Mittwoch, 15. September 2010, 5.15 Uhr

 

 

Dauerklingeln und permanentes Klopfen an Kokoschanskys Wohnungstüre verheißen nichts Gutes. Lena schreckt zuerst aus dem Schlaf hoch, sieht auf den Digitalwecker, sitzt kerzengerade im Bett und reibt sich die Augen. Im Gegensatz zu ihm, der über einen gesegneten Schlaf verfügt. Wahrscheinlich müsste erst das Haus explodieren, dass er aus den Federn fliegt. Kokoschansky ist ein fürchterlicher Morgenmuffel.

»Sie sind da«, flüstert Lena.

»Diese vertrottelten Arschlöcher wollen es tatsächlich wissen«, knurrt Kokoschansky und rappelt sich hoch. »Von mir aus. Wenn sie Krieg haben wollen, kriegen sie ihn auch. Öffne du ihnen. Halte sie ein bisschen hin. Ich muss noch rasch telefonieren.«

»Polizei! Aufmachen!«, brüllt draußen eine kräftige Männerstimme.

»Ja doch! Komme schon!«, schreit der Journalist zurück.

Lena wirft sich ihren Morgenmantel über, schlurft barfuß und mit zerzausten Haaren zur Türe, guckt durch den Spion. Einige zivile und mehrere uniformierte Beamte haben sich davor aufgepflanzt. Natürlich sind Lackner und Erharter vom BKA dabei, doch keiner ihrer Kollegen von der Polizeiinspektion ist darunter, was sie ein bisschen beruhigt. Es reicht, wenn diese Leute wissen, wie sie und Kokoschansky wohnen. Sie sperrt die beiden Schlösser auf, löst die Sicherheitskette und öffnet.

»Hausdurchsuchung«, schnarrt Lackner bestimmt, »gehen Sie zur Seite und lassen Sie uns rein!«

»Ohne Durchsuchungsbefehl? Ohne richterlichen Beschluss, Kollege?«, spielt Lena überrascht und zeigt sich völlig unbeeindruckt, verstellt der Polizistenmeute die Tür und will dadurch Kokoschansky Zeit verschaffen. Insgeheim kann sie sich denken, was er im Schilde führt.

»Kollege?«, Lackner runzelt die Stirn. »Soviel ich informiert bin, sind Sie eine Uniformierte, und ich gehöre dem BKA an.«

Der Typ ist wahrlich keine Leuchte, denkt Lena, behält es aber wohlweislich für sich. Diese lächerlichen Standesdünkel innerhalb der Polizeihierarchie sind unglaublich, und keine Reform und keine Evaluierung werden jemals diese kindischen Kinkerlitzchen ausräumen können.

»Und haben Sie nicht auch einmal als Pflasterhirsch15 angefangen?«, kann Lena es sich dennoch nicht verkneifen. »Oder sind Sie aufgrund Ihrer außerordentlichen Qualifikationen sofort in den BKA-Olymp berufen worden?« Es entgeht ihr nicht, wie hinterrücks ein paar Beamte grinsen und somit bewiesen ist, dass Lackner zum einen nicht sonderlich beliebt zu sein scheint, zum anderen genau das ist, wofür sie ihn hält. Nämlich einer dieser zahlreichen Emporkömmlinge, die durch die letzte große und in weiten Teilen unglücklich verlaufene Polizeireform hochgeschwappt worden sind, wobei nicht Fähigkeiten ausschlaggebend waren, sondern die Posten aus politischen Gründen mit den richtigen Parteifarben besetzt werden mussten.

»Und?«, hakt sie nochmals nach. »Wo bliebt der Wisch?«

»Wenn Gefahr in Verzug ist, bedarf es keines richterlichen Beschlusses«, belehrt Lackner sie, »oder haben wir in der Polizeischule nicht aufgepasst?«

Fast wäre Lena arroganter Scheißkerl herausgerutscht, doch sie beißt sich nur auf die Lippen und macht Platz. Rund zehn Beamte und zwei Beamtinnen nehmen die Wohnung in Beschlag. Kokoschansky kommt ihnen aus dem Wohnzimmer in ausgeleierter Jogginghose und zerknittertem T-Shirt dreckig grinsend entgegen.

»Ah, die geballte Staatsmacht zu früher Morgenstunde in unserer bescheidenen Hütte«, provoziert Kokoschansky, »habt ihr die WEGA auch gleich mitgebracht? Ganz lieb, dass ihr uns nicht gleich die Türe eingetreten habt. Schließlich steht ihr dem Staatsfeind Nummer eins gegenüber.«

 

Kaum zieht einer der Beamten die erste Lade auf und beginnt darin zu stöbern, weist Kokoschansky die Truppe auch schon wieder zurecht. »Wir wären Ihnen sehr verbunden, meine Damen und Herren, wenn Sie sich in unserer Wohnung nicht wie Elefanten im Porzellanladen benehmen, sonst sehen wir uns gezwungen, jeden auch noch so geringfügigen Schaden der Republik Österreich in Rechnung zu stellen. Ich denke, Sie wissen, wo Sie sich befinden, während Sie herumschnüffeln. Trotzdem betone ich nochmals ausdrücklich, das ist die Wohnung eines Journalisten, der hier mit einer Polizistin lebt. Ohne irgendeinen amtlichen Schrieb krachen Sie zu früher Stunde bei unbescholtenen Leuten herein, einfach auf Luft, und stecken Ihre Nasen in unsere Privatsphäre. Vielleicht lässt ein einfacher Staatsbürger sich von Ihrem martialischen Auftreten einschüchtern. Uns imponiert das überhaupt nicht, belustigt uns eher. Zum gegebenen Zeitpunkt werde ich mit den Verantwortlichen für diese dümmliche Aktion Schlitten fahren und sie zur Rechenschaft ziehen. Fürs Erste sind einmal einige Dienstaufsichtsbeschwerden fällig, und die Presse ist immer sehr dankbar für derartige Storys. Haben Sie zu wenig Arbeit? Machen Sie doch ihren Job dort, wo es wirklich brennt. Gibt es nicht in diesem Land genügend skandalträchtige Fälle, die für Ihre Auslastung sorgen? Oder bleibt etwas in den Unterhosen zurück, wenn Sie einigen Politikern und Machern auf die Zehen treten sollen?«

»Jetzt spucken Sie mal nicht so große Töne, Herr Kokoschansky«, unterbricht Lackner die Tirade, »wir finden immer, wonach wir suchen.«

»Ja, vielleicht am Flohmarkt«, kontert Kokoschansky ungeniert, während Lena versucht, sämtliche Vorgänge im Auge zu behalten. »Auf ein Wort, Sherlock Holmes.« Er winkt Lackner zu sich und flüstert ihm ins Ohr. »Heiße Ware wird immer am Klo versteckt, also nicht übersehen.« Der Journalist merkt, dass Lackner leicht zusammenzuckt, aber sich sofort wieder in der Gewalt hat.

Raum für Raum nehmen die Kriminalbeamten sich vor, während vor der Wohnungstüre zwei Polizisten Wache schieben.

Nun ist Kokoschanskys Arbeitszimmer an der Reihe, und er achtet penibel darauf, wo hingelangt wird. Besonders auf seine umfangreiche Bibliothek ist er heikel, und mit seinen Büchern geht er sehr sorgsam um. Als zwei Beamte beginnen, in den Regalen zu wühlen und in den Büchern zu blättern, handelt es sich um reine Schikane. Absichtlich lassen sie das eine oder andere Buch zu Boden fallen. Kokoschansky muss sich sehr am Riemen reißen, um nicht handgreiflich zu werden, doch darauf soll es hinauslaufen. Widerstand gegen die Staatsgewalt et cetera. Doch diesen Gefallen wird er dieser Gurkentruppe nicht erweisen. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie Lena ihm ein verstecktes Zeichen gibt und wie ein sichtlich um Fassung bemühter Erharter seinem Chef Lackner etwas ins Ohr raunt und der sofort die Farbe wechselt.

Plötzlich dringt vom Flur Lärm herein, es klingt nach Tumult. Kokoschansky lächelt maliziös in Richtung Lackner und Erharter. Blitzlichtgewitter flackert, erregtes Stimmengewirr, vereinzelte Wortfetzen sind zu hören. Es ist immer gut, wenn man sich im entscheidenden Moment auf altbewährte Kollegen verlassen kann. Im Flur streiten drei Fotografen und ein Kamerateam sich mit den beiden Polizisten, die vor der Türe stehen.

»Schon mal was von Pressefreiheit gehört?«, schimpft einer der Fotografen, während der Kameramann des WIEN HEUTE-Teams ungerührt weiterdreht, obwohl einer der Polizisten immer wieder versucht, ihn wegzudrängen oder die Linse zuzuhalten.

»He, was soll der Scheiß? Sind wir hier in einer Bananenrepublik?«, reicht es nun auch dem Kameramann. »Ihren Namen und die Dienstnummer.« Doch der Polizist bleibt stumm wie ein Fisch.

Kokoschansky ist zu lange im Geschäft und weiß genau, wie man eine heiße Story aufzieht. Als die Polizisten auf der Matte standen, rief er schnell die APA16 an,  und gleich anschließend den CvD17 im ORF-Landesstudio Wien. Und die Kollegen ließen ihn nicht im Stich. Zeit, die Bombe zu zünden. Kurzerhand schiebt Kokoschansky ein paar Beamte, die ihm im Weg stehen, beiseite, während die Blitzlichtgeräte eine Salve nach der anderen abfeuern, der Kameramann auf einen Wink der Redakteurin sich sofort um die eigene Achse dreht und sein Objektiv auf ihn richtet, als er auf den Flur hinaustritt.

»Herr Kokoschansky«, hält ihm die Redakteurin das Mikro unter die Nase, »offensichtlich ist bei Ihnen eine Hausdurchsuchung im Gange. Was ist der Grund? Vielleicht im Zusammenhang mit Ihrer langjährigen Bekanntschaft zu dem geflüchteten Unterweltboss Robert Saller? Immerhin werden Sie relativ unverhohlen der Fluchthilfe bezichtigt.«

»Aus!«, tobt Lackner, stürmt heraus und drängt sich unfreiwillig ins Bild. »Hier findet eine Amtshandlung statt, und dabei ist die Presse ausgeschlossen. Sie kennen das Procedere. Anfragen können Sie an die zuständige Pressestelle richten.« In seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht, von Kokoschansky überrumpelt und ausgetrickst worden zu sein, begeht er einen folgenschweren Fehler, indem er den Journalisten am Arm fasst und vor laufender Kamera wegzuzerren versucht.

»Nicht anfassen!«, löst sich Kokoschansky unwirsch aus dem Griff. »Oder wollen Sie zu Ihren zahlreichen Problemen, die Sie sich inzwischen eingehandelt haben, noch einen polizeilichen Übergriff dazu?«

»Wer sind Sie?«, lässt die Redakteurin nicht locker. »Sind Sie der Leiter dieser Polizeiaktion?«

Im Augenblick weiß Lackner nicht, wo ihm der Kopf steht. Egal, was er jetzt sagt oder tut, mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es ihm negativ ausgelegt werden. Daher wählt er den einfachsten Weg und tritt wütend den Rückzug in die Wohnung an.

»Diese Frage kann ich Ihnen beantworten«, sagt Kokoschansky zur Redakteurin, »der forsche Typ ist ein gewisser Lackner, und der, der jetzt seinen Kopf aus meinem Wohnzimmer reckt, heißt Erharter, sein Unterhund.«

Kaum hört Erharter seinen Namen, zieht er sich sofort wieder zurück wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Zu spät. Kokoschansky legt sofort los: »Diesen beiden Herren habe ich den Remmidemmi zu verdanken. Inzwischen hat es sich, denke ich, herumgesprochen, dass ich gestern zufällig im gleichen Krankenhaus war, in dem auch Robert Saller sich aufhielt, bevor er getürmt ist. Schließlich wurde ja mein durchaus zutreffendes Konterfei als Phantombild in sämtlichen Medien veröffentlicht. Und siehe da, plötzlich bekam ich gestern Abend von den beiden bereits bekannten BKA-Beamten Lackner und Erharter überraschend ungebetenen Besuch in der festen Absicht, mich als Fluchthelfer Robert Sallers festzunageln, bloß weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war. Was genau dahintersteckt, kann ich derzeit nicht sagen, aber, und darauf können Sie Gift nehmen, ich werde es herausfinden. Nachdem es nicht gelungen war, mich ins Bockshorn zu jagen, und die überfallartige, abendliche Störung sich als Schuss ins Knie erwiesen hatte, wendeten die beiden Beamten eine Methode an, die man eigentlich nur aus Filmen kennt, um missliebige Bürger zum Schweigen zu bringen.« Lackner und Erharter lauschen angespannt mit, auch die übrigen Beamten stellen ihre Schnüffeleien ein und warten ab. Dementsprechend laut spricht Kokoschansky, und sämtliche Aufmerksamkeit ist auf ihn gerichtet. Im Treppenhaus kann man eine Stecknadel fallen hören. Beinahe alle Hausbewohner sind aus ihren Wohnungen gekommen und hängen gebannt an den Lippen des Journalisten. »Plötzlich verspürte einer der beiden BKA-Beamten ein menschliches Rühren und ersuchte mich, die Toilette benützen zu dürfen. Selbstverständlich, keine Frage. Leider vergaß er nicht auf das Spülen«, Kokoschansky macht eine Pause, zündet sich eine Zigarette an, »dafür überließ mir einer der beiden Herren eine weitaus unsympathischere Hinterlassenschaft.« Wieder ein genüsslicher Zug an dem Glimmstängel. »Und zwar in Form eines netten, handlichen Kokainpäckchens. Klassisch versteckt im Spülkasten. Dass ich anscheinend auch abgehört werde, ist nur das kleinere Übel. Leider passierte Herrn Erharter ein unverzeihlicher Fehler. Entweder vor Aufregung oder aus schlichtem Dilettantismus achtete er nicht mehr darauf, den Deckel exakt wieder aufzusetzen. Sein Pech, dass es meinem Adlerauge nicht entgangen ist. Und ich nehme auch nicht an, dass Herr Erharter Handschuhe trug, als er mir die Droge unterjubelte. Jetzt veranstaltet die Polizei diesen Zirkus, um die vermeintliche Frucht zu ernten. Ohne jeglichen richterlichen Beschluss, wohlgemerkt. Leider muss ich sie enttäuschen. Das abgekartete Spiel geht gründlich daneben. Vielleicht sollte man in der Asservatenkammer nachsehen, ob die beschlagnahmten Kokainbestände noch vollzählig vorhanden sind?«

Unbemerkt von der Kamera, da Kokoschansky in Großaufnahme zu sehen ist, klappt der Redakteurin tatsächlich die Kinnlade herunter.

»Und …«, ringt sie nach Worten, »… und diesen schweren Vorwurf können Sie tatsächlich beweisen?« In ihrer Stimme schwingt Ungläubigkeit mit.

»Selbstverständlich!«

»Und wo ist das Kokain?«

»Am einem sicheren Ort.«

»Wann werden Sie diesen Beweis der Öffentlichkeit präsentieren?«

»Zum gegebenen Zeitpunkt. Wer weiß, vielleicht schon heute?«, lässt Kokoschansky die Kollegin im Unklaren.

Lena entgeht nicht, wie Lackner seinen Verbündeten zu sich zieht und ihm etwas ins Ohr flüstert.

»Was ist der Grund?«, bohrt die Redakteurin weiter. »Warum will man Sie, sofern Ihr Vorwurf stimmt, auf diese Weise hereinlegen?«

»Anscheinend ist einigen Leuten meine Bekanntschaft zu Robert Saller ein Dorn im Auge. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass nach seiner Flucht genau diese Leute jetzt sehr schlecht schlafen werden.«

»Was meinen Sie konkret damit?«

»Warten Sie es ab«, bleibt Kokoschansky verschlossen wie eine Auster. Natürlich hat er keine Ahnung, was tatsächlich dahinterstecken könnte, aber Angriff ist nun einmal die beste Verteidigung.

»Das heißt, Sie arbeiten an einer heißen Story, die damit im Zusammenhang steht.«

»Kein Kommentar. Ich rede ungern über ungelegte Eier.«

»Das kommt Ihnen teuer zu stehen«, schreit Lackner aus der Wohnung heraus und tritt wieder vor die Kameras, »mein Kollege und ich werden Herrn Kokoschansky in Grund und Boden klagen! Die ungeheuerliche Verleumdung wird ihn noch teuer zu stehen kommen!«

»Fein«, grinst Kokoschansky, »ich freue mich darauf.« Er hält ihm seine Schachtel hin. »Zigarette auf den Schock?«

 

*

 

Kokoschansky und Lena sitzen auf der Couch im Wohnzimmer. Die Unordnung, die von der Polizei hinterlassen wurde, hält sich in Grenzen, und darum lassen sie es vorerst, wie es ist. Er hat seinen Arm um sie gelegt, während ihr Kopf auf seiner Schulter ruht. Sämtliche Telefone sind abgeschaltet, sie wollen nur noch Ruhe. Zumindest für einige Stunden, bevor der Medienrummel erneut über sie hereinbrechen wird.

»Das war ein gefinkelter Schachzug, Koko«, sagt Lena nach einer Weile des Schweigens. »Wann ist dir denn das eingefallen?«

»Irgendwann in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, weil der Schnitt doch ziemlich brannte und gezogen hat.«

»Mein Gott!«, Lena richtet sich auf. »In dem Trubel habe ich tatsächlich darauf vergessen! Hast du jetzt Schmerzen?«

Kokoschansky schüttelt den Kopf.

»Aber du sollst doch in die Ambulanz zum Verbandwechseln und zur Kontrolle.«

»Ach, pfeif drauf«, wiegelt er ab, »das kannst du mir auch machen. Außerdem wäre ich jetzt schon zu spät dran, und ich habe keine Lust, mich wieder stundenlang ins SMZ Ost zu setzen. Was glaubst du, wenn ich jetzt auf die Straße gehe, was dann los ist? In der Neun-Uhr-ZIB18 werden sie sicherlich darüber berichten und im Radio ebenso. Ich habe keinen Bock, mich anstarren zu lassen und blöde Fragen zu beantworten. Das kommt noch früh genug.«

»Aber ewig auf Tauchstation gehen kannst du auch nicht.«

»Das weiß ich, Lena. Aber jetzt will ich meinen Frieden. Dass ich heute noch raus muss, ist auch klar. Außerdem ist mir jetzt nach Frühstück zumute. Und zwar ein richtig feines.«

»Mir ist der Appetit vergangen. Aber wenn du willst, mache ich dir gerne eines. Mir reicht momentan ein Kaffee. Komm, gehen wir in die Küche.«

Während Lena Vorbereitungen trifft, sitzt Kokoschansky am Küchentisch und blickt zum Fenster hinaus. Während sie Käse und Wurst schneidet, beobachtet sie ihn, wie er gedankenverloren ins Leere starrt.

»Haben wir zufällig den gleichen Gedanken?«, fragt sie leise.

»Wahrscheinlich«, brummt er zurück.

»Wenn wir nicht nachweisen können, dass Erharter seine Fingerabdrücke auf dem Kokspäckchen hinterlassen hat, sind wir dran. Du hast geblufft.«

»Was blieb mir anderes übrig? Die Auswahlmöglichkeiten waren sehr gering. Man hätte uns ausgelacht, wenn wir mit dem Kokain in die nächs-te Polizeiinspektion oder ins BKA spaziert wären und verklickert hätten, dass das Gift von Lackner und Erharter auf unserem Klo deponiert wurde. Aussage gegen Aussage und der Verlierer wäre ich gewesen.«

Kokoschansky beißt herzhaft in eines der servierten Brote, spült mit einem Schluck Kaffee nach. »Was ziehst du für Schlüsse daraus?«

»Da draußen gibt es Leute, die dich unbedingt wegen Saller drankriegen wollen. Egal wie. Und ich frage mich andauernd, warum.«

»Tja, mein Schatz, ich kann mir derzeit auch noch keinen Reim darauf machen. Aber ich muss herausfinden, welches Spiel da auf meinem Rücken ausgetragen wird. Und es ist nicht auf Lackners und Erharters Mist gewachsen. Da steckt wer anderer dahinter. Dafür sind die beiden nicht wichtig genug. Außerdem hatte ich persönlich mit den beiden noch nie zu tun.«

»Das leuchtet mir ein. Für mich ein Grund mehr, noch heute zu kündigen. Ich wette meinen Kopf, dass sie mir nach diesem Vorfall sicherlich sehr deutlich nahelegen werden, meinen Dienst selbst zu quittieren. Das macht es mir um einiges leichter, die Uniform endgültig auszuziehen.«

Kokoschansky pickt die letzten Krümel vom Teller auf, schenkt sich einen weiteren Kaffee ein. Inzwischen ist es 9.30 Uhr geworden. Sie beschließen, sich wieder unter die Menschheit zu mengen, indem sie ihre Telefone aktivieren, die Computer hochfahren und ihre E-Mails sichten. Kokoschanskys Handy-Mailbox ist voll, es können keinen weiteren Nachrichten mehr angenommen werden. Er braucht rund fünfundvierzig Minuten, um sich einen Überblick zu verschaffen. Vorwiegend sind es Anfragen verschiedener Medien, die ihn natürlich als Interviewpartner wollen. Sein Coup hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Während er die Anrufe nach Dringlichkeit listet, kommen ständig neue herein, und er weiß nicht, was er zuerst tun soll. Auf Lenas Handy ist es bedeutend weniger, obwohl auch sie einige Medienanfragen registriert. Auf irgendeine Weise sind die Journalisten an ihre private Handynummer gekommen. Der wichtigste Anruf stammt allerdings vom Sekretariat des Wiener Landespolizeikommandanten, und es wird gebeten, umgehend zurückzurufen. Sie weiß genau, was ihr blühen wird.

Kokoschansky blickt, durch den Vorhang verdeckt, vom Wohnzimmerfenster aus auf die schmale Straße hinunter. Unten ist der Teufel los. Fotografen lungern herum und warten auf eine günstige Gelegenheit für ihre Fotos. Zwei heimische Kamerateams stehen sich ebenso die Beine in den Bauch wie ihre Kollegen von den deutschen Fernsehsendern. Er erkennt es an den Aufklebern auf ihren Kameras und dem Windschutz für die Mikros.

»Lena, jetzt werden wir endlich berühmt«, ruft er sarkastisch in Richtung Küche, »sogar RTL, SAT1 und PRO 7 lauern bereits auf uns.«

Wenn die Geschichte aufgeht, dann ist es natürlich eine Mediensensation. Zwei BKA-Beamte auf Abwegen und die Hintergründe, warum sie sich darauf eingelassen haben, mit dem Ziel, einen bekannten Journalisten mundtot zu machen, sind der Stoff, der Quoten und Auflagen steigen lässt.

»Vor unserer Tür auf den Stufen sitzen ebenfalls zwei Fotografen«, sagt Lena und kommt herein, um sich das Spektakel anzusehen, »ich habe sie durch den Spion gesehen. Super, jetzt sind wir Gefangene in unserer eigenen Wohnung. Genau das, was ich jetzt brauche.« Sie ist stocksauer, versteht aber Kokoschanskys Handlungsweise voll und ganz. In ihrem tiefsten Inneren fragt sie sich immer öfter, ob es damals wirklich so klug war, sich ausgerechnet in diesen verrückten Journalisten zu verlieben. Warum war es kein biederer Buchhalter oder ein verschrobener Lehrer? Doch gegen seine Gefühle kann niemand ankämpfen. Natürlich wird sie diese Gedanken für sich behalten. Insgeheim spürt sie, es ist erst der Beginn einer nach allen Seiten offenen Geschichte mit ungewissem Ausgang.

»Wolltest du nicht heute auch deinen Sohn und Sonja besuchen?«, fragt sie und gibt sich gleich selbst die Antwort: »Daraus wird wohl nichts. Was machen wir nun?«

»Wenn ich das wüsste«, antwortet Kokoschansky achselzuckend, »ich kann jetzt nicht einmal unbemerkt den Koks abholen und die Verpackung auf Fingerprints und DNA untersuchen lassen, ohne gleich das Rudel am Hals zu haben. Sonja wird stinksauer und Günther todtraurig sein.«

»Und mit Recht«, sagt Lena leise.

»Ewig können die auch nicht herumlungern«, meint Lena, »irgendwann werden sie wohl verschwinden.«

»Da kennst du aber gewisse Bluthunde in unserer Branche schlecht«, berichtigt sie Kokoschansky und denkt einen Moment nach, »allerdings …, wenn ich über unseren Balkon, der in den Hinterhof hinausgeht, abhaue, schauen sie durch die Röhre.«

»Bist du wahnsinnig?« Lena tippt sich an die Stirn. »Wir sind im vierten Stockwerk! Wie willst du denn runter?«

»Ich brauche nur auf das kleine Sims hinaussteigen, und dann geht es schon über die Regenrinne abwärts. Der Hinterhof ist versperrt, und Schlüssel haben sie keinen. Dort lauert auch niemand. Und ich bin schon weg. Ich hoffe nicht, dass einer der Mieter ihnen hilft.«

»Du hast sie nicht mehr alle.«

»Mag sein. Aber soll ich hier Däumchen drehen? Ich brauche den Beweis! Dafür muss ich zu Mitnick. Freitag wird mich chauffieren.«

»Und wenn du abstürzt, du verrückter Hund? Was dann? Schließlich bist du …«

»… keine dreißig mehr. Ich weiß. Danke für den Hinweis.«

Kokoschansky lässt sich nicht zurückhalten, schnappt sich aus einer Schreibtischlade ein Wertkartenhandy, das er für extreme Situationen parat hält. Er ist sich sicher, weiter abgehört zu werden. Nach seinem Auftritt vorhin ganz bestimmt. Schnell haucht er Lena einen Kuss auf den Mund und steigt über das Balkongeländer, hantelt sich über das Sims vor, bis er die Regenrinne greifen kann. Zum Glück kennt Kokoschansky keine Höhenangst, doch nun wird ihm doch etwas mulmig. Scheiße, denkt er, im Film sieht das immer so leicht aus. Außerdem hat der Held seine Stuntmen, die für ihn ihre Knochen riskieren.

Jetzt sind seine lange Beine mehr als hilfreich, und es gelingt ihm, sich Meter für Meter von einem Abtritt zum nächsten im Schneckentempo abwärts zu bewegen. Oben am Balkon steht Lena und sieht ihm mit bangen Blicken zu. Hoffentlich kommt niemand von den Mietern auf die Idee, ausgerechnet jetzt seinen Müll in die Tonnen einzuwerfen oder auf seinen Balkon hinauszugehen. Das würde noch fehlen! Geschafft! Die letzten eineinhalb Meter springt er hinunter, blickt nach oben, wo Lena ihm erleichtert und ihn insgeheim bewundernd den ausgestreckten Daumen zeigt.

Kokoschansky zieht das Handy aus der Jackentasche, wählt Freitags Nummer und hat Glück, dass sein schwarzafrikanischer Freund mit seinem Taxi auf einem Standplatz in der Nähe in aussichtsloser Position steht. Kokoschansky verabredet mit ihm, ein paar Gassen weiter auf ihn zu warten, und beeilt sich.

Kaum fünf Minuten später bremst der Rastamann sich ein. »Hey, wie siehst du denn aus? Hast du wieder einmal deine Mistkarre repariert?«, grinst Freitag, lässig den Ellenbogen auf dem Fensterrahmen aufgestützt und in Anspielung auf Kokoschanskys altersschwache Rostlaube. Jetzt erst bemerkt der Journalist, dass er von oben bis unten total verdreckt ist.

»Ach«, Kokoschansky wehrt ab, »bring mich nur schnell hier weg.«

»Ja, Bwana, Freitag fahren, und Massa sagen, wohin.«

Kokoschansky springt in den Mercedes, kauert sich zusammen und sagt ihm, wohin es gehen soll. Während der Fahrt erzählt er ihm, was sich in den letzten Stunden ereignet hat.

»Das gibt es doch alles nicht!«, staunt Freitag. »Das Ding mit dem untergejubelten Koks ist aber eine fiese Nummer. Ich lasse mir einreden, wenn das bei mir zu Hause in Nigeria passiert, okay, dort zählt es zum Alltag, und kein Hahn kräht danach. Aber hier im Vorzeigeland Österreich! Du pokerst hoch, mein Freund.«

»Ich weiß«, sagt Kokoschansky nachdenklich.

»Und wenn du dich verschätzt hast? Was dann?«

»Dann bin ich erledigt. Ganz einfach.«

»Wenn es allerdings klappt, dann gute Nacht. Scheiße, warum habe ich nicht Radio gehört.«

»Weil immer dein Reggae plärrt …«

Inzwischen sind sie in der Nähe von Mitnicks geheimem High-Tech-Labor eingetroffen.

»Nimm’s nicht persönlich, Freitag, aber Mitnick ist nicht nur ein komischer Kauz, sondern auch sehr vorsichtig. Darum gehe ich die letzten Meter zu Fuß. Aber du wirst ihn sicherlich demnächst kennen lernen.«

»Lass mal gut sein, Koko. Das verstehe ich. Schaff deinen Scheißkoks her, und pass auf, dass nicht deine Fingerabdrücke darauf landen.«

 

*

 

Leise surrt und rattert der Drucker vor sich hin. Lena nimmt das kurz und bündig verfasste Kündigungsschreiben aus dem Papierfach. Sie hat nicht vor, sich lange Belehrungen anzuhören, sich vielleicht der Gefahr eines Disziplinarverfahrens auszusetzen, wenn sie bei ihren obersten Vorgesetzten zum Rapport antritt und sie verständlicherweise ihre Zunge nicht im Zaum halten kann. Nach Kokoschanskys Auftritt vor laufenden Fernsehkameras ist alles möglich. Wenn man jemanden loswerden will, schafft man es auch, sofern man am längeren Ast sitzt. Das will sie sich nicht länger antun.

Noch lässt sie sich Zeit mit dem Rückruf im Sekretariat des Landespolizeikommandanten. Nachdenklich sitzt sie auf einem Stuhl in der Küche, spielt gedankenverloren mit einer Haarlocke und obwohl sie sich dagegen zu wehren versucht, lässt ihr die Wehmut keine Chance, und zeitweilig schimmern ihre wunderschönen Augen feucht.

Ja, es war durchaus eine schöne Zeit als Polizistin, doch in letzter Zeit nehmen die Schattenseiten immer mehr überhand, die ihr den Beruf zusehends vergraulen. Solange sie mit Kokoschansky zusammenlebt und die Uniform trägt, wird sie weiterhin scheel angesehen und gemobbt. Hinterrücks das Getuschel und ständig auf der Hut sein, um hinterhältige Angriffe abzuwehren. Man wird sie bei Beförderungen übergehen, nur wer linientreu bleibt und kuscht, sich anpasst, dem wird der Lorbeer zuteil.

Unabhängig von den internen Querelen machen ihr auch zusehends die ständig zunehmenden bürokratischen Hürden zu schaffen. Der Verbrecher darf alles, der Polizist hat das Nachsehen. Das gilt natürlich nicht für den kleinen, unbedeutenden, sprichwörtlichen Hühnerdieb. Der bekommt weiterhin die volle Härte des Gesetzes zu spüren. Jene mit den weißen Hemdkrägen, die tatsächlich die großen Dinger drehen, sind längst tabuisiert, werden von der Justiz mit Glacéhandschuhen angefasst und lachen sich ins Fäustchen. Die Staatsanwaltschaften ersticken unter Aktenbergen, werden von der Politik zurückgepfiffen, sobald sich auch nur der leiseste Anflug einer politischen Verstrickung abzeichnet. Kurzum, der Filz aus politischen, wirtschaftlichen und kriminellen Aktivitäten ist inzwischen undurchdringlich geworden, ein gewaltiger gordischer Knoten, den niemand angreifen will.

Stehen die Staatsanwälte bereits auf verlorenem Posten und kämpfen gegen Windmühlen, hat es die Polizei umso schwerer. Sie, die schließlich die Staatsanwaltschaften durch ihre Ermittlungen, Erhebungen und Untersuchungen als weiterführende Instanz füttert, wird oft genug bereits im Ermittlungsstadium von höheren Stellen gebremst und behindert.

Wer es sich zu richten versteht, fährt mit einer Riege von Topanwälten auf, die mit allen Wassern gewaschen sind. Dann kann es schon passieren, dass brisante Akten unauffindbar sind, verschwinden oder Verfahren so lange verschleppt werden, bis sie der Verjährung zum Opfer gefallen sind. Und natürlich sind gewisse Probleme noch viel einfacher nach altbewährter Methode zu lösen, indem diskret ein fettes Kuvert unter einem Tisch im Nobelrestaurant zugeschoben wird, ein Schuldenberg sich plötzlich in ein ansehnliches Plus verwandelt oder lang gehegte Wünsche wahr werden.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, einen Schlussstrich unter einen Lebensabschnitt zu ziehen und einen neuen zu eröffnen. Lena sieht aus dem Fenster auf die Straße hinunter. Die meisten Journalisten sind abgezogen. Übrig geblieben sind ein RTL-TV-Team und drei Fotografen, die es anscheinend unbedingt wissen wollen. Ein Blick durch den Türspion verrät ihr, dass es auch im Treppenhaus wieder ruhig geworden ist. Sie beschließt, noch eine Zigarette zu rauchen, bevor sie sich telefonisch im Landespolizeikommando melden wird. Tatsache bleibt, unabhängig ob nun diese gefährliche Angelegenheit für Kokoschansky positiv oder negativ endet, damit hat er sich zwei neue Todfeinde geschaffen. Egal, wie Kollegen zu Lackner und Erharter stehen, es wird bestimmt genug von ihnen geben, die diesen beiden, sollte Kokoschansky recht behalten, diese Niederlage von Herzen gönnen. Trotzdem wird der Korpsgeist wieder gewinnen. Verfehlungen schwarzer Schafe in den eigenen Reihen werden intern geregelt und nicht öffentlich gemacht.

Die Türklingel schreckt sie aus ihren trüben Überlegungen hoch.

»Koko ist das nicht«, führt sie Selbstgespräche, »er würde vorher anrufen. Wer immer da jetzt draußen steht, na warte …«

Lena geht in den Flur, sieht nach, und ein Lächeln erhellt ihr Gesicht. Wenn der Hut brennt, ist es immer gut, auf Menschen bauen zu können, die einen nicht im Stich lassen. Hastig öffnet Lena die Türe.

»Mein Gott«, lacht Lena und zieht den Mann in den Fünfzigern rasch am Jackenärmel in die Wohnung, »mit dir habe ich nicht gerechnet! Umso besser, dass du hier bist.«

»Wieder einmal mehr sorgt unser Koko für erheblichen Wirbel«, grinst der unrasierte Mann und küsst Lena auf beide Wangen, »anscheinend zählt ihr jetzt zu den Promis? Oder sehe ich das falsch, was ich bisher erfahren konnte?«

»Komm erst mal rein, setz dich, und ich mache uns Kaffee. Wie geht es dir, Thomas?«

»Wie es eben einem Frühpensionisten so geht«, zuckt der ehemalige Chefinspektor Thomas Petranko die Achseln, »ziemlich langweilig. Zum Briefmarkensammeln und Orchideenzüchten bin ich nicht geboren.« Er folgt Lena in die Küche.

Petranko zählte zu den herausragenden Kriminalbeamten in dieser Stadt. Viele Jahre arbeiteten er und Kokoschansky, nachdem sie sich zusammengerauft hatten, eng zusammen, konnten manchen Fall lösen, und der Journalist kam zu seiner Exklusivstory. Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine intensive Freundschaft, obwohl es immer wieder Phasen gibt, in denen sie sich eine Zeit lang weder sehen noch hören. Bei ihrem letzten gemeinsamen Fall wurde Petranko durch den Messerstich eines albanischen Mafioso schwer verletzt. Nachdem er bereits mehr drüben als herüben war, entschloss er sich, den Dienst zu quittieren und sich in den Ruhestand zu begeben. Er will lieber im Bett sterben als auf der Straße verbluten.

»Du hast es sicher im Radio gehört oder im Fernsehen gesehen«, sagt Lena und stellt zwei Tassen auf den Tisch, »komm, setz dich.«

»Deswegen bin ich hier. Lässt sich auch schwer ignorieren, und meine Auguren sind immer noch aktiv«, antwortet Petranko und lässt sich in einen Stuhl fallen, »eines muss man deinem Koko lassen. Mut hat er. Im Grunde ein genialer Schachzug.«

»Hm«, seufzt Lena und schenkt Kaffee ein, »dazu will ich lieber nichts bemerken. So ist er nun einmal. Und dabei weiß er gar nicht, ob er gute Karten hat. Milch und Zucker?«

»Nur Zucker. Das hat sich nicht geändert. Was meinst du mit guten Karten, Lena?«

»Er hat einfach drauflos geblufft, ohne zu wissen, ob auf dem Scheißkokain tatsächlich Fingerabdrücke der beiden BKA-Leute sind. Kennst du Erharter und Lackner?«

»Ja.« Petranko rührt in seiner Tasse.

»Und?«

»Zwei herzallerliebste … Arschlöcher. Da würden in einigen Dienststellen die Sektkorken knallen, wenn die beiden endlich aus dem Verkehr gezogen werden.«

»Also traust du ihnen diese miese Aktion zu?«

»Denen«, kichert Petranko, »traue ich alles zu. Wobei Lackner das Gehirn der beiden ist und Erharter sein braver Erfüllungsgehilfe. Und über ihnen steht Edmund Katterka, der neue alte BKA-Chef, wie wir wissen, und den sie zurückgeholt haben, nachdem er rehabilitiert worden ist. Lackner ist ein Arschkriecher und hält sich Erharter als Lakaien. Die drei haben noch einige offene Rechnungen mit Saller. Nachdem der Gute weg ist, sind sie nun sehr nervös. Denen geht der Arsch auf Grundeis. Und wahrscheinlich ist das erst die Spitze des Eisberges. Das kannst du mir glauben, Lena. Wo ist Koko eigentlich?«

 

*

 

Geduldig lehnt Freitag an der Motorhaube seines Taxis und wartet auf Kokoschansky, der nun bereits an die zwanzig Minuten weg ist. Der Schwarze überlegt noch, ob er seinen Freund nicht doch anrufen soll, als der Journalist bereits im Laufschritt um die Ecke biegt.

»Hast du das Zeug?«, fragt Freitag ihn angespannt.

»Klar. Wir hauen ab.«

»Mann, ich habe schon alles Mögliche mit dieser Karre transportiert, aber nie etwas dermaßen Heißes. Wenn wir das vertickern und teilen, ist das ein netter Nebenverdienst.«

»Mit der Option, für längere Zeit hinter Gittern zu verschwinden.«

»Ja, ja! Reg dich wieder ab. War nur ein Scherz. Man muss doch das Vorurteil gegen uns Schwarze pflegen.«

»Schwing endlich deinen Arsch hinters Lenkrad«, fordert Kokoschansky Freitag auf, »ich will diesen Dreck so schnell als möglich loswerden.« Das Kokainpaket hat er unter seiner Jacke verborgen.

»Und wohin wollen Massa fahren?«

Freitag startet, da meldet sich plötzlich Kokoschanskys Handy, und er legt kurz seine Hand auf den Unterarm des Schwarzen als Zeichen, noch nicht anzufahren.

»Ja? … Das gibt’s doch nicht! … Genau so machen wir es mit den Fingerprints. Super!« Das Telefon verschwindet wieder in der Jackentasche.

»Was ist jetzt wieder los?«, fragt Freitag. »Was ist mit den verdammten Fingerabdrücken?«

»Ich bin so ein Trottel«, tadelt Kokoschansky sich selbst. »Manchmal ist man wie vernagelt und kommt nicht auf die einfachsten Dinge. Lena hat auch nicht daran gedacht. Das war sie eben. Bei der Hausdurchsuchung haben die Scheißtypen genug bei uns zu Hause angefasst. Ergo brauchen wir die Abdrücke nur mehr mit denen auf dem Koks zu vergleichen. Der gute alte Petranko ist überraschend bei uns aufgekreuzt und hat Lena mit der Nase daraufgestoßen. Das war meine größte Sorge, wie ich an die Fingerprints der beiden kommen kann.«

»Und wenn der eine, der dir das Zeug auf deinem Klo untergejubelt hat, doch Handschuhe trug?« Freitag bleibt skeptisch.

»Das ist das Risiko. Doch die waren sich zu sicher, die dachten, die Nummer geht so durch. Wenn nicht, habe ich noch eine Chance mit deren DNA. Allerdings nimmt eine Analyse einige Zeit in Anspruch. Das dauert mir zu lange. Diese Schweine müssen jetzt aus dem Verkehr gezogen werden, bevor sie noch mehr Schaden anrichten können. Wir fahren zurück zu mir.«

»Und der Koks?«

»Den bringe ich wieder zu Mitnick. Dort ist das Zeug am besten aufbewahrt.«

»Gut. Aber wenn bei dir noch immer Journalisten herumlungern?«

»Die können mich mal. Ich steige ein paar Straßen vorher aus. Bin gleich wieder zurück.«

 

*

 

Eigentlich wollte der Junkie gar nicht nach Grinzing in den 19. Wiener Bezirk. In der Straßenbahn der Linie 38 muss er wohl eingeschlafen sein, bis ihn der Fahrer an der Endhaltestelle ziemlich unsanft aus dem Waggon hinauskomplimentiert hatte.

Da er nun schon einmal hier ist, kann er zumindest zu schnorren versuchen, um sich vielleicht eine Kleinigkeit zu essen kaufen zu können. Das letzte Geld gab er seinem Dealer am Schottentor, und den Schuss setzte er sich gleich in der U-Bahn-Toilette. Die Wirkung des Heroins wird vielleicht noch dreißig Minuten, maximal eine Stunde anhalten. Dann beginnt sich erneut das Teufelskarussell zu drehen. Vielleicht kann er hier irgendwo einbrechen, etwas mitgehen lassen und es zu Geld machen. Oder einer Alten die Handtasche rauben. Am liebsten möchte er die Bank an der Ecke überfallen, aber mit seinem Springmesser und in seinem jämmerlichen Zustand wird das wohl nichts. Schließlich leben hier die Geldsäcke, und die können ruhig etwas abdrücken.

Ziel- und planlos irrt er durch Straßen und Gassen, leiert sein Sprüchlein herunter, sobald er auf Passanten trifft, ob sie nicht ein wenig Kleingeld für ihn übrig hätten, erntet dafür argwöhnische, feindselige, ignorante Blicke und spitze Bemerkungen. Manche wechseln die Seite, als sie ihn sehen.

Er könnte versuchen, in dem Supermarkt etwas Essbares zu klauen, doch ein letzter Funken von Verstand hält ihn zurück, da er einige Verwaltungsstrafen offen hat, die er nicht bezahlen kann, und deshalb zur Fahndung ausgeschrieben ist. Wird er erwischt, sitzt er für längere Zeit ein. Dann lieber nach einer alten Frau Ausschau halten, die leicht zu überfallen ist. Vorher will er noch die Mülltonnen hinter dem Markt näher in Augenschein nehmen. Darin findet sich sicherlich einiges an Verwertbarem und abgelaufenen Lebensmitteln.

Die ungefähr fünfundzwanzigjährige, hagere, ausgemergelte Jammergestalt mit den verfilzten Haaren, kaputt, verdreckt, in desolaten Klamotten, wankt über den Parkplatz. Ein Gestank nach verfaultem Obst und Gemüse weht ihm entgegen. Er stößt sich an einem herumliegenden Karton, flucht lautstark, zieht den schweren Metalldeckel auf, stemmt sich ächzend hoch und beginnt herumzustöbern. Reißt Müllsäcke auf, wirft mit dem Inhalt um sich, schimpft lautstark, weil er tatsächlich nur Abfall vorfindet, vor dem selbst ihm graut, zieht die Blicke verärgerter Kunden auf sich, doch niemand wagt es, ihn anzusprechen. Dafür pöbelt er unflätig die Leute an und wühlt weiter im Dreck.

Plötzlich zuckt er zusammen und schreckt hoch, sieht Blut an seinen Händen, glaubt zuerst, sich an Scherben geschnitten zu haben, kann jedoch keinerlei Verletzungen entdecken, wischt seine besudelten Hände mit einem Papierfetzen ab, greift abermals in den zerrissenen Beutel und erstarrt, als er einen sauber von der Achsel abgetrennten Arm sieht. Trotz seines vernebelten Hirns erkennt er sofort, dass es sich um einen Frauenarm handelt. Das Grauen steht ihm ins Gesicht geschrieben. Er reißt sich zusammen, sieht nochmals genauer hin und entdeckt an einem Finger einen schmalen Ring mit einem kleinen, glitzernden Stein. Er versucht, den Schmuck abzuziehen, doch die Leichenstarre verhindert es. Mit aller Gewalt unterdrückt er den aufkeimenden Brechreiz, schließt die Augen und bricht den Finger. Er zieht und dreht so lange, bis er tatsächlich erfolgreich ist. Blitzartig springt er, den Ring in seiner Faust, von der Tonne und ergreift die Flucht.

Das hektische Bellen einer Promenadenmischung, die wie verrückt an der Leine zerrt, führt sein Frauchen unweigerlich zu der Mülltonne. Das Hündchen wittert Fleisch, und die gebrechliche ältere Frau muss sich wohl oder übel von ihrem Liebling die Richtung diktieren lassen. Der Abfallbehälter übt auf den Kläffer eine magische Anziehungskraft aus. Wie von Sinnen hüpft das Tier davor auf und ab. Das Letzte, was die Frau zu sehen bekommt, bevor sie bewusstlos zusammenbricht, sind im Todeskampf erstarrte, blutige Finger, die verkrampft gegen den Himmel gerichtet sind.

Keuchend verkriecht der Junkie sich in einen Hauseingang. Mit Spucke säubert er notdürftig den Ring. So viel erkennt er, als er das Schmuckstück gegen das Licht hält, dass es sich anscheinend um keinen billigen Tand handelt. Er kneift die Augen zusammen, erkennt, dass auf der Innenseite Wörter in einer ihm unbekannten Schrift und ein Datum eingraviert sind.

 

*

 

Sichtlich angespannt und nervös wird Kurt-Friedrich Midas von Parteisekretär Sigmund Sauslinger im Sondergastraum des VIP-Bereiches am Flughafen Wien-Schwechat erwartet.

Endlich kommt er, braun gebrannt und wie immer mit perfekt sitzender, luftiger Föhnfrisur, in Begleitung seiner Frau Graciella. Beide in legerer, exquisiter Freizeitkleidung. Sie schreiten durch die Glastüre, den höflichen Gruß des Personals erwidern sie nur beiläufig. Nach außen hin immer den Sonnyboy spielen, schließlich können Paparazzi lauern, und schlechte Presse braucht er wie Wasser in den Schuhen.

Das Strahlemannlächeln gefriert, als er Sauslinger erblickt, während seine Frau unbekümmert und bester Laune hinter ihrem Mann auf Manolo-Blanik-High-Heels herstöckelt.

»Servus KFM«, empfängt der Politiker seinen Parteifreund geknickt, »tut mir wirklich leid, dass ich euch den Urlaub versaut habe. Doch wer konnte das ahnen? Ich hätte auch gerne bessere Nachrichten für euch.« Mit Bussi links und rechts begrüßt Sauslinger Graciella und drückt danach Midas kräftig die Hand.

»Das macht doch nichts«, flötet Graciella, »irgendwie ist es in der Karibik schon langweilig geworden. Außerdem muss ich wieder einmal auf unserem Landsitz auf Capri nach dem Rechten sehen.«

»Graciella, bitte«, weist Midas leise seine Frau zurecht, »das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, und wendet sich Sauslinger ebenso leise zu, »ich hoffe doch sehr, dass die Journalisten nicht Wind von meiner frühzeitigen Rückkehr bekommen haben. Dann saugen die Aasgeier sich wieder alles Mögliche aus den Fingern, und ich stehe wieder unter Dauerfeuer. Ich darf auf keinen Fall mit Sallers Flucht in Zusammenhang gebracht werden. Hast du mich verstanden, Sigmund?«

»Vollkommen klar, KFM, darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen.«

»Was ist?«, fährt Midas ihn an. »Wo bleibt der Wagen? Ich habe nicht vor, hier anzuwachsen. Wir fahren zuerst in unsere Stadtwohnung.«

»Ich tue, was ich kann.«

»Das merke ich«, gibt Midas sich keineswegs zufrieden, »doch ich werde sicherlich nicht alleine für alles meinen Kopf hinhalten und die Konsequenzen tragen, falls etwas auffliegt. Wir sind eine Seilschaft. Wenn einer aus der Wand fliegt, reißt er alle mit.«

»Es gibt auch gute Nachrichten«, raunt Sauslinger KFM mit einem vielsagenden Seitenblick auf Graciella zu, »aber nicht hier.«

 »Tatsächlich?«, fragt Midas.

»Mit Sicherheit«, bestätigt Sauslinger.

»Was ihr immer zu tuscheln habt«, mokiert Graciella sich, »ich will jetzt endlich nach Hause und etwas ausspannen. Ich spüre total den Jetlag.«

»Dann nimmst du den Wagen«, bestimmt ihr Mann, »und ich fahre mit Sigmund. Wir haben noch einiges zu besprechen. Danach komme ich heim.«

Nachdem Graciella vom Chauffeur abgeholt worden ist und sich auf dem Nachhauseweg befindet, sitzen Midas und Sauslinger in dessen Auto in einer der Garagen des Flughafens.

»Was ist nun die gute Nachricht?«, fragt Midas ungeduldig.

»Wir haben deinen Todfeind am Arsch«, macht Sauslinger es spannend, »Bortner wird uns in Zukunft aus der Hand fressen.«

»Was? Der Oberstaatsanwalt? Wie das denn?«

»Er hatte seine Triebe nicht im Griff.«

»Was heißt das nun wieder? Verdammt noch mal, jetzt mach es nicht so spannend.«

»Beim letzten Treffen der 50.000er ist es passiert.«

 

*

»Also«, murmelt der BKA-Mann vor sich hin und lässt dabei die Pegelanzeigen der Aufnahmegeräte nicht aus den Augen, »ist es doch kein Gerücht. Diesen Club gibt es tatsächlich.« Er presst die Kopfhörer an seine Ohren, um nur ja nichts von dem Gespräch zwischen Sauslinger und Midas zu verpassen. Niemandem fällt der unscheinbare Lieferwagen auf, der nur wenige Meter von Sauslingers Fahrzeug entfernt parkt. Ein hochempfindliches Richtmikro der neuesten Generation, dem selbst der andauernde Lärm der startenden und landenden Flugzeuge nichts anhaben kann, zeichnet präzise jedes Wort auf.

 

*

 

»Unsere Zusammenkunft fand zuletzt nach längerer Zeit in Nazeems Villa statt«, erklärt der Parteisekretär Midas, »wie du selbst weißt, schließlich warst du ja oft genug mit dabei, haben wir wieder die Sau rausgelassen. Gilbert Ährenbach hat wie immer über den Griechen die Weiber besorgt. Das Übliche. Bulgarische, rumänische, russische, slowakische und ukrainische Nutten. Dieses Mal waren sogar zwei aus Albanien dabei. Die waren echt der pure Wahnsinn, kann ich dir sagen. Da hast du einiges versäumt, KFM.«

»Jetzt komm endlich zum Punkt«, mahnt Midas ungeduldig, »ich habe genug um die Ohren.«

»Eine der Russinnen ist dabei draufgegangen.«

»Was?«

»Bortner hat sie umgebracht. Nicht mit Absicht, es war ein Betriebsunfall. Wie wir alle wissen, ist der Herr Oberstaatsanwalt von Mutter Natur ziemlich gut bestückt worden, und daran ist die Kleine erstickt.«

»Scheiße«, Kurt-Friedrich Midas muss ein paar Mal schlucken, um das Gehörte zu verdauen, und in seinem leichenblassen Gesicht spiegelt sich blankes Entsetzen wider, »wenn das hochkommt, ist es aus. Da lässt sich nichts mehr vertuschen.«

»Jetzt schmeiß nicht gleich die Nerven weg, KFM«, beruhigt Sauslinger seinen Parteifreund, »es ist längst alles geregelt. Die Leiche ist weg.«

»Was habt ihr damit gemacht?«

»Wir? Gar nichts. Dafür haben Nazeems Leute gesorgt. Mach dir keine Sorgen.«

»Wenn das auffliegt, sind wir alle geliefert. Dafür wandern wir für viele lange Jahre hinter Gitter.«

»Nur die Ruhe, KFM. Was ist geschehen?« Sauslinger bleibt gelassen. »Eine unbekannte Hure ist abgekratzt und wird irgendwann irgendwo gefunden werden. Niemand wird ihre Identität feststellen können. Nazeems Leute sind Profis. Sie haben nicht zum ersten Mal jemanden spurlos verschwinden lassen. Wird es tatsächlich bekannt, wandert der unbekannte Leichenfund als ungeklärt zu den Akten. Die Bullen werden zurückgepfiffen, dafür muss Bortner schon in eigenem Interesse sorgen. Die Öffentlichkeit interessiert nicht im Geringsten, dass irgendeine Nutte den Löffel abgegeben hat. Ährenbach, ich und einige andere, die ebenfalls bei der Party waren, genießen Immunität.«

»Ja, ihr!«, ereifert Midas sich. »Aber ich bin offiziell aus der Politik ausgeschieden, ich werde wie ein normaler Staatsbürger behandelt.«

»Aber doch mit Glacéhandschuhen. Dafür sorgen schon deine Anwälte.«

»Was ist mit Nazeem?«

»Nichts. Was soll sein? Begeistert ist er darüber nicht, aber deswegen lässt er sich auch keine grauen Haare wachsen. Kein staatliches Organ wird es wagen, Nazeem al-Qatr zu behelligen. Ich muss dir wohl nicht erklären, wie groß die Angst vor Repressalien mit seinem unberechenbaren Vater in Nordafrika ist. Nach seinem Sexunfall wird der Herr Oberstaatsanwalt sehr kleinlaut sein und nun nach unserer Pfeife tanzen müssen. Mit anderen Worten, du bist auf der sicheren Seite, KFM.«

Midas fährt sich mit beiden Händen durch sein fülliges Haar und seufzt tief. »Dein Wort in Gottes Ohr, Sigmund.«

 

*

 

»Den alten Mann lassen wir aus dem Spiel«, grinst der BKA-Mann, »es reicht, wenn ihr in meinem Ohr seid …«

»Was ist los?«, fragt sein Kollege. »Warum bist du so aufgedreht?«

»Weil wir jetzt endlich verwertbares Material, noch dazu mehr als brisant, in Händen halten und diese Scheißblase endgültig platzen lassen können. Jetzt fallen sie alle wie Dominosteine um.«

»Wenn nicht unsere Ermittlungen wieder einmal von ganz oben abgedreht werden«, bleibt der zweite Beamte argwöhnisch, »es wäre nicht das erste Mal.«

»Jetzt mal nicht gleich den Teufel an die Wand«, bleibt der andere weiterhin euphorisch, »außerdem kommen wir jetzt auch an den Club 50.000 ran.«

»Das ist doch nichts weiter als ein Gerücht«, folgt prompt die Widerrede.

»Ist es nicht«, antwortet sein Kollege patzig, »das habe ich bisher auch immer geglaubt. Wir packen zusammen und fahren zurück ins Büro. Anschließend gehe ich zum Alten und knalle ihm die Fakten auf den Tisch.«

 

*

 

Kokoschansky wird bereits sehnsüchtig erwartet. Zwar hingen noch ein paar Journalisten vor dem Wohnhaus herum, doch es gelang ihm ,seine Kollegen erfolgreich auszutricksen.

»Alles gut verlaufen?«, fragt Lena und ist sichtlich erleichtert, als er ihr bestätigt, alles ist problemlos über die Bühne gegangen.

»Hallo, Thomas«, begrüßt der Journalist seinen alten Freund, »der Kater lässt das Mausen nicht, oder wie?«

»Tja, Koko, wird wohl so sein. Schließlich sorgst du ja dafür. Das kann auch nur dir passieren. Geht ins Spital, trifft zufällig auf Saller und sitzt augenblicklich in der Scheiße. Es geht eben nichts über gute Informanten«, unterbrochen von einem ironischen Lächeln, »in dem Fall eher um eine ausgezeichnete Informantin.«

Lena senkt den Kopf und zieht sogar etwas Farbe auf. Sie hat ihm zwar nicht verraten, wer dahintersteckt, doch Petranko ist schlau genug, um es auch so zu wissen.

»Wo ist der Koks?«, fragt der ehemalige Chefinspektor.

»Noch immer bei Mitnick in seinem Geheimlabor«, gibt Kokoschansky Auskunft.

»Das ist gut«, nickt Petranko, »pass auf, Koko. Die Sache mit den Fingerabdrücken ist ein ziemliches Vabanquespiel. Dieses Päckchen ist bisher durch weiß Gott wie viele Hände gegangen. Da picken jede Menge Prints drauf. Das kann zum Einfahrer werden. Was wir dringend brauchen, ist Erharters DNA. Wenn der Trottel wirklich so blöd war, ohne Handschuhe in deinem Klo den Koks zu deponieren, dann sind seine Spuren auf jeden Fall auf der Abdeckung der Spülung, insbesondere am Deckel. Du hast doch nichts verändert?«

»Nein«, bestätigt Kokoschansky.

»Ausgezeichnet. Ich werde jetzt ins BKA fahren. Alte Kollegen besuchen. Was eben Pensionisten tun, wenn ihnen fad ist. Das fällt nicht auf. Ich weiß ja, wo die Büros von Lackner und Erharter sind. Da wird sich eine Gelegenheit ergeben. Anschließend werde ich in der Kriminaltechnik vorbeischauen, der alte Petranko hat noch seine verlässlichen Freunde, und dann sollen sie eine Schnellanalyse machen. Dafür muss ich den Deckel eurer Spülung mitnehmen.«

Kokoschansky fehlen im Moment die Worte, legt nur anerkennend die Hand auf Petrankos Schulter.

»Das vergesse ich dir nicht«, bedankt sich der Journalist.

»Schon gut. Noch einen Rat, Lena«, Petranko nimmt sie an der Hand, »wenn ich mir das erlauben darf. Warte mit deiner Kündigung noch zu. Wenn du jetzt den Krempel hinschmeißt, käme das praktisch einem Schuldeingeständnis gleich. Fahre ins Generalinspektorat, lass dich gegebenenfalls zusammenstauchen, schluck’s einfach runter. Ich kann dich wirklich verstehen, aber jetzt wäre es ein fataler Fehler. Wir müssen herausfinden, warum das BKA so erpicht darauf ist, Koko zu legen. Nur weil er Saller kennt? Das ist mir zu wenig. Und du, Koko, verweigerst jedes Interview, bis wir hoffentlich ein brauchbares Ergebnis vorweisen können, um diese beiden Arschlöcher abzuschießen. Für deine Kollegen erhöht das nur die Spannung auf eine brandheiße Story. Jetzt gebt mir den Deckel, damit ich verschwinden kann.«

»Und wenn es kein Ergebnis gibt?« Kokoschansky nagt nachdenklich an seinem Daumen.

»Dann werden sie dich mit Klagen zuscheißen«, bringt Petranko es ungeschminkt auf den Punkt.

 

*

 

Sämtliche Versuche, den gestohlenen Ring zu verhökern, scheitern. Trotz seiner erbärmlichen Verfassung hat der Junkie begriffen, dass das Schmuckstück aus Gold und der Stein sicherlich auch kein billiger Plunder ist. Die Wirkung des Heroins wird immer schwächer, und er ist auf dem besten Weg zu krachen, der Entzug macht sich immer stärker bemerkbar. Daher will er den Ring so schnell wie möglich in H19 umsetzen. Zuerst versucht er es am Karlsplatz, einem der Wiener Drogentreffpunkte. Niemand wollte etwas damit zu tun haben. Die Entzugsschmerzen werden immer ärger. Der Akku seines Handys zeigt nur mehr eine schwache Anzeige, und sein Dealer ist nicht zu erreichen.

Mit letzter Kraft fährt er mit der U-Bahn zur Station Josefstadt, wo sich neuerdings ein Treff der Drogenabhängigen etabliert hat. Seine Eingeweide krampfen sich zusammen. Er schleppt sich die Treppe zum Ausgang hinunter, klammert sich an das Geländer, läuft geradewegs einem Zivilfahnder der EGS20 in die Arme, bevor er der Länge nach hinknallen kann.

»Na, da haben wir ja einen alten Bekannten«, sagt Wolfgang Pressling und lehnt den Junkie wie eine Holzlatte an die Wand, während weitere Fahnder hinzukommen. »Wie oft in diesem Monat haben wir dich schon angehalten? Junge, geh endlich auf Entzug, sonst krepierst du demnächst.«

Der Fahnder streift sich Einweghandschuhe über, während seine Kollegen sichern. Obwohl der Junkie bisher noch nie gegenüber Polizisten aggressives Verhalten gezeigt hat, kann man nicht sagen, ob er nicht doch plötzlich ausrastet.

»Du kennst ja das Procedere. Räum deine Taschen aus.«

Unverständliches murmelnd, kramt der arme Teufel in seiner Jacke und in der Hose. Seine Bewegungen sind extrem langsam, und es dauert eine Weile, bis er das wenige, das er bei sich trägt, ausgepackt und auf den Steinboden abgelegt hat. Eine angebrochene, zerknitterte Packung Zigaretten, ein Plastikfeuerzeug, einen Schlüsselbund, Papiertaschentücher, ein wenig Kleingeld, seinen Ausweis, ein Springmesser.

»Hast du etwas bei dir, woran ich mich verletzten könnte?«, fragt Pressling. »Spritze? Oder eine Schusswaffe? Das Messer nehme ich dir gleich einmal ab.« Routinefragen, die bei diesem Jungen nicht notwendig sind, weil er sie auswendig kennt, aber bei jeder Anhaltung zur üblichen Prozedur gehören.

»Nein«, kommt es leise von den rissigen Lippen.

»Gift dabei?«

»Nichts. Wenn ich Stoff hätte, wäre ich jetzt nicht so am Sand.«

Pressling beginnt mit der Visitation, tastet den Jungen ab, der auch seine Hose öffnen muss. Ein demütigendes Procedere vor den Augen der Öffentlichkeit, das kaum noch jemandem ein neugieriger Blick wert ist. Mit geübten Griffen wird er von dem Fahnder gefilzt. Plötzlich stutzt Pressling. In der Innentasche der Jeansjacke spüren seine Finger einen kleinen Gegenstand auf und fördern ihn zutage.

»Wo hast du diesen Ring her?«

Keine Antwort.

»Hast du den Ring gefladdert21? Gib’s zu, wir kriegen es doch raus.«

Der Junge bleibt stumm.

Pressling hält den Ring gegen das Licht, auch seine Kollegen kommen näher, um das Schmuckstück zu beäugen, ohne jedoch den Junkie unbeaufsichtigt zu lassen.

»Zeig mal her«, sagt einer von Presslings Kollegen und nimmt ihn in die Hand, »da steht eine Gravur. Kyrillische Schrift, wenn ich das genauer betrachte. Und ein Datum. 27.3.2009.«

»Hast du den bei einer Osthure mitgehen lassen?«, bohrt Pressling weiter.

Kopfschütteln.

»Was dann? Woher hast du diesen Ring?«

»Gefunden«, lautet die Antwort aus dem Mund mit den verfaulten Zähnen.

»Gefunden? Aha … Und wo?«

»Auf der Straße.«

»Wo?«

»Weiß ich nicht mehr.«

Pressling wird von einem Kollegen beiseite genommen. »Meine Augen sind zwar nicht mehr die besten, aber schau dir doch mal diese kleinen Spritzer an. Das sieht mir nicht wie normaler Dreck aus.«

»Was dann?«

»Könnte Blut sein. Schwer, hier zu identifizieren. Der Ring ist jedenfalls echt. Nicht aus dem Kaugummiautomaten. Das ist Weißgold und der Stein ein Rubin. Meine Frau arbeitet bei einem Juwelier.«

Pressling wendet sich wieder an den Junkie. »Und du behauptest, du hast den Ring auf der Straße gefunden. Noch einmal, wo?«

»Ich erinnere mich nicht mehr.«

»Wann?«

»Heute. Irgendwann am Vormittag, was weiß ich?«

»Dann sollten wir den Typ einziehen«, raunt ein weiterer Kollege Pressling ins Ohr.

»Ach, scheiß drauf«, resigniert Pressling, »sieh dir den doch an. Der ist total fertig, der hat keine krumme Tour gemacht. Dazu ist der nicht mehr fähig. Ich glaube ihm sogar. Das gibt nur wieder unnötigen Schreibkram. Den Ring nehmen wir mit.« Dann richtet er das Wort wieder an den Junkie. »Und du schleichst dich. Dich will ich heute hier nicht mehr sehen. Platzverbot. Hast du das kapiert? Und geh endlich in Therapie, dass du von dem Scheißzeug runterkommst, sonst erlebst du Weihnachten nicht mehr.«

»Und mein Ring? Schließlich habe ich den gefunden. Der gehört mir.« Der Junkie sieht seine letzte Chance, auf die Schnelle an Heroin zu kommen, dahinschwinden.

»Sei froh, dass wir dich laufen lassen. Oder sollen wir dich tatsächlich festnehmen? Das ist nämlich Fundverheimlichung, Bester. Und jetzt verzieh dich endlich.«

Pressling verzichtet auf die Feststellung der Personalien, schließlich ist der Junge seit Jahren amtsbekannt. Auch von den offenen Verwaltungsstrafen weiß er, doch wenn er ihn in eine Zelle stecken lässt, was würde es bringen? Nichts. Einem Nackten kann man nichts mehr wegnehmen, und die Gefängnisse sind ohnehin überfüllt. Was der Junge viel eher braucht, ist eine Therapie, als der Staat die paar lumpigen ausstehenden Hunderter.

 

*

 

Nachdem der ehemalige Chefinspektor Thomas Petranko ein paar belanglose Worte mit dem Torposten gewechselt hat, sucht er zuerst die Kantine im BKA auf. Er war Kriminalbeamter mit Leib und Seele, hätte sich auch einen würdigeren Abschied gewünscht und auf jeden Fall verdient. Leider wurde er während seines letzten Falls im Zuge der Ermittlungen sehr schwer verletzt, als er von einem Täter niedergestochen worden war.

Im Krankenhaus hatte er genügend Zeit, darüber nachzudenken, ob er nach seiner vollständigen Genesung wieder in den Dienst zurückkehren oder sich in den frühzeitigen Ruhestand, auch aus familiären Gründen, versetzen lassen soll.

Es gibt immer wiederkehrende Zeiten, in denen er diesen Schritt insgeheim bereut, obwohl er sich nicht zu jenen pensionierten Bullen zählt, die in der Rente nur von der Vergangenheit leben und nicht fähig sind, sich anderweitig zu beschäftigen.

Ab und zu lässt er sich zu einem Plausch mit den alten Kollegen im BKA blicken. Das letzte Mal war er vor ein paar Monaten hier. Solche Besuche in der alten Arbeitsstelle sind immer ein Gradmesser für die persönliche Beliebtheit und Balsam für seine Seele.

Petranko war sehr erfolgreich und sorgte für Neider, was bei seinem sporadischen Aufkreuzen jedes Mal deutlich wird. Nach dem Motto, was will der alte Trottel schon wieder hier? Glaubt er, ohne ihn bringen wir nichts weiter?

Andere freuen sich ehrlich, wenn sie Petranko wiedersehen, und das sind genau jene Kollegen, mit denen er gerne zusammengearbeitet hatte.

Natürlich rennt bei diesen informellen Treffen, wie es in Wien heißt, der Schmäh. Man zieht sich gegenseitig auf, reißt Witze auf Kosten anderer, bekommt selbst Fehler und Schwächen unter die Nase gerieben, aber nie ist es bösartig.

Petranko sitzt mit einer Gruppe Kollegen zusammen, auch Drogenfahnder Wolfgang Pressling ist dabei, und sie reden pausenlos, mokieren sich über die neue Innenministerin, einer ehemaligen Lehrerin, die wohl ihr Ministerium wie einen Schulbetrieb führen will, was natürlich Stoff für blöde Witze bietet.

»Sag mal, Thomas«, wendet einer der Beamten sich Petranko zu, »hast du noch Kontakt zu deinem Journalistenkumpel?«

»Meinst du Kokoschansky?«

»Ja, klar. Zwar nicht so häufig, als ich noch aktiv war, aber doch sporadisch.« Der alte Fuchs Petranko ist sofort hellhörig geworden, lässt sich aber nichts anmerken. »Warum fragst du?«

»Nur so«, erwidert der Kollege, »ohne besonderen Grund. Aber es hat uns allen sehr getaugt, wie dieser Kokoschansky vor der Fernsehkamera Lackner und Erharter hat auflaufen lassen. In der Mittags-Zeit-im-Bild haben sie schon ein paar Ausschnitte gezeigt.«

»Deren Beliebtheit hat sich wohl nicht gesteigert«, schmunzelt Petranko.

»Vergiss es, Thomas«, sagt einer der Beamten mit einer wegwerfenden Handbewegung, »seit Katterka wieder zurück ist, haben die zwei einen Höhenflug angesagt, bloß weil sie zu seinen Speichelleckern geworden sind. Sei froh, dass du mit dem ganzen Scheiß nichts mehr zu tun hast. Wer will noch was trinken?« Er steht auf, blickt um sich. »Ich hole uns noch etwas.«

»Dann sei so nett«, bittet Petranko, »und bring mir noch ein Bier mit. Ich darf ja jetzt um diese Zeit, bin nicht mehr im Dienst. Und mit der bescheidenen Beamtenpension ist man für jede Einladung dankbar.«

»Hast du nicht vorhin erzählt«, mischt Wolfgang Pressling sich grinsend ein, »dass du dir erst zwei Wochen lang die Sonne in Griechenland auf den Bauch hast scheinen lassen? Von wegen …«

»Ja, aber«, versucht Petranko, sich mit lachendem Gesicht zu rechtfertigen, wird jedoch von einer vertrauten Stimme unterbrochen.

»Ja, das freut mich aber wirklich, dass du dich wieder einmal bei uns blicken lässt«, strahlt Alfred Cench, »alles im Lot, du glücklicher Rentner?«

Cench war einer von vielen Partnern Petrankos, die im Laufe ihrer Karriere bei ihm das Handwerk lernten. Auf Fredi konnte er sich immer verlassen. Ein erstklassiger Kombinierer und logischer Denker, ein integrer Kollege durch und durch, der sich zu einem wahren Experten für Organisierte Kriminalität entwickelte.

Durch seine offene Art, auch nicht vor Vorgesetzten mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten, eckt er immer wieder an. Wie oft er schon in die unterschiedlichsten Abteilungen unter fadenscheinigen Vorwänden hin und her versetzt wurde, weiß er fast selbst nicht mehr. Im BKA weiß jeder, dass Katterka Cench nicht leiden kann, weil er ihm fachlich überlegen ist, und es nur mehr eine Frage der Zeit ist, bis Katterka ihn weit weg von ihm irgendwohin verbannen wird.

»Fredi, gut siehst du aus! Wie immer!«, lobt Petranko seinen alten Partner, der stets tiptop gekleidet ist und durch sein Faible für ein stilvolles Erscheinungsbild in den eigenen Reihen Missgunst hervorruft, »bist du noch bei der OK22

»Offiziell bin ich es noch«, sagt Cench bewusst laut, sodass es alle hören können, »hängt alles vom großen Häuptling ab, wie lange er seinen Indianer noch in seinem Stamm haben will.«

Jeder weiß, wie er das meint. Dementsprechend Grinsen, verhaltenes oder lautes Gelächter in der Kantine, je nachdem, wie die einzelnen Leute zu ihrem Boss Katterka stehen.

»Hat mich gefreut, Thomas.« Der Beamte, der gezielt Petranko auf Kokoschansky angesprochen hatte, erhebt sich. »Ich muss wieder etwas tun.«

»Er lässt es mich schon spüren«, Cench setzt sich zur Runde und lockert seinen Krawattenknopf, »dass er am längeren Ast sitzt. Dafür habe ich jetzt auch einen scheußlichen Frauenmord am Hals. Für heute reicht es mir. Ich brauche nichts mehr zu essen.«

Kaum hat der Mann, der sich so intensiv für Petrankos Beziehung zu Kokoschansky interessierte, die Kantine verlassen, ruft er sofort Lackner an und teilt ihm mit, dass der ehemalige Chefinspektor im Haus ist. Merkwürdig, ausgerechnet an dem Tag, an dem Kokoschansky gewissermaßen das BKA öffentlich angeschwärzt hat, taucht der Busenfreund des Journalisten auf. Da wäre etwas im Busch, und er hoffe, dass Lackner sich daran erinnern wird, falls er einmal etwas brauche sollte.

»Frauenmord?«, fragt Petranko.

»Hast du nichts mitbekommen?« Erstaunte Gesichter in der Runde.

»Tja, so ist das mit einem Pensionisten. Da entgeht einem die Realität. Was ist passiert?«

»Irgendein durchgeknallter Perverser hat eine Frau zerstückelt«, erzählt Cench. »Teile von ihr sind in einer Mülltonne in Grinzing aufgetaucht. Ziemlich professionelle Arbeit. Bis jetzt haben wir einen Arm und die Beine. Der Rest ist noch nicht gefunden worden. Scheint sich um eine sehr junge Frau zu handeln. Bisher keinerlei Spuren, keine Tattoos, keine Narben, keine sichtbaren Verletzungen. Wir stehen am Beginn. Kann alles sein. Beziehungsdrama, Lustmord, keine Ahnung. In schwarze Müllsäcke gepackt und entsorgt wie einen Haufen Dreck. Ist eine Scheißwelt, in der wir leben.« Cench schnorrt sich eine Zigarette, macht ein paar tiefe Züge. »Komisch an dem Arm ist, dass der Ringfinger an der Hand gewaltsam gebrochen wurde. Vorher oder bereits, als sie schon tot war, steht noch nicht fest. Sieht so aus, als ob jemand ein Interesse hatte, einen Ring verschwinden zu lassen.«

»Du solltest mal mit mir in mein Büro kommen«, fordert Pressling seinen Kollegen Cench auf, »unter Umständen habe ich etwas für dich. Ich habe da so eine Idee.«

*

 

Eine Frage will und will nicht aus Kokoschanskys Kopf. Warum will ihn das BKA abschießen? Dass er mit Unterweltboss Saller gut bekannt ist, kann nicht der ausschlaggebende Grund sein. Das ist zu wenig. Saller kennen viele Leute. Er findet keine schlüssige Erklärung dafür. Eines bewirkt dieses Schlamassel auf jeden Fall. Sein alter Jagdinstinkt ist wieder entfacht, er will Lackners und Erharters Köpfe rollen sehen. Vorher wird Kokoschansky keine Ruhe geben. Wenn die Typen gefallen sind, wird sich klären, warum das BKA so scharf auf seine Person ist.

Kokoschansky hört im Radio, dass wieder Leichenteile gefunden wurden. Dieses Mal fand ein Wanderer in einem Waldstück in der Nähe des Cobenzls, nicht weit von Grinzing entfernt, weitere schwarze Müllsäcke, in denen der linke Arm und der Torso der toten Frau verborgen waren. Jetzt fehlt in diesem makabren Puzzle nur mehr der Kopf.

Kokoschansky beschließt, dass er schleunigst raus aus der Wohnung muss, sonst fällt ihm noch die Decke auf den Kopf. Er muss sich ablenken, auf andere Gedanken kommen, und dafür gibt es nichts Besseres als seinen kleinen Sohn. Lena ist in die Bundespolizeidirektion gefahren. Ihr Kündigungsschreiben liegt zerrissen im Papierkorb. Petranko hat sich auch noch nicht gemeldet. Ihm bleibt nur warten, und das will er nicht hier. Außerdem plagt ihn die Sehnsucht nach seinem Buben, den er ein paar Tage lang nicht mehr gesehen hat. Kurz entschlossen ruft er Sonja, seine Exfrau, an.

 

*

 

Krachend fliegt die Türe ins Schloss, dass es den Mann am zweiten Schreibtisch in diesem Büro vor Schreck beinahe aus seinem Stuhl fegt. Sein Kollege lässt einen Schwall von Flüchen los, drischt mit der Faust mehrmals auf die Tischplatte, dass die Kaffeetasse, zum Glück leer, zu tanzen beginnt.

»Das darf alles nicht wahr sein!«, tobt der BKA-Mann Adrian Konschak und wirft einen Packen Papiere auf seinen Tisch. »Monatelange Arbeit umsonst, für’n Arsch! Wie viele Nächte haben wir uns um die Ohren geschlagen, Hermann? Wie viele unbezahlte Überstunden haben wir dafür runtergerissen? Wie oft hast du deswegen mit deiner Frau gestritten? Von meiner rede ich erst gar nicht!« Erschöpft von seinem Wutausbruch lässt Konschak sich in seinen Stuhl fallen, greift mit zitternden Händen nach seiner Zigarettenschachtel, fasst ins Leere. Wieder knapp vor weiterem Ausrasten knüllt er die Packung zu einem Knäuel zusammen, schmeißt es quer durch den Raum.

»Da!« Hermann Pointinger wirft seine Zigaretten zum Kollegen hinüber. » Jetzt spuck aus, was los ist.«

»Es ist aus, vorbei«, antwortet Konschak wieder mit ruhigerer Stimme, »wir sind aus dem Rennen. Unsere Ermittlungen wurden abgedreht. Keine weiteren Abhöraktionen mehr.«

»Mach Witze!« Pointinger fällt der Kugelschreiber aus der Hand.

»Sehe ich so aus?«

»Wer?«

»Bortner hat Katterka angerufen. So einfach geht das. Und unser Oberzampano hat natürlich die Hosen gestrichen voll. Selbstverständlich spielt auch der U-Richter mit. Aber das ist klar, der will ins Oberlandesgericht wechseln, und Oberstaatsanwalt Bortner kann ihm dafür die Rutsche legen. Außerdem sind beide in der gleichen Partei. Ebenso wie unsere Justizministerin. Doch die ist zu blauäugig, die versteht einfach die Zusammenhänge nicht. Der geht es nur um ihr Amt, und die will möglichst eine ruhige Kugel schieben. Sie will nicht die gleichen Fehler begehen wie ihre Vorgängerin, die ebenso eine Blindgängerin war. Mit der Begründung, dass unsere Abhöraktionen teilweise nicht rechtlich gedeckt sind, und wegen angeblicher Formalfehler. Auch mein Argument, Gefahr in Verzug, fruchtete nichts. Wir haben einige Aktionen im Alleingang ohne Genehmigung durchgezogen, was richtig ist. Na und? Draußen laufen ein paar Drecksäcke herum, und wir sind zum Däumchendrehen verurteilt. Daher überlegt man, gegen uns Disziplinarverfahren einzuleiten. So läuft das in Österreich.«

»Scheiße«, presst Pointinger zwischen den Zähnen hervor, »mit anderen Worten – Midas, Sauslinger, Ährenbach, Nazeem al-Qatr und die gesamte Bagage können sich ins Fäustchen lachen. Sämtliche krummen Deals, Geschäfte, Absprachen, dieser gesamte Moloch im Zusammenhang mit der Estate Carinthia Bank werden unter den Teppich gekehrt. Und noch einer lacht dröhnend …«

»Ich weiß«, sagt Adrian Konschak leise, »der Strippenzieher in dieser Geschichte, der so plötzlich tödlich verunglückte Marius Höger. Der sitzt jetzt auf seiner Wolke …«

»… eher in einem Kessel in der Hölle.«

»Das glaube ich nicht. Der hat es sich bestimmt auch im Jenseits regeln können. Und eines, was noch viel schlimmer ist, wir beide wissen, dass Bortner Blut an seinen Händen hat, und wir dürfen nicht einschreiten. Ob er die Nutte nun im Testosteronrausch und, durch Viagra aufgeputscht, umgebracht hat oder es ihm«, dabei zeigt Konschak mit den Fingern das Zeichen für Gänsefüßchen, »nur passierte, ist unerheblich. Das Mädel ist tot. Die Justiz deckt unwissentlich einen Oberstaatsanwalt für eine Bluttat, selbst wenn es auf fahrlässige Tötung hinauslaufen würde. Und wir vom BKA hängen voll mit drin.«

»Weißt du, dass heute Leichenteile einer jungen Frau gefunden wurden?«

»Nein, weiß ich nicht.« Konschak sieht seinen Partner verwundert an. »Und? Was hat das mit unserem Fall zu tun?«

»Die ersten Teile dieser unbekannten Frau wurden zuerst in Grinzing gefunden und später weitere am Cobenzl. Klingelt es jetzt bei dir?«

Adrian Konschank presst die Hände vor den Mund und bläst die Luft zwischen den Fingern hindurch.

»In Grinzing wohnt auch Nazeem al-Qatr …«

»Da kann doch etwas nicht stimmen. Und KFM ist plötzlich wieder im Lande. Glaubst du an Zufälle? Ich nicht. Sollten wir Katterka nicht gemeinsam weichzuklopfen versuchen?«

»Das bringt überhaupt nichts«, wehrt Konschak ab. »Erstens, dieser Mann mit solch einem butterweichen Rückgrat ist für mich erledigt, und zweitens will Katterka nach den nächsten Nationalratswahlen Innenminister werden. Dafür tut er alles. Er will an Saller Rache nehmen, der ihm seinerzeit seinen Rauswurf aus der Polizei eingebrockt hatte, er dafür sogar vor Gericht stand und mühsam um seine Rehabilitation kämpfen musste. Er wird alles unterlassen, was ihn nochmals zwingen könnte, seinen Sessel erneut verlassen zu müssen.« Konschak steht auf, geht zu seinem Kollegen hinüber, beugt sich vor und flüstert: »Wir stehen zwar ab sofort in der zweiten Reihe, doch auch aus dieser Position kann man hervorragend feuern. Die Frage ist, ziehst du mit?«

»Dann laden wir durch.«

*

 

Nach und nach löst sich die Runde in der BKA-Kantine auf, Petranko bleibt alleine am Tisch zurück und beobachtet das ständige Kommen und Gehen. Der ehemalige Chefinspektor ist sicher, dass seine Anwesenheit im Haus längst bekannt ist, und sein Riecher sagt ihm, wem er das zu verdanken hat. Es wird sich die Gelegenheit ergeben, es dem Betreffenden heimzuzahlen.

Daher ändert er seinen ursprünglichen Plan. Petranko wollte eine befreundete Chemikerin für eine Vorab-DNA-Analyse bitten, doch jetzt wird er die Finger davon lassen und lieber die paar Kilometer ins Forschungszentrum Seibersdorf in der Nähe von Wien fahren, wo er ebenfalls einen Experten an der Hand hat.

Der pensionierte Kriminalbeamte lächelt still in sich hinein. Mit der nötigen Geduld erledigen manche Dinge sich von selbst. Gespielt gelangweilt blättert Petranko in einem der aufgelegten Polizeifachmagazine, und dennoch entgeht ihm nichts. Die siamesischen Zwillinge, wie sie bereits intern genannt werden, kommen herein und holen sich einen Kaffee. Lackner und Erharter nehmen mehrere Tische weiter von ihrem Exkollegen Platz und tun so, als würden sie ihn nicht bemerken. Dafür haben sie die Köpfe zusammengesteckt und tuscheln. Kaum fünf Minuten später haben sie bereits wieder ausgetrunken, stehen auf und verschwinden, ohne nicht vorher brav ihre Tassen auf die dafür vorgesehene Fläche für benutztes Geschirr zu stellen. Genau darauf lauert Petranko. Natürlich hat er sich ihre Tassen eingeprägt. Mit einer Papierserviette geschützt, lässt er die zwei Löffelchen mitgehen und steckt sie ein. Erster Teil der Mission erfüllt, auf nach Seibersdorf.

 

*

 

Wolfgang Presslings spontane Eingebung war goldrichtig. Der Ring passt auf den gebrochenen Finger, und die winzigen Blutspuren auf dem Schmuckstück sind eindeutig den bisher gefundenen Leichenteilen zuzuordnen. Die Gravur in kyrillischer Schrift war leicht zu entziffern und zu übersetzen: Galina, mein Herz. 27.3.2009. Zumindest ein erster Anhaltspunkt. Ob es sich tatsächlich um den Vornamen der Toten handelt, lässt sich derzeit nicht eruieren. Ebenso wenig, ob der Ring dem persönlichen Besitz der Frau zuzuordnen ist.

In der Gerichtsmedizin wird das Alter anhand der vorhandenen Teile auf achtzehn bis zwanzig Jahre geschätzt. Anhand der Leichenstarre ist sie vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden verstorben. Weder an den Extremitäten noch am Körper sind Verletzungen festzustellen, sie selbst muss kerngesund gewesen sein, keinerlei organische Auffälligkeiten oder Krankheiten. Das ergaben die ersten vorläufigen Untersuchungen.

Der Kopf wurde bisher noch nicht gefunden. Auch die Abnahme der Fingerprints und ein Vergleich in der Datenbank waren vergeblich gewesen. Die Frau ist in Österreich nicht straffällig geworden, zumindest ist sie den Behörden nicht aufgefallen. Tatsache bleibt, sie hatte vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr. In ihrer Vagina und auf den Oberschenkeln fanden sich Spermaspuren. Keine Spuren spezieller Sexualpraktiken, wie sie im SM-Bereich üblich sind.

Die Nationalität bleibt weiterhin ungewiss. Natürlich deutet einiges darauf hin, dass sie aus dem ehemaligen Ostblock stammen könnte, der weibliche Vorname ist allerdings kein schlüssiger Beweis. Ebenso gut kann sie Österreicherin oder Staatsbürgerin eines anderen Landes gewesen sein.

Die Tote war vollkommen nackt. An beiden Fundstellen und in den Müllsäcken konnten weder Kleidungsstücke noch andere eventuelle persönliche Gegenstände sichergestellt werden. Die einzigen Anhaltspunkte bisher bleiben der Ring und der Junkie.

Pressling und Cench sind überzeugt, dass er als Mörder nicht infrage kommt, ebenso wie sie einer Meinung sind, die Tote war mit hoher Wahrscheinlichkeit eine illegal eingeschleuste Nutte und ihr letzter Freier der Mörder.

Der Drogenabhängige war in seinem Dusel in Grinzing gelandet, dachte, hier wäre etwas zu holen, stöberte in der Mülltonne hinterm Supermarkt, stieß dabei auf den Leichenfund, entdeckte den Ring, brach den Finger, um den Schmuck zu stehlen, wollte diesen zu Heroin machen und flüchtete.

Der EGS-Fahnder will den Junkie suchen und ihn nochmals in die Mangel nehmen. Vielleicht hat er einen lichten Moment, kann sich erinnern und möglicherweise einen entscheidenden Hinweis liefern. Er möchte sich am liebsten selbst ohrfeigen, dass er ihn laufen ließ.

Der Junkie konnte sich tatsächlich Geld organisieren, setzte es sofort in Heroin um, verschwand in der Toilette der U-Bahnstation Taubstummengasse und setzte sich einen Schuss. Seinen Letzten. Vornübergebeugt, mit herabhängenden Armen, die Spritze noch in seinem Hals, weil es die einzige Stelle ist, wo sich noch eine brauchbare Vene befindet, sitzt er leblos auf der Muschel.

In ungefähr dreißig Minuten wird ihn ein Angestellter der Wiener Linien finden. Bei Durchsuchung der Leiche wird ein zerfledderter, zwei Wochen alter Überweisungsschein für das Wilheminenspital zum Vorschein kommen, wo er längst zu einem Entzug hätte erscheinen sollen. In seinen Ohren hängen noch die Hörer eines iPods. Vielleicht irgendwem gestohlen aus Wut über den abgenommenen Ring? Der letzte Song, den er hörte war Rehab von Amy Winehouse.

 

*

 

Kokoschansky gähnt herzhaft, während er seinen Sohn von der Bank aus, wo er sich hingelümmelt hat, beim Spielen beobachtet. Inzwischen ist es ein sehr langer Tag geworden, und der Journalist beschließt, egal, was noch passiert, sehr früh zu Bett zu gehen. Der Spielplatz ist nur ein paar Schritte von der Wohnung seiner Exfrau entfernt.

Ein kleines Mädchen will Günther seinen Platz auf der Schaukel streitig machen, doch sein Sohn kann sich durchsetzen. Kokoschansky versteht zwar nicht, was der Junge gesagt hat, doch es muss gewirkt haben, die Kleine verzieht sich schmollend und zeigt ihm die Zunge.

»Recht so, mein Sohn«, lächelt Kokoschansky, »nur nichts gefallen lassen. Tja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.«

Lena hat sich per Handy gemeldet und hat, wie nicht anders zu erwarten war, schwere Rüffel einstecken müssen. Ein Disziplinarverfahren bleibt ihr vorerst erspart, dafür wird sie für eine Zeit lang in eine Polizeiinspektion in einen Außenbezirk, nach Floridsdorf, strafversetzt. Sie schluckt es, behält sich aber innerlich vor, sobald diese Kokaingeschichte ausgestanden ist, danach die Uniform endgültig an den Nagel zu hängen.

»Papa!« Ziemlich verdreckt stiefelt Günther herbei. »Papa, kommt Lena auch?«

Der Junge hat Kokoschanskys Lebensgefährtin fest in sein kleines Herz geschlossen, und auch Lena ist von ihm sehr angetan.

»Nein, heute nicht«, sagt Kokoschansky. »Lena muss arbeiten.«

»Schade.«

»Wir sollten jetzt langsam nach Hause gehen. Es wird Zeit für das Abendessen. Sonst schimpft Mama mit uns.«

»Noch einmal schaukeln.«

»Na, ich weiß nicht.«

»Doch! Bitte!«

 »Aber wirklich nur kurz.«

»Ist gut! Und nachher gehen wir zu McDonalds.«

Kokoschansky schubst seinen Buben ein paar Mal auf der Schaukel, bevor er ihn endgültig mahnt, nun muss Schluss sein. Folgsam gibt er seinem Vater die Hand, und gemächlich traben sie heimwärts. Kurz wird McDonalds noch zum Thema, doch Kokoschansky bleibt standhaft, verspricht ihm dafür ein Superabendessen.

»Isst du mit uns, Papa?«

»Mal sehen, ich bin ziemlich müde.«

»Heute habe ich dich kurz im Fernsehen gesehen, aber Mama hat sofort auf ein anderes Programm geschaltet.«

Das war sehr weise, denkt Kokoschansky und will nicht näher darauf eingehen, doch da hat er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht.

»Warum warst du im Fernsehen?«, setzt der Kleine die Fragestunde fort.

»Das hatte etwas mit meinem Beruf zu tun«, antwortet Kokoschansky ausweichend, und es ist nicht einmal gelogen.

 

Er klingelt, und Sonja öffnet. Als sie die beiden sieht, schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen.

»Ihr schleppt mir ja die halbe Sandkiste in die Wohnung! Gleich mal die Schuhe ausziehen. Du auch, Koko.«

Der vielsagende Blick zwischen Vater und Sohn spricht Bände, doch sie gehorchen ohne Widerrede.

»Junger Mann«, ordnet die hübsche Frau in den Vierzigern an, »ab ins Bad mit dir. Deine Sachen kannst du gleich in die Wäschetruhe legen. Dann wirst du dich ordentlich waschen. Papa kann dir ja dabei helfen, während ich mich ums Essen kümmere. Isst du mit uns, Koko?«

»Was gibt es denn Gutes?«

»Nichts Besonderes. Pasta asciutta.«

»Mit Parmesan?«, fragt Günther, da dieses Essen zu seinen Leibgerichten zählt, obwohl er danach bestimmt wieder von oben bis unten gesäubert werden muss.

»Ja, du Dreckspatz«, lacht Sonja.

Kokoschansky merkt, dass er tatsächlich mächtigen Hunger verspürt.

»Gut, gerne.«

»Fein!« Günther hüpft vor Freude, seinen Papa doch noch ein Weilchen länger haben zu können.

»Dann macht einmal zivilisierte Menschen aus euch«, bestimmt Sonja, »ich bin in der Küche.«

 

Das Essen war vorzüglich, Kokoschansky räumte den Tisch ab, während Sonja den Jungen nachtfein machte. Natürlich musste der Vater noch eine Gute-Nacht-Geschichte aus dem Hut zaubern, sonst hätte sein Sohn ihn nicht aus dem süßen Kinderzimmer entlassen.

»Du siehst ziemlich groggy aus, Koko«, sagt Sonja und gießt ihm noch Orangensaft nach.

»Bin ich auch.«

»Wie wird diese Kokaingeschichte enden?«

»Das wüsste ich auch gerne. Doch ich bin zuversichtlich, dass ich die nötigen Beweise bald auf den Tisch knallen kann.«

»Die hast du noch gar nicht?«

»Nicht die, die ich gerne hätte, um die beiden Idioten endgültig fertigzumachen. Immerhin lege ich mich, auch wenn ich dort drinnen einige Freunde und Bekannte habe, mit dem gesamten BKA und in weiterer Folge mit dem Innenministerium an. Ich zermartere mir den Schädel, warum sie mich auf den Kieker haben könnten und komme auf keinen grünen Zweig. Im Grunde haben wir derzeit eine Pattsituation. Lena und ich wissen, dass es eben nicht so ist, wie die beiden behaupten. Somit Aussage gegen Aussage. Nur weil mir im Spital Saller begegnet ist, graben sie das Kriegsbeil aus? Das kann ich einfach nicht glauben. Und Lena ist ebenfalls tief drin verstrickt. Jetzt bekommt sie zu spüren, was einigen ihrer Vorgesetzten immer schon ein Dorn im Auge war. Dass sie mit einem Journalisten zusammenlebt, und das Imperium hat bereits zurückgeschlagen. Heute wurde sie in eine Floridsdorfer Polizeiinspektion versetzt. Genaueres weiß ich noch nicht, aber sie konnte es sich aussuchen. Freiwillige Versetzung«, Kokoschansky lacht gequält, »oder Disziplinarverfahren. Also entweder springen oder aufhängen. Dass sie jetzt unter ständiger Beobachtung steht, ist wohl klar, und jede ihrer Tätigkeiten und Amtshandlungen wird peinlich genau geprüft werden.«

»Wird sie das aushalten?«

»Weiß ich nicht, ich hoffe es. Ich bin in dieses Schlamassel geraten wie die Jungfrau zum Kind. Ich hatte überhaupt nicht vor, mich wieder in eine gefährliche Story einzulassen, und du weißt auch, warum.« Sonja zuckt nur leicht mit den Achseln und senkt ihren Blick. »Ich war einfach zur Unzeit am falschen Ort, aber den untergejubelten Koks kann ich mir nicht bieten lassen. Dagegen muss ich mich mit allen Mitteln wehren.« Er blickt auf die Uhr. »Na ja, ich werde jetzt gehen. Es ist schon spät. Danke für das leckere Essen.«

»Komm, eine rauchen wir noch zusammen«, fordert Sonja ihn auf, »wir haben schon längere Zeit nicht mehr richtig miteinander sprechen können. Lena wird das verstehen, auch wenn sie schon zu Hause sein sollte. Oder, noch besser, ruf sie einfach an, und sage ihr, dass du noch ein bisschen bei uns bleibst, okay?«

»Stimmt«, sagt Kokoschansky, »auf die paar Minuten kommt es auch nicht an.«

»Eine Dusche würde dir bestimmt guttun. Du kennst dich ja hier aus. Danach fühlst du dich bestimmt gleich um einiges besser.«

»Ja, da gebe ich dir recht. Das mache ich. Bin gleich wieder zurück.«

»Lass dir ruhig Zeit …« Sonjas hintergründiges Lächeln sieht Kokoschansky nicht mehr.

Der warme Wasserstrahl wirkt tatsächlich Wunder. Er stützt sich an den Fliesen ab, lässt minutenlang das Wasser nur über seinen Nacken rieseln. Dann dreht er die Hähne wieder zu, steigt vorsichtig aus der Kabine auf die Duschmatte, will nach einem Badetuch greifen und fühlt plötzliches flauschiges Frottee, dass sanft über seinen Rücken streicht. Abrupt dreht er sich um und sieht Sonja in einem beinahe durchsichtigen Nachthemd vor ihm stehen. In ihren Augen dieses lüsterne Glitzern, dass er nur allzu gut kennt.

»Was soll das, Sonja?«, fährt er sie an.

»Reg dich wieder ab, mein Lieber. Ich bin schließlich auch Krankenschwester und will wissen, ob sie dich im Krankenhaus richtig verarztet haben.« Kaum ausgesprochen, hat sie bereits sein Gemächt in der Hand, kniet vor ihm und nestelt an dem klatschnassen Verband herum. Ein Ruck, Kokoschansky verzieht für einen Moment sein Gesicht, und das dicke Pflaster ist ab. »Sehr schön«, meint Sonja und ihre Berührungen haben nicht im Geringsten etwas mit einer medizinischen Überprüfung zu tun, »sehr gut, gefällt mir ausgezeichnet.«

»Sonja, hör sofort auf! Bitte!« Er versucht, sie wegzudrängen, sich ihrem Griff zu entziehen, doch es gelingt ihm nicht. Das Gegenteil tritt ein. In ihren Händen erigiert sein Glied, und ihre Lippen stülpen sich über die Eichel.

»Was soll der Scheiß?«, flüstert Kokoschansky wütend, um Günther nicht zu wecken, brutal stößt er seine Exfrau von sich.

»Sieh dich doch an!«, keift sie. »Du stehst mit einem Ständer vor mir! Du willst es doch auch!«

»Sei leise«, fordert Kokoschansky sie auf, »du weckst noch den Buben. Es ist vorbei, Sonja, ein für allemal vorbei. Nein, ich will nicht mit dir ins Bett. Es geht einfach nicht, versteh das endlich!«

»Weißt du, wie lange ich keinen Mann mehr gehabt habe? Nach dieser verdammten Geschichte, die du mir eingebrockt hattest, konnte ich mit keinem Mann mehr ficken. Ich habe es versucht, es funktionierte nicht mehr. Ich kann nur mit einem Mann, dem ich auch vertraue, und das bist nun einmal du.« Sie steht auf, zieht sich blitzartig ihr Nachthemd über den Kopf. »Schau mich an! Bin ich nicht mehr begehrenswert? Das kannst du alles wieder haben. Ich habe kein Problem damit, wenn du mit Lena bumst, aber ich will, dass du es auch wieder mit mir treibst. Keine Sorge, das bleibt unter uns beiden. Sie wird nie davon erfahren. Und du wärst ein glücklicher Mann, weil du regelmäßig zwei Frauen beglücken kannst.« Sonja setzt sich auf die Waschmaschine, lehnt sich zurück an die Wand, spreizt weit ihre Beine. »Nimm mich endlich! Das bist du mir schuldig!«

»Ich bin dir gar nichts schuldig. Außer dass ich für dich und unseren Jungen sorge, so gut ich kann. Mehr nicht.«

»Oh doch, Koko, oh doch! Du bist mir das schuldig. Du warst schuld, dass ich meinen Sex auf Eis legen musste. Und den ich will wieder zurück. Und zwar jetzt! Sieh sie dir an! Sie ist gierig und heiß nach dir!«

»Das ist nicht einmal mehr billig, Sonja. Das ist nur mehr abgrundtiefe, abstoßende Scheiße.«

Angewidert und zornig schlüpft Kokoschansky halb nass in seine Klamotten, während Sonja zusammengekauert auf der Waschmaschine hockt und still in sich hinein weint.

Nachdem er fertig angezogen ist, kehrt er nochmals ins Badezimmer zurück.

»Hör mir zu, Sonja. Dieser Vorfall hat nie stattgefunden, und ich will, dass es auch nie mehr passiert. Wir vergessen es einfach und verlieren kein Wort mehr darüber.«

Sonja blickt aus tränenverschleierten Augen zu ihm hoch.

»Es tut mir leid, ich wollte das nicht. Irgendetwas in mir ist durchgegangen. Verzeih mir …«

»Schon gut«, klingt nun auch Kokoschansky wieder versöhnlicher, haucht ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, verlässt die Wohnung und verschwindet im Dunkel der Nacht.

 

*

 

»Wo ist der Kopf? Was habt ihr damit gemacht?«

Nazeem al-Qatr schreitet wie ein Feldherr vor seiner Truppe mit auf dem Rücken verschränkten Händen in seinem prächtigen Burnus auf und ab, während die beiden Kleiderschränke vor ihm in ihren dunklen Anzügen überhaupt nicht mehr Furcht einflößend wirken.

»Wir«, stottert der Kleinere der beiden auf Arabisch, »wir haben den Kopf der Nutte in eine Tasche gepackt, sind damit zu einer Brücke gefahren, haben vorher noch Steine dazugepackt und dann in diesen Fluss geworfen.«

»Welchen Fluss?«

Nazeem al-Qatr will es genau wissen.

»Dieser große Fluss, der durch diese Stadt fließt.«

»Donau«, belehrt ihn Nazeem al-Qatr und lässt im gleichen Augenblick eine Lawine an arabischen Flüchen vom Stapel, die nichts Gutes verheißen. »Und warum habt ihr das nicht auch mit den anderen Körperteilen dieser verdammten Nutte getan, ihr verblödeten Ausgeburten der Hölle, Söhne von verhurten Müttern? Weil ihr ungebildete Idioten und Analphabeten seid, könnt ihr auch keine Nachrichten sehen. Im Fernsehen haben sie gerade verlautbart, dass man eine zerstückelte Frau gefunden hat, allerdings noch ohne Kopf. Jedes Kamel hat mehr Hirn im Schädel als ihr zusammen in euren Köpfen. Ihr seid nur stinkfaul, werdet von mir fürstlich bezahlt, führt ein Leben wie Scheichs, und was bekomme ich von euch dafür? Probleme!«

Nazeem al-Qatr bleibt vor ihnen stehen, fasst sie an den Schultern. »Habe ich euch nicht immer wie meine eigenen Brüder behandelt? Habe ich nicht immer alles mit euch geteilt? Rashid, wo wärst du heute ohne mich? Noch immer ein kleiner Straßenverkäufer in Kairo. Und du, Khaled? Du würdest weiterhin in deinem Nomadenzelt in der Libyschen Wüste sitzen und Datteln zählen. Ist das euer Dank? Ich habe dafür gesorgt, dass ihr nicht mehr Dreck fressen müsst, keinen Sand mehr zwischen den Zähnen habt, euch mit Kaviar, Hummer und anderen Köstlichkeiten, die uns Allah beschert, vollstopfen könnt. Nein, ihr müsst diese Hure unbedingt in unmittelbarer Nähe meines Hauses entsorgen! Warum ihr nicht ihren Kopf auch in eine Mülltonne geworfen habt, ist mir ein Rätsel. Aber immerhin scheint ihr doch noch zu denken begonnen zu haben. Zwar ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch der auftauchen wird, aber je länger er im Wasser treibt, desto schwieriger wird für die Gerichtsmediziner eine Rekonstruktion ihres wahren Aussehens werden. Ich habe für vieles Verständnis, könnte sogar über eure Dummheit und Faulheit hinwegsehen, aber euch ist ein unverzeihlicher Fehler unterlaufen. Im Fernsehen zeigten sie einen Ring der Hure, und darin ist eingraviert Galina, mein Herz. 27.3.2009. Irgendwo wird es jemanden geben, der diesen Ring gekauft hat, die Gravur in Auftrag gab und unserer Galina, mit der wir so viel Spaß hatten, schenkte. Leider habt ihr diesen Ring übersehen. Somit hat die Polizei einen ersten Anhaltspunkt, an dem sie ihre Ermittlungen aufhängen wird. Vielleicht meldet der Juwelier sich, bei dem der Ring gekauft wurde? Vielleicht gibt es einen Mann, der sich mit Galina vergnügte und sich an den Schmuck erinnert? Versteht ihr Hohlköpfe jetzt, warum ihr mir massive Schwierigkeiten bereitet? Ihr könnt von Glück reden, dass es nicht mein Vater erfahren wird, was ihr seinem Lieblingssohn angetan habt. Er würde euch sofort zurückbeordern und ins Gefängnis werfen. Ich gäbe euch keine Woche, dass ihr dort überlebt. Ihr kennt unsere Foltermethoden. Würdet ihr nicht freiwillig zurückkehren, dann käme ein Killerkommando, spürt euch auf und stellt mit euch das Gleiche an, wie wenn ihr zu Hause wärt. Lassen wir den Konjunktiv. Kommt mal mit.«

Nazeem al-Qatr treibt seine beiden Handlanger vor sich her in den Keller der Villa, öffnet eine Türe und führt sie auf eine große Baustelle in einem hallenartigen Raum.

»Ach, wird das schön, wenn erst meine neue Schwimmhalle fertig ist«, kommt der Araber ins Schwärmen, »alles im maurischen Stil mit Lüstern, Öllampen und allem, was gut und teuer ist. Dann werden die Orgien noch viel mehr Spaß machen. Frauen werden hier nur vollständig nackt Zutritt erhalten. Seht ihr diese riesige Grube? Das wird das Schwimmbecken. In der Mitte ein wunderbarer Springbrunnen mit Fontänen und wechselnden Lichtspielen. Schaut mal dorthin, ja, hier zur Mitte, wo bald der Brunnen stehen wird. Seht ihr die Grube? Das wird euer Grab sein. Bin ich nicht gnädig zu euch? Rashid und Khaled, ihr habt es euch selbst zuzuschreiben.«

Nazeem al-Qatr tritt ein paar Schritte zurück. Aus dem Dunkel treten zwei schwarz gekleidete Männer hinter einem Baugerüst hervor und eröffnen das Feuer auf die Todgeweihten aus schallgedämpften Pistolen.

»Werft sie in die Blechwannen, verlötet mir gut die Deckel und ab in die Grube. Spart nicht mit dem Beton. Allah sei ihrer Seelen gnädig.«

Der Araber geht zurück in sein Büro, wählt von einem abhörsicheren Telefon eine Nummer.

»Salam, KFM. Wir müssen dringend reden.«