arzt wirst du wohl müssen.«
»Und Günther werde ich wohl nie wiedersehen.«
»Es wird alles gut«, weicht Lena aus und streicht ihr sanft über die Wange, »glaube mir, es wird alles wieder gut.«
Kokoschansky dreht sich vorsichtig um, hält Günther fest, deckt mit der Hand das Gesichtsfeld des Kleinen ab. Er soll so wenig wie möglich sehen, was los ist. Inzwischen weint er nur noch leise vor sich hin, und sein Zittern hört langsam auf.
Plötzlich verzerrt sich Sonjas Gesicht zu einer teuflischen Fratze, ihren Augen scheinen etwas zu sehen, was Normalsterbliche nie zu Gesicht bekommen. »Ihr seid alle verflucht!« Sie versetzt Lena einen heftigen Stoß vor die Brust, hechtet über das Geländer und stürzt sich in die Tiefe.
»Sonja!«, brüllt Lena.
Kokoschansky realisiert nicht, was soeben geschehen ist, erst als er den Aufschlag hört, wird es ihm bewusst.
»Halt den Kleinen!«, schreit er den verschreckten Radfahrer an, drückt ihm Günther in die Arme, reißt sich die Schuhe von den Füßen und springt Sonja nach.
Irgendwie gelingt es ihm, aus dieser großen Höhe mit den Füßen voran einzutauchen, das eiskalte Wasser schwappt über ihm zusammen. Sofort saugt seine Kleidung sich voll, er kretscht unter Wasser die Beine, um das Abtauchen zu verringern, öffnet die Augen, versucht, sich in der dunklen Brühe zu orientieren, sieht etwas Schemenhaftes vor sich, schwimmt mit kräftigen Tempi in die Richtung, greift ins Leere, taucht kurz auf, schnappt nach Luft. Die starke Strömung reißt ihn fort.
Kokoschansky taucht wieder unter, das Dreckswasser brennt in seinen Augen, er stößt an etwas an, langt zu und bemerkt, es ist ein Fuß. Er tastet sich an dem Körper vorwärts, umschlingt ihn und mit übermenschlicher Kraftanstrengung gelingt es ihm, gemeinsam mit dem treibenden Bündel Mensch aufzutauchen. Er hat Sonja gefunden, dreht sich in Rückenlage. Sie ist ohne Bewusstsein. Kokoschansky hält ihren Kopf über Wasser, versucht, mit kräftigen Stößen das Ufer zu erreichen. Kein leichtes Unterfangen, er schwimmt ungefähr in der Mitte der Donau und kämpft mit seiner Last gegen die Strömung. Die vollgesogenen Klamotten ziehen ihn immer wieder kurzfristig unter Wasser, er prustet, kämpft und glaubt, keinen Meter vorwärts zu kommen. Plötzlich hört er ein Motorengeräusch, ein Rettungsring landet ungefähr einen Meter vor ihm. Sonja festhaltend, zwei kräftige Tempi und Kokoschansky hat es geschafft. Zum Glück ist die Polizeiinspektion Handelskai, zuständig für den See- und Stromdienst, unweit der Reichsbrücke stationiert. Daher war das Motorboot auch blitzschnell zur Stelle. Zuerst holen die Beamten die bewusstlose Sonja aus dem Wasser, danach Kokoschansky an Bord. Nach der Erstversorgung kommt sie langsam zu sich, hustet und spuckt das geschluckte Wasser aus, wirkt völlig geistesabwesend und apathisch. Ein Beamter umhüllt die Geborgenen mit Decken. Das Boot wendet und braust zum Ufer, wo bereits ein Rettungsfahrzeug eingetroffen ist. Lena wartet mit Günther im Arm.
»Wohin wird sie gebracht?«, fragt Kokoschansky keuchend.
»Nachdem Ihre Exfrau keinerlei sichtbare Verletzungen aufweist, transportieren wir sie auf die Baumgartner Höhe in die Psychiatrie«, sagt der Doktor. »Das ist bei Selbstmordversuchen die gängige Praxis.«
»Ich weiß«, antwortet Kokoschansky und ringt weiter nach Luft.
»Was ist mit Ihnen? Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein, danke. Ich bin okay.«
»Fährt wer mit?«, erkundigt sich einer der Sanitäter.
»Nein, ist besser so«, verweigert Kokoschansky, »mein Sohn braucht mich.«
*
Die Aufregung war zu viel für den Kleinen. Nach und nach brach das Erlebte und Gesehene aus ihm heraus, er weinte und schrie, verlangte nach seiner Mutter, war kaum zu beruhigen. Nach der Verabreichung eines leichten Beruhigungsmittels liegt er nun erschöpft in seinem Bettchen im Preyer’schen Kinderspital und schläft. Lena und Kokoschansky halten Wache. Die Ärzte meinen, Günther solle ein bis zwei Tage zur Beobachtung bleiben, dann könne er wieder nach Hause.
»Der Kleine bleibt jetzt für immer bei uns«, flüstert Lena, während sie sein Patschhändchen streichelt. »Das Jugendamt wird Sonja sicherlich das Sorgerecht entziehen und dir übertragen. Auch wenn sie wieder gesund werden sollte, darf sie ihn nicht weiter großziehen. Leider hast du recht gehabt. Niemals hätte ich das gedacht. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass der Junge so schnell wie möglich alles vergisst.«
Kokoschansky sitzt schweigend da, sieht lange seinen Sohn an und dann Lena. Für Sonja empfindet er, obwohl sie beinahe seinen Sohn getötet hätte, nur tiefes Mitleid, und Selbstvorwürfe plagen ihn. Wenn er das und jenes nicht getan hätte, dann … Geschehen ist geschehen und lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Niemand kann das Rad der Zeit zurückdrehen. Jetzt wird er an seinem Buben und Lena gutzumachen versuchen, was er bei seinen beiden Exfrauen vernachlässigt und versäumt hat.
»Ich werde eine gute Mutter sein.« Lena rückt die bunte Bettdecke zurecht. »Günther ist jetzt auch mein Sohn. Ich wollte schon immer ein Kind. Jetzt sind wir eine Familie.«
»Ich blase alles ab.« Kokoschansky fährt sich mit beiden Händen über das Gesicht. »Morgen übergebe ich Katterka das Material. Was interessieren mich Midas, Madeo und sämtliche anderen Arschlöcher. Sollen sie doch machen, was sie wollen. Was kann ich denn verändern? Nichts. Heute sind mir die Augen geöffnet worden. Ich musste ziemlich alt werden, um endlich zu begreifen, was tatsächlich von Wert ist und Bestand hat. So gesehen, muss ich Sonja dankbar sein. Das war’s, ich gebe auf.«
»Nein«, widerspricht Lena heftig, und ihre Augen funkeln, »du bringst es zu Ende. Wenn du jetzt das Handtuch wirfst, haben sie gewonnen. Danach können wir uns überlegen, wie es weitergeht. Heinz Kokoschansky, du hast heute zwei Menschenleben gerettet. Ich bin unsagbar stolz auf dich und glücklich, einen Helden an meiner Seite zu haben. Zwei Helden, einen großen und einen kleinen. Du hast dir nichts vorzuwerfen. Berechtigte Vorwürfe kannst du dir machen, wenn du jetzt aufgibst. Du ziehst es durch. Das bist du deiner Familie, Mitnick, Freitag, allen, die an dich glauben, schuldig. Auch den ermordeten Kindern in Montenegro. Ich bleibe bei Günther, wir kommen schon klar. Bewahre einen kühlen Kopf, und zünde deine Bombe.«