Die Vorbereitungen für den Tag X sind abgeschlossen. Mitnick legte sich mächtig ins Zeug. Kokoschanskys Wohnung und sein Auto sind bestens präpariert, um ungebetene Besucher jederzeit auszumachen.
Ein beklemmendes Gefühl, darin sind Kokoschansky und Lena sich einig, wenn man seine eigene Behausung über Kilometer entfernt am anderen Ende von Wien in Mitnicks geheimer Klause über einen Monitor inspiziert, Raum für Raum mit einem Joystick Zentimeter für Zentimeter durchforstet, wird einem plötzlich die eigene Wohnung fremd. Nach Absprache mit dem Hacker legte Kokoschansky sich noch ein Prepaid-Handy zu mit dem alleinigen Zweck, dass ihn Sonja erreichen kann, falls mit Günther etwas sein sollte. Seiner Exfrau erzählte der Journalist, sein Handy wäre durch eigene Unachtsamkeit zu Bruch gegangen und das wäre nur eine vorübergehende Lösung, bis er ein neues, passendes findet.
In ihrem tiefsten Inneren hadert Lena ständig mit sich selbst. Eigentlich will sie nur in Ruhe mit ihrem Koko leben, fern von jeglichen dubiosen Geschichten und Machenschaften. Doch kann sie auch nicht verleugnen, dass sie, was sie inzwischen weiß, von diesem unglaublichen Sumpf aus Korruption und Mauscheleien, dieser Verfilzung von Politik, Wirtschafts- und Organisierter Kriminalität ungeheuer angezogen ist, sie auch nicht ihre Wut über die Skrupellosigkeit gewisser Politiker und anderer Machtmenschen verhehlen kann, denen es nur um eigene Vorteile geht, ihnen Land und Leute völlig gleichgültig sind, sie nur, solange sie am Ruder und an der Macht sind, absahnen wollen, wo immer es möglich ist. Das ist auch ihr Antrieb. Außerdem kann sie die Polizistin in ihr, selbst wenn sie nicht mehr aktiv ist, nicht abstreiten, ebenso wenig, wie sie sich eingestehen muss, aus dem gleichen Holz wie ihr Lebenspartner geschnitzt zu sein, nämlich der gleiche Abenteurertyp wie er zu sein.
Moses »Freitag« Querantino ist völlig aus dem Häuschen, als Kokoschansky ihm seine Pläne mit seinen FNews darlegt. Dass Kokoschansky vorerst offen auftritt und FNews als Podium nutzt, stört ihn nicht. Freitag weiß, dass er in Österreich als Journalist nicht unbedingt ernst genommen werden würde, und sicherlich kämen einige mit nicht auszurottender brauner Gesinnung sehr bald auf sehr dumme Gedanken.
*
Der Ort für das geheime Treffen ist gut gewählt. Im September ist die Hauptsaison bereits vorüber und wieder Ruhe eingekehrt. Vor allem gibt es keine Gelsen mehr, wofür der Neusiedlersee im Burgenland berüchtigt ist, aber dafür sind die Temperaturen noch sehr angenehm und der See nur knapp eine Autostunde von Wien entfernt.
Die Badehütte liegt versteckt im mannshohen Schilf und ist ideal für eine konspirative Zusammenkunft. Nachdem Kokoschansky seinen Freund Thomas Petranko in das Projekt FNews und seine Pläne eingeweiht hatte, war dieser sofort begeistert. Es war sein prompter Vorschlag, sein idyllisches Sommerparadies zur Verfügung zu stellen.
Nun sitzen sie auf der Veranda in der milden Abendsonne. Unerwünschte Zeugen gibt es nicht. Nur Reiher, Störche und einige andere Seevögel, quakende Frösche und Kröten. Bis auf Mitnick sind alle gekommen: Kokoschansky, Lena, Freitag, Wolfram Panker. Später und mit Kokoschanskys Einverständnis stoßen noch Petrankos ehemaliger Partner Alfred Cench und die beiden zurückgepfiffenen BKA-Männer Adrian Konschak und Hermann Pointinger dazu.
»Nun, Leute«, sagt Kokoschansky in die Runde, »wisst ihr, was FNews ist und was wir damit bezwecken wollen. Den vierten Typen von diesem Quartett müsst ihr entschuldigen. Er wird nicht erscheinen, und ihr werdet ihn auch nicht zu Gesicht bekommen. Es ist seine Entscheidung und sein Wille, das müssen wir respektieren. Aber ich kann euch mit bestem Gewissen versichern, er ist kein Krimineller. Freitag, Lena, unser Mister X und ich sind das Quartett. Thomas, Wolfram, Alfred, Adrian und Hermann bilden den äußeren Kreis, wenn es für euch akzeptabel ist. Wir arbeiten permanent zusammen, und das meiste wird über unser Headquarter ablaufen, das allerdings für die anderen geheim bleiben wird. Wir vertrauen uns blind und können uns aufeinander verlassen. Für uns ist das kein Problem, und ich hoffe für euch ebenfalls nicht.«
Petranko hebt die Hand zum Zeichen, dass er etwas sagen will. »Wir kennen uns alle seit längerer Zeit, und ich glaube, dass wir ein kleiner, feiner und umso verschworener Zirkel sind, der, wenn wir uns alle bemühen und anstrengen, sehr wohl in diesem Staat etwas bewegen kann und wird, wozu unsere Justiz, auch die Medien, von der Politik rede ich erst gar nicht, unfähig sind.«
Kokoschansky klappt seinen Laptop auf, fährt ihn hoch und legt eine DVD ein. »Rückt mal ein bisschen zusammen, damit alle was sehen können.«
Während Kokoschansky, Lena, Freitag und Petranko sich im Hintergrund halten, weil sie das Material bereits kennen, werden die Gesichter der anderen länger und länger, starren gebannt auf den Bildschirm. Nach wenigen Minuten ist die grausige Fotocollage vorbei. Cench, Panker, Konschak und Pointinger sehen gebannt zu Kokoschansky.
»Das ist doch dieses Mafiamassaker«, findet zuerst Cench die Sprache wieder, »zumindest gibt es einige Zeitungsfotos und auch etwas im Internet, was ziemlich mit diesen Bildern übereinstimmt.«
»Nicht angeblich«, korrigiert Kokoschansky, »tatsächlich. Ich habe diese Aufnahmen mit meiner Handykamera geknipst. Leider hatte ich keine bessere Ausrüstung zur Verfügung.«
»Du warst dabei?« Cench schüttelt den Kopf, kann es nicht glauben.
»Ich war eingeladen oder vielmehr höflich unter Druck gesetzt worden, was ich allerdings erst vor Ort erfahren habe. Und zwar von Robert Saller.«
»Weißt du, was du sagst?«, Konschak beugt sich über den Tisch, sticht mit dem Zeigefinger in Richtung Kokoschansky. »Du deckst einen geflüchteten, gesuchten Schwerverbrecher!«
»Jetzt krieg dich wieder ein, Adrian«, versucht Petranko, aufkeimenden Ärger einzudämmen, »hör dir lieber an, was wirklich dahintersteckt.«
»Ihr könnt mich ja nach meinen Ausführungen festnehmen. Ob das allerdings klug wäre, bezweifle ich. Natürlich muss es für euch so aussehen, als würde ich mit Saller gemeinsame Sache machen, was allerdings nicht den Tatsachen entspricht. Ich bin in diese Geschichte, ohne es zu beabsichtigen, hineingerasselt, ungeplant und unbedarft. Ich rekapituliere nochmals, was ohnehin längst bekannt ist. Ich war im SMZ Ost, weil ich ein kleines Problem hatte. Noch im Krankenhaus bekam ich den Tipp, dass er ebenfalls hier ist. Logisch war ich heiß darauf herauszufinden, was los ist. Gehört schließlich zu meinem Job. Der Rest ist bekannt. Erharter und Lackner jubeln mir den Koks unter und so weiter und so fort. Inzwischen glaube ich zu wissen, warum Teile des BKA so wild drauf sind, mich mundtot zu machen, wobei die beiden nichts weiter als ausführende Organe sind. Man weiß, dass ich mich mit Saller gut verstanden habe, und wahrscheinlich hat man Angst, dass er mir so einiges erzählen könnte, was beispielsweise die Estate Carinthia Bank, Midas und noch einige andere betrifft. Als Saller bereits auf der Flucht war, erhielt ich ein lapidares Mail aus Montenegro, das mich stutzig machte. Ich wurde ins La Femme, Sallers Hauptquartier, bestellt. Zuerst dachte ich an eine weitere Falle, die Lackner und Erharter sich ausgedacht haben, um mich aufs Kreuz zu legen. Als Rache dafür, sie öffentlich angenagelt zu haben. Wir haben lange überlegt – Thomas, Lena und ich –, ob es nicht ein zu hohes Risiko ist, in den Puff zu gehen. Thomas und Lena sicherten mich ab, falls es eng werden sollte. Nichts dergleichen. Husky und Rambo erwarteten mich und Sallers Anwalt, Dr. Kerner. Er war es, der mir den Vorschlag unterbreitete, nach Montenegro zu fahren, ich würde nicht mit leeren Händen zurückkehren. Was ihr auf der DVD gesehen habt, ist das Anwesen von Salvatore Madeo, und den brauche ich euch nicht näher vorzustellen. Das ist der Mann, der mit ausgebreiteten Armen erschossen auf dem Bett liegt. Der Typ mit der Messerwunde im Rücken ist Branko Daramcić, und den hat Saller auf dem Gewissen.«
»Was?« Cench fallen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Saller ist in Montenegro? Der war auch dort?«
»Ja. Ob er noch im Land ist, weiß ich nicht. Ich hatte nur mit Madeo, Daramcić und Saller zu tun. Die anderen, die erschossen wurden, kenne ich nicht, und ich habe auch mit keinem der anderen ein Wort gewechselt. Saller hat jedenfalls bei der Ballerei einiges abgekriegt. Mein Angebot war, ich bringe ihn ins nächste Krankenhaus und dafür packt er aus. Dann wäre mein Part erledigt, und er müsse sich um sich selbst kümmern.«
»Mir gefällt das alles nicht«, bleibt Adrian Konschak weiterhin skeptisch, und auch sein Ton verschärft sich zusehends. »Dass du, Kokoschansky, dir diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wolltest, der Sache auf den Grund zu gehen, nachdem Saller dir eine Nachricht zukommen ließ, leuchtet mir noch ein, wenn ich Journalist wäre. Aber warum lebst du noch? Warum bist du nicht unter den Leichen?«
Kokoschansky merkt, wie bei Petranko die Zornesader anschwillt und er drauf und dran ist, seinem ehemaligen Kollegen über den Mund zu fahren, doch der Journalist hält ihn mit einer Armbewegung zurück.
»Jetzt hör mir mal genau zu, du Klugscheißer«, fährt er Konschak an, den er heute zum ersten Mal persönlich kennen gelernt hat und der ihm zusehends unsympathischer wird, und baut sich vor ihm auf, »warum glaubst du wohl, erzähle ich euch das alles? Warum haben wir uns hier geheim getroffen? Weil wir etwas bewegen können, wenn wir alle an einem Strang ziehen. Ich kann jederzeit FNews mit meinen Leuten starten. Ich brauche euch nicht zu fragen, ob wir das dürfen, gar nichts, einfach nur machen. Und in der Öffentlichkeit wärt ihr wieder einmal mehr die Angeschissenen. Warum schafft ein Journalist es mit seinen Leuten? Schläft unsere Polizei? Für Monate würdet ihr wieder ein ausgezeichnetes Fressen für alle Medien abgeben. Könnte mir eigentlich egal sein, und im Grunde wäre es auch der Fall, aber ich weiß, du und dein Kollege verfügen über jede Menge Abhörprotokolle von diversen Herrschaften, die ihr euch derzeit sonst wohin stecken könnt, weil ihr zurückgepfiffen und zum Däumchendrehen verurteilt seid. Du fragst mich, warum sie mir nicht auch ein paar Kugeln verpasst haben? Bestimmt, wenn ich nicht unwahrscheinliches Glück gehabt hätte, beim ersten Schusswechsel nicht sofort aufgewacht wäre und mich unters Bett verkriechen konnte. Da«, er reißt das Pflaster von seinem Handrücken und präsentiert seinen tiefen Kratzer, »das ist ein Andenken.« Kokoschansky stellt sein Bein auf einen Stuhl, schiebt ein Hosenbein hoch und fetzt ebenfalls den Verband von seiner Wade. »Das hier das zweite. Hervorgerufen von irgendwelchen Holzsplittern. Das Killerkommando hat auf mein Zimmer nicht vergessen, durch das Fenster eine Feuersalve nach der anderen abgegeben. Nur ich war eben um ein Quäntchen schneller und konnte mich aus der Schusslinie bringen.«
Kokoschansky ist wütend, zündet sich eine Zigarette an, möchte mit seinen Blicken Konschak am liebsten durchbohren.
»Ich muss mich für meinen Kollegen entschuldigen«, schlägt Hermann Pointinger sich nach einigen Augenblicken des Schweigens auf Kokoschanskys Seite. »Er hat es bestimmt nicht so gemeint, wie es rübergekommen ist. Wenn die Gemüter sich wieder beruhigt haben, würde ich gerne und, ich glaube, im Namen aller Anwesenden zu sprechen, alles über die Vorgänge in Montenegro erfahren.«
Entschlossen steht Konschak auf und reicht dem Journalisten die Hand. »Tut mir leid. Mir sind ein wenig die Nerven durchgegangen. Auch mir sind die toten Kinder mehr als nur nahegegangen.«
»Passt schon«, nimmt Kokoschansky die Entschuldigung an, »so etwas kommt vor.« Er schnippt seine Kippe in den See, bevor er wieder den Laptop aufklappt und auf der DVD zu jener Stelle fährt, die den angeschossenen Mann in schwarzer Kampfmontur, auf dem Boden liegend, zeigt. »Der Typ tauchte plötzlich auf, als alles längst vorbei war und ich abhauen wollte. Es handelt sich um zwei Geschichten. Ich bin mir sicher, dass sie nichts miteinander zu tun haben und jede für sich steht. Der Junge ist vor meinen Augen abgekratzt und bevor er starb, hauchte er noch den Spitz- oder besser Kampfnamen El Chapo.«
Wolfram Panker, der Privatdetektiv in den Sechzigern mit dem vollen, weißen Haar und Spitzbart, der bisher aufmerksam zuhörte, sagt nur einen Namen: »Joaquin Archivaldo Guzmán Loera …«
»Alias El Chapo, Mexikaner«, ergänzt Kokoschansky, »mächtigster Drogenboss der Welt; weltweit gesucht, hält sich wahrscheinlich noch immer in Mexiko auf, weil er dort am sichersten ist, Chef des berüchtigten Sinaloa-Kartells. Der junge Mann«, Kokoschansky zeigt auf den Bildschirm, »ist mit Sicherheit ein Sicario, einer dieser südamerikanischen Mietkiller; Nationalität, zumindest mir, unbekannt.«
Wieder fährt er die DVD ein Stück vorwärts.
»Meine Theorie lautet, El Chapo und Madeo hatten eine geschäftliche Verbindung in Sachen Koks. Dann muss etwas schwer aus dem Ruder gelaufen sein. Vielleicht wollte der Itaker den Mexikaner betakeln, ihn über den Tisch ziehen. Das konnte El Chapo sich nicht bieten lassen und schickte das Killerkommando los, wobei der Exgeneral der Verbündete der Sinaloa-Leute war. Vielleicht agierte er auch als Doppelagent, spielte beide gegeneinander aus? Aber das werden wir wahrscheinlich nie erfahren. Auf dem Heimflug nach Wien zermarterte ich mir das Hirn, bis mir einfiel, wer El Chapo wirklich ist und dass ich über ihn einiges gelesen hatte.«
»Mir fällt auf«, bemerkt Cench, »das Messer in Daramcićs Rücken fehlt.«
»Dafür gibt es eine einfache Erklärung«, erläutert Kokoschansky. »Nachdem ich von meiner Erkundungstour zurückgekehrte, war Saller weg. Das Messer steckte in einem Nachtkästchen und fixierte einen Umschlag, der für mich bestimmt war. Eine Art Dankeschön.«
»Was war der Inhalt?«, lässt Cench nicht locker.
»Drei CD-ROMs und der Hinweis, in Madeos Arbeitszimmer den Tresor zu suchen, den ich auch fand, öffnen könnte und einiges mitgehen ließ.«
»Wo ist dieses Material?«, bohrt Cench weiter.
»An einem sicheren Ort. Bisher sind wir noch nicht zu einer Auswertung gekommen.«
»Mmmh«, sinniert Konschak vor sich hin, »fahr jetzt nicht gleich wieder aus der Haut, Koko, ich darf dich wohl so nennen, eigentlich hast du dich mehr als strafbar gemacht. Aber du bist nicht alleine. Mein Partner und ich sind ebenso fällig, weil wir Verschlussakten kopiert haben und so weiter. Vielleicht weiß auch Alfred mehr, als er jetzt zuzugeben bereit ist. Es ist auch egal, schließlich arbeiten wir alle an dem gleichen Fall. Wenn die Justiz uns hängen lässt, müssen wir eben zu solchen Mitteln greifen. Was ich damit sagen will, Koko, dein Quartett wird beim Auswerten Hilfe brauchen. Du bist zwar verdammt gerissen und clever, aber alles kannst auch du nicht wissen. Ich denke, ich spreche für alle anderen außerhalb des Quartetts. Wir sind voll dabei, weil es die Sache wert ist. Vielleicht gelingt es uns tatsächlich, einige dieser Figuren endlich hinter Schloss und Riegel zu bekommen.«
»Daramcić«, murmelt Wolfram Panker, »Branko Daramcić … sehr interessanter Mann. Schade, dass man ihn nicht mehr befragen kann. Aber das macht nichts. Ich habe eindeutige Unterlagen gesammelt, die belegen können, dass es geschäftliche Verbindungen zu Nazeem al-Qatr und zu einem mysteriösen Club 50.000 gibt. Ebenso zu Adolphe Mannsbergk-Souilly und Markus Schloimo. Saller sowie Daramcić sind beinahe zeitgleich geflohen. Der eine aus dem SMZ Ost, der andere aus dem Rementica-Gefängnis in Zagreb. Wir haben einen Haufen Steine. Jetzt müssen wir das Puzzle nur richtig zusammensetzen.«
»Scheiße«, Konschaks Gesicht wird fahl, und er wendet sich zu seinem Kollegen Hermann Pointinger, »an Schloimo haben wir nie gedacht, wir Pfeifen. Und dieser Scheißclub scheint tatsächlich existent zu sein.«
Kokoschanskys Cryptophone vibriert. »Entschuldigung …«
Er entfernt sich ein paar Schritte, telefoniert kurz, gibt Lena einen Wink, flüstert ihr etwas zu, bevor sie sich wieder zu der Runde gesellen.
»Das ist alles sehr merkwürdig und grotesk«, gibt Cench zu bedenken, »wir dürfen auch nicht Oberstaatsanwalt Bortner übersehen, der urplötzlich freiwillig aus dem Leben geschieden ist. In dieser Causa wird sehr lax ermittelt. Auf Anordnung von ganz oben. Er hat sich mit seinem Jagdgewehr erschossen. Mit einem Mauser M 03. Allerdings in den Hinterkopf. Der teure Verblichene muss akrobatisch veranlagt gewesen sein. Waidmannsheil …«
»Das ist aber ein Ding«, zeigt Kokoschansky sich beeindruckt, »das ist mir völlig neu.«
»Na, endlich«, lächelt Cench, »können wir auch mit etwas aufwarten, was du noch nicht weißt. Die Obduktion ist bereits abgeschlossen. Ziemlich schnell, finde ich, für so eine heikle Angelegenheit. Ebenso merkwürdig, es existieren keine Abschiedsbriefe. Auf Wunsch der Familie findet das Begräbnis in den nächsten Tagen statt, und der teure Verblichene wird verbrannt. Warum wohl? Anfang der Achtzigerjahre, einige werden sich bestimmt noch daran erinnern, gab es einen ähnlichen Fall. Damals hatte sich ein ebenso umtriebiger wie umstrittener österreichischer Verteidigungsminister während eines Jagdausflugs erschossen. So lautete die offizielle Version. Allerdings verstummen bis heute nicht die Gerüchte, jemand könnte nachgeholfen haben. Genau wie bei Bortner wurden auch damals keine Abschiedsbriefe gefunden.«
»Kannst du uns schützen, wenn es hart auf hart geht?«, vergewissert Konschak sich bei Kokoschansky.
»FNews wird keine Informanten und Quellen verraten. Ab sofort bin ich nur mehr über diese Nummer zu erreichen. Schreibt sie euch auf.« Dabei legt er sein Cryptophone auf den Tisch.
Konschak und Pointinger, die beiden BKA-Abhörspezialisten, stoßen beinahe gleichzeitig einen anerkennenden Pfiff aus und sehen sofort, worum es sich handelt. »Journalist müsste man sein. Wir sind in der falschen Branche. Leider können wir uns das nicht leisten. Und das Ministerium muss sparen.«
»Ich schlage vor, wir machen eine kleine Pause und gehen zum gemütlichen Teil über, der vielleicht so bald nicht wiederkehrt, und genießen einen guten Tropfen aus dem Burgenland.« Petranko verschwindet kurz in der Badehütte und kehrt mit ein paar Flaschen Wein zurück.
*
Es fehlt nicht mehr viel auf Mitternacht, als Lena und Kokoschansky bei Mitnick eintreffen, der sie entgegen seiner gewohnten Art mit sehr ernster Miene empfängt. Wie üblich laufen bei ihm sämtliche Computer auf Hochtouren, auf den Monitoren öffnen und schließen sich ununterbrochen Fenster. Für einen Laien absolut undurchschaubar und unverständlich.
»Was ist los?«, fragt Kokoschansky.
»Setzt euch erst einmal.« Mitnick bietet ihnen Plätze an. »Natürlich habe ich mich sofort hineingekniet und einen Man-in-the-middle-Angriff gestartet.«
»Was ist das?«
»Unter einem MITM-, auch Mittelsmann- oder Janusangriff versteht man in Hackerkreisen das Eindringen in Rechnernetzwerke oder auch in einen einzelnen Computer mit dem einzigen Ziel, die Daten ständig zu kontrollieren, einzusehen und bei Bedarf zu manipulieren. Sich Zugang zu verschaffen, wäre natürlich am einfachsten auf physikalischem Wege, sprich, ich hätte persönlich Möglichkeiten, die betreffenden Rechner in Augenschein zu nehmen. Da heute vieles über WLAN-Verbindungen läuft, ist das Eindringen für einen Spezialisten relativ einfach. Wie es genau im Detail funktioniert, werde ich natürlich nicht verraten. Letztendlich zählt nur das Resultat. Habe ich mich bisher verständlich ausgedrückt?«
»Ja, ja«, Kokoschansky ist ungeduldig, auch Lena kann ihre Neugier nur schwer unterdrücken, »was hast du herausgefunden?«
»Das wird dir gar nicht schmecken, Koko.« Mitnick nimmt einen Packen Mails aus dem Drucker. »Ich habe mir erstmal die Leute vorgenommen, von denen ich annehme, dass es relativ leicht sein könnte, und begann mit diesem Erharter. In seinen BKA-PC bin ich noch nicht eingebrochen, dafür aber in seinen privaten Computer. Das war ein Kinderspiel. Für einen Bullen ist er sehr sorglos und verwendet vorsintflutliche Sicherungen, die im Prinzip jeder mit etwas Basiswissen knacken kann.«
»Ist doch wunderbar!« Kokoschansky ist gelassen. »Und gut für uns.«
»Ich weiß es nicht. Diesen Part kann ich schwer beurteilen. Okay, Koko, ich kenne deine privaten Verhältnisse. Irgendwann hast du mir deine Situation erzählt. Ich mache es kurz. Du hast einen Todfeind, besser eine Todfeindin, in den eigenen Reihen. Es ist eine deiner Exfrauen.«
»Was?« Mit Kokoschanskys ursprünglicher Ruhe ist es vorbei. »Marianne? Das kann nicht sein. Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr, und sie lebt in Dänemark.«
»Sonja, Sonja Kokoschansky hat es auf dich abgesehen. Die Gründe kenne ich nicht, sie gehen mich auch nichts an. Aber sie scheint sich vorgenommen zu haben, dich fertigmachen zu wollen.«
»Was hat dieses Miststück mit Erharter auf dem Hut?« Kokoschansky ist wie vernagelt.
»Dann zähle doch einmal eins und eins zusammen«, springt Lena in die Bresche und nimmt seine Hand. »Sonja hat ein Verhältnis mit Erharter.«
»Das glaube ich nicht …«
»Lena hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, attestiert Mitnick, »es sieht ganz danach aus. Doch lies selbst. Die meines Erachtens wichtigen Passagen in dem Mailverkehr habe ich markiert. Sorry, dass ich in deinem Privatleben herumschnüffle.«
Gemeinsam mit Lena überfliegt der Journalist die Ausdrucke. Es ist offensichtlich, dass die Initiative, Sonja für seine Zwecke einzuspannen, eindeutig von Erharter ausgegangen ist. Nach anfänglichem Liebesgesülze über mehrere Wochen wird er konkreter und treibt mit seinen Schreiben Sonja genau in die Richtung, wohin er sie haben will. Und sie steigt ihm darauf ein, lässt kein gutes Haar an Kokoschansky.
Vor seine Augen verschwimmen die Sätze, als er lesen muss: »… Das zahle ich ihm heim; dafür wird er noch bitter bezahlen; Koko ist eine miese Ratte, während du, mein Schatz, so völlig anders bist; ich werde dir helfen, wo immer ich kann, damit du diesen Scheißkerl erledigen kannst, und es ist mir völlig egal, dass wir gemeinsam ein Kind haben; ich bete zu Gott, dass Günther nicht die Gene von ihm geerbt hat …«
Kokoschansky wirft die Papiere auf den Tisch, nagt an seiner Unterlippe und würde am liebsten sofort zu Sonja fahren und ihr kräftig die Leviten lesen. Doch über seinen maßlosen Zorn siegt glücklicherweise die Vernunft. Es wäre denkbar ungünstig, mit diesem unbezahlbaren Wissen herauszurücken, da Erharter es sofort erfahren würde.
»Was ist bloß mit dieser Frau los?«, seufzt Kokoschansky.
»Nimm’s nicht so schwer, Koko«, sucht Mitnick auf seine Art nach tröstenden Worten, »auch andere Mütter haben schöne Töchter, und eine der Schönsten hast du dir doch geangelt.«
»Ach«, wehrt Kokoschansky ab, »es ist mir scheißegal, mit wem meine Ex-Frau herumfickt. Was uns noch zusammenhält, ist unser gemeinsamer Sohn. Mehr schon lange nicht mehr. Um den Jungen mache ich mir größte Sorgen.«
»Sie ist wirklich eine verdammt gute Schauspielerin«, sagt Lena, greift wieder nach den Ausdrucken, blättert darin und liest. »Da«, zeigt sie auf eine Stelle in einem der Mails und liest, »… Ich werde, so wie du es mir aufgetragen hast, mein Liebling, versuchen, ihn ins Bett zu kriegen, und probieren, ob ich ihm für dich wichtige Informationen entlocken kann. Du kannst versichert sein, dass mir der Sex mit diesem Arschloch bestimmt keinen Spaß bereiten wird, ich werde nur die ganze Zeit an dich denken, wie schön es mit dir ist …«
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, wie Kokoschansky tatsächlich zu Lena steht, dann hält sie ihn nun schwarz auf weiß in Händen.
»Sie muss diesem Idioten von Erharter total verfallen sein, wenn sie sich auf ein solches Niveau herablässt«, konstatiert Kokoschansky. »Euch Weiber soll mal einer verstehen. Denkt an meine Worte. Sobald er merkt, dass sie für ihn nutzlos geworden ist, wird er sie fallen lassen wie eine heiße Kartoffel.«
»Sieh es doch einmal auch von der positiven Seite«, versucht Mitnick, den Journalisten aufzubauen, »zahle es ihr doch mit gleicher Münze zurück. Füttere sie mit falschen Informationen. Sonja wird sie umgehend an ihren Lover weiterleiten, und der scheint wirklich so dämlich zu sein, alles zu fressen. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«
»Das werde ich auch tun«, stellt Kokoschansky grimmig fest, »zurück kann und will ich nicht mehr.«