In der Wohnung sieht es grauenvoll aus. Möbel sind verrückt, einige Sessel sind umgefallen, zwei Gläser und eine Tasse zu Bruch gegangen, der Boden ist übersät mit allen möglichen Dingen, das totale Chaos. Es gibt keinen Raum, in dem Kokoschansky und Lena es nicht getrieben haben.
Am späteren Vormittag weckt ein Geräusch den Journalisten aus tiefem und traumlosem Schlaf, das laut und nervend ist, sodass er eine Weile braucht, um zu registrieren, was es eigentlich ist. Er greift sich an seinen Kopf und kapiert, es ist die verfluchte Türklingel.
Erst nach einigen Augenblicken bemerkt er, dass er nicht in seinem Bett, sondern nackt auf der Couch im Wohnzimmer liegt. Wieder schellt es eindringlich.
»Ja, doch!«, keift er wütend. »Ich komme schon!«
Wo ist Lena! Mit bloßen Füßen tapst er durch den Raum, kann im letzten Moment verhindern, in ein paar Scherben zu treten, findet seinen Bademantel, zieht ihn über, torkelt mehr, als er geht, in den Flur, blickt durch den Spion, und die Realität holt ihn wieder ein. Draußen wartet ein DHL-Bote und bringt ihm sein Paket.
Kokoschansky schließt auf, brummt etwas wie Guten Morgen, während er argwöhnisch gemustert wird, was wiederum dem Journalisten völlig entgeht. Endlich ist die heiße Fracht eingetroffen, die er bereits sehnsüchtig erwartet hat. Er quittiert den Empfang, und der DHL-Mann legt noch oben auf das Paket ein Kuvert und meint, es wäre im Türspalt gesteckt. Kokoschansky bedankt sich, stellt das Paket im Flur ab und reißt den unadressierten Umschlag, selbstverständlich auch ohne Absender, auf. Er muss grinsen. Wieder einer dieser feigen Mieter, der sich über diesen unerträglichen Lustlärm, wie er es formuliert, bitter beschwert.
»Wichser«, knurrt Kokoschansky, »blöde anonyme Briefe schreiben kannst du. Warum hast du nicht die Bullen gerufen, wenn es dir zu laut war?« Er knüllt den Wisch zusammen und will gerade die Türe hinter sich schließen, als der Politologiestudent aus dem fünften Stockwerk die Treppen heruntereilt, freundlich grüßt und dabei mit hinterhältigem, anerkennendem Gesichtsausdruck den Daumen in die Höhe reckt. Kokoschansky hebt die Hand zum Gruß, verschwindet in der Wohnung und sucht das Badezimmer auf. Sein Spiegelbild versetzt ihm einen leichten Schock. Überall im Gesicht Kratzer und als er den Bademantel auszieht, sieht sein Körper auch nicht besser aus. Wie nach einem Kampf mit einem Raubtier. Nun, Lena gebärdete sich auch wie eine Wildkatze. Was für eine unvergessliche Nacht!
»Was war denn los?«
Während er seine lädierten Stellen näher untersucht, ist Lena schlaftrunken ins Bad geschlichen. Ebenfalls nackt wie Kokoschansky und auch um nichts besser aussehend.
»Was war denn los?«, wiederholt Lena ihre Frage.
»Ein Paket ist für mich gekommen.«
»Heute, am Sonntag?«
»DHL.«
»Und was?«
»Kleines Mitbringsel aus Montenegro.«
»Für mich?«
»Nein, mein Schatz. Leider nein. Ich zeige es dir später.« Kokoschansky betrachtet ihren geschundenen Po. »Hast du keine Schmerzen?«
»Ein bisschen, doch ich brauche das. Das weiß ich schon länger, habe mich aber nicht getraut, es dir zu sagen. Oder hat es dir nicht gefallen?« Dabei schmiegt sie sich zärtlich an ihn.
»Doch. Von Minute zu Minute mehr. Aber wenn wir danach jedes Mal so ramponiert aussehen? Und ein bisschen leiser müssen wir auch sein, sonst fliegen wir wirklich noch hier raus.«
»Wieso?«
»Weil sich einer oder mehrere unserer feigen Mieter wieder einmal anonym per Brieflein beschwert haben.«
»Ach, die sollen uns doch alle mal …«
»Wir sollten jetzt den Saustall aufräumen. In der Wohnung sieht es aus, als ob eine Granate eingeschlagen hätte. Und danach wartet ein Haufen Arbeit auf mich, und du kannst gerne daran teilhaben.«
*
Nachdem das Chaos wieder geordnet worden war und nach einem ausgiebigen, herzhaften Frühstück erzählte Kokoschansky ausführlich seine Erlebnisse. Nun sitzen sie vor dem Computer, er überspielt seine selbst geschossenen Handyfotos auf eine externe Festplatte. Gebannt starrt Lena auf den Monitor, kann nicht fassen, was vor ihren Augen abläuft.
»Wir packen das ganze Zeug ins Auto und dann nichts wie ab damit zu Mitnick«, beschließt Kokoschansky, »dort ist der Kram sicher. Ich bin überzeugt, dass über kurz oder lang wieder Erharter und sein Kumpel bei uns antanzen und Terror machen. Nicht zufällig hat der Arsch mich am Flughafen abgepasst. Ich möchte nur zu gerne wissen, wer ihm das mit Montenegro gesteckt hat. Schalt doch mal den Fernseher an, ich will wissen, was über das Massaker berichtet wird.«
Im ORF-Teletext ist das Gemetzel nur im unteren Drittel der Meldungen mit ein paar dürren Sätzen berücksichtigt, und von einer großen Zahl Toten ist die Rede, jedoch ohne genauere Angaben. CNN hat einen Korrespondenten vor Ort, der genau von dem Haupteingang zu Salvatore Madeos Anwesen steht, durch den Kokoschansky wenige Stunden zuvor durchgefahren ist.
Hinter den Absperrungen wimmelt es von einheimischen Polizisten und Kriminalbeamten. Kokoschansky zappt sich weiter durch, bis er bei n-tv landet. Auch hier spricht gerade eine Reporterin in die Kamera, schildert kurz die Lage. Dass ein Massaker stattgefunden hat und der Besitzer dieser weitläufigen Anlage, Salvatore Madeo, und seine Familie ausgerottet wurden. Der Italiener aus Reggio Calabria ist `Ndrangheta-Mitglied und Oberhaupt der Nammoliti-Familie, die auch in Deutschland, besonders im Großraum München, sehr umtriebig ist. Die Journalistin spricht von einer Mafiafehde, ohne wirklich Genaueres zu wissen. In der Person des anscheinend aus Südamerika stammenden Mannes in Kampfmontur, der vor Kokoschanskys Augen verstarb und noch die Worte El Chapo flüsterte, sieht die Kollegin zwar folgerichtig ein mutmaßliches Mitglied des Killerkommandos, doch damit hat es sich auch. Über Robert Saller und den erstochenen Branko Daramcić fällt kein Wort, weil sie das nicht wissen kann. Die Interviews mit einigen hochrangigen montenegrinischen Polizeioffizieren sind Nullnummern. Die Ermittlungen laufen erst an. Aber die Journalistin vergisst nicht zu erwähnen, dass die Behörden über den Europanotruf von einer unbekannten, Englisch sprechenden Männerstimme informiert wurden. Mehr ist nicht bekannt. Der Anruf konnte von einer Telefonzelle im Flughafen Podgorica geortet werden. Kokoschansky ist beruhigt. Er hat genug gesehen und gehört.
*
Sonja hat sich die hinterste Loge in dem Kaffeehaus ausgesucht, wie es ihr aufgetragen wurde. Der Platz ist schwer einsehbar von den übrigen Tischen, daher bestens für Liebespaare, für außereheliche Techtelmechtel und für konspirative Treffen geeignet. Das Café ist nur mäßig besucht. Nervös blickt sie auf ihre Uhr. Sie ist pünktlich, er wieder einmal nicht, doch daran hat sie sich inzwischen gewöhnt.
Die Frau zuckt zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legt. Der Mann haucht ihr einen Kuss auf die Wange und zwängt sich in die Loge. Er hat den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen und trägt eine verspiegelte Sonnenbrille, die nicht einmal fehl am Platze ist, draußen ist herrlicher Altweibersommer. Erst nach der Bestellung seines Kaffees nimmt er die Brille ab, rutscht näher zu Sonja und ist darauf bedacht, dass sein Gesicht so wenig wie möglich von anderen gesehen wird. Aus gutem Grund, sein Konterfei in Zusammenhang mit seinem Beruf kam in den letzten Tagen in den Medien nicht sehr gut weg.
»Und«, fragt der suspendierte BKA-Mann Erharter, »hast du deinen Ex aufs Kreuz legen können?«
»Nein, leider ist es mir nicht gelungen, obwohl ich alle meine Register gezogen habe. Er hat mich zurückgewiesen. Ich habe es gewusst, aber du wolltest mir nicht glauben. Koko ist noch immer viel zu sehr in Lena verknallt. Ich habe keine Ahnung, was er an diesem Flittchen findet. Was hat sie, was ich nicht habe?«
Erharter behält lieber für sich, was er denkt. Sie ist um einiges jünger, besitzt einen jugendlichen Körper, und darauf fahren ältere Männer nun einmal voll ab. »Somit hast du auch keine brauchbaren Informationen für mich.« Sonja verneint.
»Scheiße«, flucht Erharter leise vor sich hin, »du hast auch nicht gewusst, dass er sich in Montenegro herumgetrieben hat.«
»Nicht den blassesten Schimmer, sonst hätte ich es dir doch erzählt.«
»Ich weiß, Süße. Zum Glück verfüge ich noch über ein paar Freunde, denen Kokoschansky ebenfalls ein Dorn im Auge ist. Der Kerl wird mir nicht zu groß. Das haben schon ganz andere versucht. Momentan soll er sich über seinen Pyrrhussieg ruhig freuen, doch es wird ihn noch teuer zu stehen kommen.«
»Ich habe in den Nachrichten gesehen, dass in Montenegro irgendein furchtbares Massaker passiert sein soll. Angeblich eine Mafiageschichte«, erzählt Sonja, »schon merkwürdig, dass es genau zu dem Zeitpunkt geschehen ist, als Koko sich in dem Land aufgehalten hat. Denkst du, er ist darin verwickelt?«
»Was weiß ich?« Erharter zuckt mit den Schultern. »Wie soll ich erahnen, was im Hirn deines Exalten vor sich geht? Fakt ist, er muss weg. Er ist eine permanente Gefahr. Es gibt Dinge, an denen rührt man nicht in diesem Land. Das erzeugt nur unnötige Unruhe, wiegelt die Leute auf und bringt nichts. Das hat er immer noch nicht kapiert.«
»Ich hoffe, es gelingt dir, ihm einen Denkzettel zu verpassen, dass er nicht mehr auf die Füße kommt.«
Der Hass in Sonjas Worten ist nicht zu überhören, bleibt auch Erharter nicht verborgen.
»Aber er ist doch der Vater deines Jungen?«
»Na und!«, ereifert Sonja sich abermals. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Zugegeben, er kümmert sich rührend um den Buben, wenn er mit ihm zusammen ist. Doch dann schleicht er sich wieder, vergnügt sich mit seiner Schlampe, und an mir bleibt wieder alles hängen. Diesem Miststück ist Koko vollkommen hörig.«
»Also liebst du ihn noch immer …«
»Das war einmal und ist lange vorbei. Jetzt soll er nur mehr dafür büßen, was er mir angetan hat.«
»Und eventuelle Auswirkungen auf euren Sohn kümmern dich nicht?«
»Ach, Kinder vergessen schnell. Das ist nicht das Problem. Diese verfluchte Lena ist es. Natürlich versteht sie ihn und seinen Scheißberuf, was ich selbstverständlich nie konnte. Sie kann sich mit dem, was er tut, sagt er, völlig identifizieren. Kannst du nicht etwas gegen sie unternehmen? Sie anschwärzen, madig machen, ihr etwas anhängen? Immerhin bumst sie als Polizistin mit einem Journalisten.«
»Das ist nicht verboten, Sonja. Du vergisst, ich bin suspendiert.«
»Und? Du hast doch Freunde und Verbindungen. Das hast du vorhin selbst gesagt.«
»Die nützen mir gar nichts, die gute Lena ist ausgestiegen, wie ich inzwischen erfahren habe.«
»Was?«
»Sie hat gekündigt, die Uniform ausgezogen. Da geht nichts mehr.«
»Dieses Luder!« Zornig saugt Sonja am Filter ihrer Zigarette und wird plötzlich nachdenklich. »Und du meinst es wirklich ernst mit mir? Ich bin zweimal schwer eingefahren. Zuerst mit Koko, dann mit diesem Arzt, der sich als gefährlicher Neonazi entpuppte. Koko bekam davon Wind und bevor ich mich versah, fand ich mich in einer Geschichte wieder, die mich beinahe das Leben gekostet hat. Alles nur deshalb, weil Koko seine Schnüffelei nicht lassen konnte. Den Rest kennst du ja.«
»Ich weiß, Liebes. Zweifelst du an mir?«
»Ich bin schon zu oft enttäuscht worden. Ich möchte endlich auch mein Zipfelchen vom Glück, das mir zusteht.«
Die sonst so bodenständige und erdige Sonja ist auf ihrer Suche nach Liebe in die Falle getappt und ahnt nicht im Geringsten, dass sie von Erharter nur als Köder benutzt wird, um Kokoschansky zu Fall zu bringen. Sie lernte den suspendierten Kriminalbeamten vor einigen Monaten als Patienten im Krankenhaus kennen, als er sich für einige Tage wegen seiner Magenprobleme auf ihrer Station behandeln ließ.
Nun bangt sie, dass Erharter sie fallen lässt, da sie ihn enttäuscht hat, ihm nicht helfen konnte, weil Kokoschansky ihren Verführungskünsten nicht erlegen ist. Tief in ihrem Herzen ist sie überzeugt, dass Erharter ihr bei günstiger Gelegenheit den Laufpass geben wird. Dann weiß sie, was sie tun wird.
*
Manchmal ist Kokoschansky schwer im Zweifel, ob sein Hackerspezi Mitnick tatsächlich ein Mensch aus Fleisch und Blut ist oder ein mutierter Computer. Wann schläft dieser Freak? Wann immer man diesen Typen anruft, ist er erreichbar und voll beschäftigt.
Der Journalist stellt den Karton auf einer der wenigen freien Flächen ab, die nicht mit PC-Kram verstellt ist.
Kokoschansky rümpft die Nase. Wie immer hängt süßlicher Geruch in der Luft. Mitnick ist erklärter Kiffer und trägt seine Gesinnung offen zur Schau, indem er ein T-Shirt mit dem Aufdruck Dope For The Pope trägt. Wieder einmal scheint er eine Nacht durchgeackert zu haben. Dementsprechend ramponiert präsentiert sich sein Äußeres, doch auf gepflegtes Aussehen hat Mitnick noch nie Wert gelegt. Auch seine Laune lässt zu wünschen übrig.
»Wohnung verloren? Zieht ihr jetzt bei mir ein?«, deutet er mit saurer Miene auf die Riesenschachtel.
»Kein Bange«, beruhigt Kokoschansky ihn, »da drin befindet sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Sprengstoff.«
»Und ich soll der Sprengmeister sein, du spielst die Zündschnur, und Lena läuft uns den Vorsprung heraus, wenn es wieder einmal eng wird.« Mitnick steht gemächlich auf, schlurft um den Karton herum wie eine Katze um den heißen Brei.
»So ungefähr«, bestätigt Kokoschansky grinsend.
»Was springt für mich dabei heraus?«
»Hm, sagen wir, bei Erfolg ein dementsprechendes Honorar, außerdem Ruhm und Ehre. Im worst case einen Haufen Probleme.«
Mitnick dreht sich genüsslich eine Zigarette. »Tolle Aussichten und dazu eine unbekannte Scheißgage. Mann, ich muss verrückt sein. Ich gehöre wirklich in die Klapse. Jedes Mal lasse ich mich mit dir auf solche Deals ein. Mit dir bin ich noch nie reich geworden. Warum sollte es plötzlich anders sein? Wird es spannend?«
»Ist es bereits, wie ich inzwischen herausbekommen habe.«
»Du weißt genau, wo meine Achillesferse ist. Was steckt dahinter? Wem pinkelst du dieses Mal ans Bein?« Mitnicks anfänglich miese Stimmung bessert sich zusehends.
»Immer mit der Ruhe«, bremst Kokoschansky ihn ein, »das Zeug muss ich bei dir lagern. Bei mir zu Hause ist es zu gefährlich. Bei uns können jeden Augenblick die Bullen antanzen und die Bude auf den Kopf stellen.«
»Ja klar. Was bleibt mir sonst anderes übrig.«
»Dann sind wir uns wieder einmal einig.«
»Sieht ganz danach aus. In welche PCs soll ich mich reinhängen?« Mitnick lässt sich in seinen Kippstuhl hinter seinem riesigen Schreibtisch plumpsen, wo auf drei nebeneinanderstehenden Monitoren unterschiedliche Zahlen- und Buchstabenkombinationen in rasender Geschwindigkeit rattern, lagert seine Beine hoch und verschränkt die Arme im Nacken. »Kurzfassung, du bist wieder in Teufels Küche gelandet. Zuerst der untergejubelte Koks, und jetzt scheint es erst richtig loszugehen.«
Plötzlich wird er sehr ernst. »Was passiert, wenn das Material in deiner Wunderkiste sich als Flop erweist? Und du, Koko, auf die Schnauze fällst?«
»Dann«, Kokoschansky räuspert sich, »trage ich die volle Verantwortung mit allen Konsequenzen. Ich werde dann wohl sehr alt aussehen und habe den Arsch offen.«
»Nun«, in Mitnicks Augen kehrt sofort wieder der für ihn typische Schalk zurück, »Ersteres trifft bereits zu, und das andere will ich mir gar nicht vorstellen. Das ist also dein Plan A.«
»Ja.«
»Und wie sieht Plan B aus?«
»Den überlege ich mir, wenn es notwendig wird.«
»Du alter Hasardeur! Wie fangen wir mit der Nummer an?«
Kokoschansky zieht sich einen Stuhl herbei, setzt sich rittlings darauf. »Jetzt hört mal beide sehr gut zu. Ich habe schon seit längerer Zeit einen Plan, von dem du auch noch nichts weißt, Lena … Kokoschanskys Quartett. Vier Personen werden einiges in diesem Land aufmischen und ans Tageslicht bringen. Du als Profihacker, Lena und ich als Ermittler, wobei ich mit Freitag auch den journalistischen Part übernehme.«
»Bis hierher kann ich dir folgen«, Mitnick ist ganz Ohr, »aber was soll das mit Freitag?«
Kokoschansky erklärt ihm in knappen Worten, wer sein nigerianischer Freund ist und was es mit dessen Internetplattform FNews auf sich hat.
»Ich kapiere«, Mitnick kratzt sich nachdenklich am unrasierten Kinn, »ihr plant etwas in der Art wie WikiLeaks.«
»Im weitesten Sinne ja«, gibt Kokoschansky ihm recht, »doch anders. Schließlich ist Julian Assange mit seinem Projekt fürchterlich gescheitert. Ich möchte nicht wahllos geheime Dokumente ins Netz stellen. Ich konzentriere mich auf eine einzige Geschichte mit allen ihren Nebenschauplätzen und was sich in Folge noch daraus entwickeln kann. Nicht mehr und nicht weniger. FNews soll mit dieser Story zu einem eigenständigen Infoportal im Netz werden. Wir publizieren genau das, was die Medien im beschaulichen Österreich sich nicht zu veröffentlichen getrauen. Sobald unsere Informationen für jedermann weltweit im Internet abrufbar sind, können unsere Medien sich getrost darüber trauen und es verwerten. Schließlich ist FNews die Quelle, auf die sie sich berufen können. Dann sind wir die Bösen und nicht sie. Das ist nicht neu, aber dieser Trick funktioniert.«
»Stimmt«, Mitnick ist rundum zufrieden, »das ist eine verdammt heiße Kiste und genau meins. Doch wie sieht es mit der Finanzierung aus?«
»Dafür stehe ich am Beginn gerade. Das wird nicht allzu viel kosten. Wenn du Auslagen hast, bekommst du die von mir ersetzt. Aber du wirst wohl nicht nach draußen gehen, sondern hier wie immer vor deinen Computern hocken und auf Teufel komm raus in der virtuellen Welt herumsurfen. Ich bin überzeugt, wenn die ersten Treffer gelandet sind, bekommen wir Unterstützung von außen. Seien es Informationen oder Bares. Genau so, wie ursprünglich WikiLeaks gearbeitet hat. Ich kupfere das einfach ab. Viele Leute in diesem Land sind von den Zuständen der letzten Jahre dermaßen frustriert, dass sie nach ungefilterter Berichterstattung gierig sind, und deshalb rechne ich auch später mit entsprechender Hilfe.«
»Kommt drauf an, was wir bieten können«, Mitnick nimmt einen langen Schluck aus einer Fruchtwasserflasche, unterdrückt galanterweise, da eine Frau im Raum ist, einen mächtigen Rülpser, »sag endlich, welche Story hast du am Haken?«
»ECB«, Kokoschansky lässt die Katze aus dem Sack. »Die Vorgänge in und um die Estate Carinthia Bank.«
»Oh, das ist mehr als ein abendfüllendes Programm«, Mitnicks Mund verzieht sich zu einem breiten Grinsen. »Hast du Kurt-Friedrich Midas endlich an den Eiern? Die ECB birgt sicherlich viele ungeahnte Geheimnisse, und wir holen den Dreck unter dem Teppich hervor. Ziemlich große Schuhe, aber zu viert passen wir sicherlich hinein. Also, wann legen wir los?« Mitnick strotzt vor Tatendrang.
»Zuerst muss Freitags Seite dermaßen abgesichert sein, dass kein Hacker sie lahmlegen kann und es bei eventueller Ortung des Servers keinen Zugriff darauf geben darf. Irgendwo in der Karibik, in der Ukraine, im tiefsten Sibirien. Gibt es nicht auch Software, die permanent die IP-Adresse ändert?«
»Willst du Eulen nach Athen tragen oder was?« Mitnick ist sichtlich in seiner Hackerehre gekränkt. »Das gehört wohl zum Einmaleins meines Jobs. Was glaubst du, was ich Tag und Nacht mache?«
»Entschuldigung, so habe ich es nicht gemeint.«
»Schon gut, du Computer-Neandertaler. Wo muss ich überall rein?« Mitnick greift nach einem Notizblock und gibt sich gleich selbst die erste Antwort. »Kurt-Friedrich Midas, nehme ich an.«
»Genau. Die Staatsanwaltschaft in Kärnten und Wien; ein paar Banken in Vaduz; Firmengeflechte in Zug in der Schweiz; Marius Höger …«
»Meinst du den Landeshauptmann, der sich vor einigen Jahren mit seinem Auto zerlegt hat?« Kokoschansky nickt. »Du weißt schon, dass es im Jenseits keine Laptops und PCs gibt.«
»Bist du dir da so sicher? Nein, Spaß beiseite. Seine Witwe, seine Angehörigen werden sich sicherlich den modernen Zeiten nicht verschlossen haben. Wer weiß, vielleicht findet sich etwas? Natürlich sämtliche Witzfiguren um Midas wie Sigmund Sauslinger, Gilbert Ährenbach. Auch bei Lukas Bortner, jenem Oberstaatsanwalt, der sich plötzlich aus heiterem Himmel erschossen hat. Da stinkt etwas gewaltig. Selbstverständlich bei Edmund Katterka, dem BKA-Chef und bei meinen besonderen Lieblingen Erharter und Lackner. Nicht zu vergessen Robert Saller alias Ratko Perković …«
»Ist das nicht der Unterweltboss, den du angeblich gedeckt hast, und damit deine Scheiße angefangen hat?«
»Richtig geraten.«
»Du hast einen Tipp bekommen.«
»Hab ich.«
»Und?« Mitnick lässt nicht locker.
»Ich habe ihn angerufen«, sagt Lena, »wenn wir zusammenarbeiten, dann von Beginn an mit offenen Karten.«
Mitnick lächelt und zeigt ihr den aufgerichteten Daumen zum Zeichen des Einverständnisses.
»Ach, Scheiße, tut mir leid«, gibt Kokoschansky sich kleinlaut.
»Vergiss es, Koko. Ist doch klar, dass du dein Mädchen schützen willst. Mehr will ich auch gar nicht wissen. Wer noch?«
»Hermann Honsa kann nicht schaden. Auch eine große Unterweltnummer.«
»Super!«, Mitnick fetzt mit einer fürchterlichen Klaue die Namen auf das Papier. »Du lässt wirklich nichts anbrennen. Hast du noch wen in petto?«
»Zwei Personen habe ich noch«, setzt Kokoschansky fort, »Branko Daramcić, ein ehemaliger kroatischer General. Inzwischen etwas sehr tot. Und zum Schluss noch Salvatore Madeo …«
»Moment«, unterbricht Mitnick, »bevor ihr aufgekreuzt seid, habe ich Nachrichten geguckt. Das ist doch der Spaghetti, den sie in Montenegro mitsamt seiner Mischpoche liquidiert haben!«
»Ja«, antwortet Kokoschansky emotionslos, als würden sie übers Wetter sprechen, »und ich war dabei.«
»Was?« Mitnick sitzt kerzengerade in seinem Stuhl und sieht Kokoschansky an, als wäre er der Killer persönlich.
»Ich war in seinem Haus, als es passierte. Der Karton stammt von dort.«
Mitnick wirft Stift und Notizblock auf den Tisch, hält sich die Hände vor den Mund, schnauft tief, reibt die Handflächen gegeneinander, blickt zuerst den Journalisten, dann Lena an. »Ehrlich, Leute. Ist das nicht doch für uns um einige Nummern zu groß?« Lena zuckt nur mit den Achseln. Sekundenlang sehen sich die beiden Männer tief in die Augen.
»Ich habe dort unten die pure Grausamkeit gesehen und erlebt«, sagt Kokoschansky leise, »ich werde dir dann ein paar Fotos zeigen. Vielleicht verstehst du mich dann. Aber ich bin dir auch nicht böse, wenn du aussteigen willst.«
Mitnick gönnt sich abermals einige Minuten Bedenkzeit, stiert dabei auf seine Monitore, auf denen noch immer die unterschiedlichsten Kombinationen hin- und herflitzen. Plötzlich schlägt er mit der Faust auf die Armlehne seines Stuhls. »Scheiß drauf! Wer A sagt, muss auch B sagen. Ich bin dabei. Fangen wir an.«
»Okay, danke. Ehrlich gesagt, habe ich von dir auch nichts anderes erwartet, Mitnick. So ist unser Quartett offiziell ins Leben gerufen. Aber«, Kokoschansky macht eine Kunstpause, »zwei Leute will ich unbedingt dabeihaben. Wir vier sind der Kern. Die beiden arbeiten uns von außen zu, wahrscheinlich werden sie auch noch einige ihrer Leute einspannen. Der eine ist Thomas Petranko, ein ehemaliger Chefinspektor und Spitzenkriminalist; der andere heißt Wolfram Panker. Ebenfalls ein ehemaliger Bulle, Spezialist der Wirtschaftskriminalität; wurde wegreformiert und arbeitet nun erfolgreich als Privatdetektiv mit besten Verbindungen. Mit beiden bin ich sehr gut befreundet, und sie sind absolut vertrauenswürdig.«
»Nichts dagegen, solange die nicht alle bei mir herumhängen«, stellt Mitnick klar, »ihr beide jederzeit und Freitag selbstverständlich ebenso. Schließlich sind wir das Quartett. Deinen Schwarzen wirst du mir ja demnächst vorstellen. Aber damit hat es sich auch.«
»Geht klar.« Kokoschansky weiß, wie sehr Mitnick auf seine Anonymität bedacht ist, und respektiert es.
»Ich werde mich wohl mit ein paar Kumpels von Anonymous kurzschließen«, entscheidet der Hacker sich, »ebenfalls Typen, denen ich blind vertrauen kann und die nur das erfahren, was sie unbedingt wissen müssen. Sie arbeiten schon lange mit mir zusammen und halten sich bedingungslos an meine Anweisungen. Allesamt ebensolche Spinner wie ich. Das Pensum, das du mir aufgehalst hast, wenn ich mir den Zettel so ansehe, ist alleine nicht zu bewerkstelligen. Wir müssen verdammt schnell sein, immer die berühmte Nasenlänge voraus. Unsere Gegner sind ebenso ausgeschlafene Kerle, verfügen auch über ihre eigenen IT-Spezialisten, und die muss ich, wann immer möglich, austricksen.«
Für einige Minuten übernimmt nun Mitnick das Kommando. »Ihr werdet nochmals nach Hause fahren und mir alles herbringen, was ihr an PCs, Laptops und externen Festplatten besitzt. Wenn die Bullen tatsächlich bei euch antanzen, werden sie nichts finden. Auch sämtliche Unterlagen, kurzum dein Archiv, deponierst du bei mir. Hier ist es absolut sicher, und die Räumlichkeiten sind entsprechend groß genug. Mitnicks bescheidene Klause wird ab sofort unsere Operationsbasis. Freitags Website FNews übernehme ich. Natürlich bleibt sie weiterhin sein Baby. Aber ich kann diese HP so absichern, dass niemand eindringen wird, was Freitag bestimmt nicht schafft. Eure privaten Handys, Smartphones, iPads, was immer ihr davon besitzt, lasst ihr gleich hier und verabschiedet euch für einige Zeit von den Dingern.«
Mitnick steht auf, geht zu einem Schrank und kehrt mit einem Karton zurück. Er hebt den Deckel.
»Wisst ihr, was das ist?«
»Sieht wie Handys aus«, sagt Kokoschansky und betrachtet die beiden Geräte, »aber, wie ich dich kenne, keine herkömmlichen Mobiltelefone. Ich tippe auf Cryptophone.«
»Du bist doch nicht so ein Computerhinterwäldler, wie ich immer dachte«, lacht Mitnick, »das sind wirkliche Wunderdinger, leider auch sauteuer. Absolut abhörsicher, da geht nichts. Wenn ihr wichtige Daten auf euren Handys habt, übertrage ich sie darauf. Damit kommunizieren wir in nächster Zeit. Wir müssen alle Spuren so weit als möglich verwischen. Die Nummern bekommen nur deine Leute, Koko, die in dieses Projekt involviert sind.«
»Das sehe ich genauso«, bekräftigt Kokoschansky, »wir treten auch nur im Netz als FNews auf. Keine Redaktion, keine Namen, auch keinerlei fiktive. FNews ist FNews und basta.«
»Schön und gut«, wendet Lena ein, die sich bisher zurückgehalten und nur zugehört hat, »wenn aber die ersten Fakten draußen sind, wird es wohl nicht allzu schwierig sein herauszufinden, dass du, Koko, der Drahtzieher bist.«
»Sicher«, stimmt der Journalist ihr zu, »doch herausfinden und beweisen sind zweierlei Schuhe.«
»Die Ungewissheit erhöht zusätzlich die Spannung«, unterstützt Mitnick ihn, »und dass ein nigerianischer Taxifahrer, wenn auch längst österreichischer Staatsbürger, mit von der Partie ist, finde ich überhaupt das Allerschärfste. Mir ist klar, dass du dich irgendwann outen musst, Koko, doch ich bleibe, was ich bin, nämlich gänzlich anonym. Ich bin nur der Computerfreak.«
»Das weiß ich und akzeptiere ich. Ich habe auch schon überlegt, und je länger ich darüber nachdenke, glaube ich, ist es wohl die vernünftigste Entscheidung, wenn wir während unserer Operation ständig die Aufenthaltsorte wechseln. Unauffällige Pensionen und Hotelzimmer.«
»Puh«, stöhnt Lena leise, »das wird aber ziemlich ins Geld gehen.«
»Na ja, am Hungertuch nagen wir noch lange nicht«, besänftigt Kokoschansky sie, »das können wir uns schon leisten. Und wir werden Mietwagen verwenden.«
»Keine gute Idee«, wehrt Mitnick ab, »viele Unternehmen haben ihre Autos bereits mit GPS ausgerüstet, um sie bei Unterschlagung oder Diebstahl leichter aufspüren zu können. Wenn unser Ding einmal ins Rollen gekommen ist, dann wird man nach euch suchen und auch sämtliche Mietautounternehmen näher unter die Lupe nehmen. Fahr weiter mit deinem Auto, aber ich werde es ein bisschen aufmotzen, indem ich unauffällige Kameras einbaue, die über Funk mit mir hier über einen Monitor verbunden sind. Somit bin ich immer auf dem Laufenden und, was noch wichtiger ist, ich kann jederzeit sehen, ob sich wer an dem Auto zu schaffen macht. Zum Beispiel einen Peilsender anbringt. Das Gleiche werden wir mit eurer Wohnung machen. Wir werden jetzt zu euch aufbrechen. Ich werde eure Wohnung verwanzen, und wir können genau sehen, wer sich für eure Bude interessiert.«
»Hm«, lächelt Kokoschansky, »zu viel Stieg Larsson gelesen?«
»Krimiautoren haben oft blendende Ideen«, kontert Mitnick, »ich packe nur rasch alles zusammen, was wir dafür brauchen, und dann brechen wir auf. Wir fahren aber getrennt. Wer weiß, wer dir schon alles im Nacken sitzt, Koko.«