Während es in Wien nieselt und eher kühl ist, herrschen in Podgorica, der montenegrinischen Hauptstadt, angenehme mediterrane Temperaturen. Pünktlich landet das Flugzeug, ein Embraer-190-Jet der Montenegro Airlines, auf dem kleinen Flughafen, der rund zwölf Kilometer außerhalb des Stadtzentrums liegt.
Kokoschansky will den Trip so schnell als möglich hinter sich bringen, daher fackelte er nicht lange. Sehr zum Missfallen Lenas. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn er noch ein paar Tage zugewartet hätte, in der vagen Hoffnung, er würde es sich vielleicht doch noch überlegen.
Der Journalist ist überzeugt, abgehört zu werden. Vorsichtshalber entfernt er den Akku aus seinem Handy, um nicht geortet werden zu können.
Kokoschansky schnappt sich seinen Trolley vom Förderband, passiert anstandslos Pass- und Zollkontrolle, betritt die Ankunftshalle des Aerodrom Podgorica und sieht sich um. Nicht viel los, aber dafür verursachen die wenigen Leute einen ordentlichen Wirbel, eben das südländische Temperament. Er kann weder etwas Auffälliges noch Verdächtiges entdecken, auch im Flieger war nichts Bemerkenswertes, daher schlief er oder hing seinen Gedanken nach.
Plötzlich stehen links und rechts neben ihm zwei dunkle Typen, gekleidet in teure Markenkleidung, von denen man nicht unbedingt einen Gebrauchtwagen kaufen will.
»Sie müssen Herr Kokoschansky sein«, sagt der Größere der beiden mit starkem Akzent, ohne sich selbst vorzustellen. Der Zweite bleibt stumm.
»Bin ich? Wer sind Sie?«
»Bitte, folgen Sie uns«, bestimmt der Wortführer mit einer angedeuteten, einladenden Handbewegung, ohne sich zu deklarieren.
Von ihnen flankiert zieht Kokoschansky seinen Trolley mit sich, sie treten in die Abendsonne hinaus und gehen zu einem Landrover neueren Baujahres mit abgedunkelten Scheiben, wo bereits der Fahrer, ebenfalls nicht vertrauenserweckend, hinter dem Lenkrad wartet und sein angedeutetes Kopfnicken wohl als Gruß zu verstehen ist.
Einer seiner Begleiter öffnet die Heckklappe, Kokoschansky hebt sein Gepäck hinein und darf sich dann hinter den Fahrer setzen. Der Wortführer nimmt auf dem Beifahrersitz Platz, der Stumme zwängt sich neben den Journalisten, wobei er beim Einsteigen etwas unvorsichtig ist. Sein Blouson verrutscht, und Kokoschansky sieht eine Waffe im Hosenbund stecken. Doch das ist klar. Diese drei Galgenvögel laufen für ihre Verhältnisse nicht nackt durch die Gegend.
Nach wenigen Metern Fahrt greift Kokoschanskys Nebenmann in ein Seitenfach und nimmt eine schwarze Kapuze heraus.
»Entschuldigung für die Unannehmlichkeit«, spricht der Wortführer, ohne sich zu Kokoschansky umzudrehen, »aber nun Sie müssen das aufsetzen. Auto ist aber klimatisiert, und Fahrt nicht dauern sehr lange.«
Der Journalist riskiert einen Seitenblick und sieht noch ein Richtungsschild mit dem Ortsnamen Ulcinj, bevor er sich das Ding überstülpt. Schweigend fahren sie weiter, während Kokoschansky sich trotz der Klimaanlage nach wenigen Minuten mit schweißnassem Gesicht in sein weiteres Schicksal fügt.
Wenn sie wirklich nach Ulcinj fahren, dann ist es tatsächlich nicht sehr weit, nicht einmal sechzig Kilometer von Podgorica entfernt, ganz im Süden und nahe an der Grenze zu Albanien. Die Straße scheint nur aus Schlaglöchern zu bestehen, doch den Fahrer stört es nicht, und er denkt nicht daran, den Fuß vom Gaspedal zu nehmen. Manchmal drückt er heftig auf die Hupe, flucht sicherlich nicht salonfähiges Zeug. Kokoschansky ist bemüht, sich irgendetwas von der Strecke einzuprägen, Kurven und Steigungen, gibt aber nach wenigen Kilometern auf.
In der österreichisch-ungarischen Monarchie zählte das Land zum Herrschaftsbereich der Habsburger. Unter Tito war Montenegro nur ein Teil Jugoslawiens und fiel international nicht auf. Nach dem Zerfall entwickelte das Land sich rasch zu einer Hochburg der Organisierten Kriminalität in Europa mit dem Schwerpunkt Zigarettenschmuggel in großem Stil. Auch Drogen, Waffen, Menschenhandel und das Verschieben gestohlener Fahrzeuge aus dem EU-Raum zählen zu den illegalen Geschäftszweigen.
Der Landrover schlängelt sich mühelos eine Anhöhe hoch. Entweder ist der Fahrer ein Kamikaze, oder er kommt aus dem Motorsport. Kokoschansky spürt bereits ein flaues Gefühl in seinem Magen. Die Reifen knirschen, Steine und Sand spritzen, schlagen gegen das Blech. Plötzlich bremst der Wagen scharf ab, Kokoschansky stemmt sich instinktiv mit den Händen an der Lehne des Fahrersitzes ab. Er fühlt eine Hand an seinem Kopf. Endlich wird ihm die Kapuze heruntergezogen.
Kokoschansky muss ein paar Mal blinzeln, um sich wieder an das Licht zu gewöhnen.
»Wir sind angekommen«, gibt der Wortführer wieder einen Ton von sich, »bitte, aussteigen und warten.«
Ziemlich durchgeschüttelt klettert der Journalist aus dem Wagen, streckt sich durch und glaubt, sich in einem Paten-Film wiederzufinden. Ein prächtiges Anwesen, eine absolut protzige Villa mit riesiger Terrasse, einem parkähnlichen Garten mit Palmen und allerlei Pflanzen, die er vorher noch nie in natura gesehen hat, breiten sich vor seinen Augen aus. Fehlt nur noch, dass entweder Marlon Brando als der alte Don Corleone oder Al Pacino als sein Sohn oder beide die pompöse Freitreppe herunterschreiten. Überall sind Männer verteilt, beobachten unbeweglich wie Statuen den Neuankömmling hinter schwarzen oder verspiegelten Sonnenbrillen und halten MPs in ihren Händen, deren Läufe dankenswerterweise auf den Boden gerichtet sind. Einige tragen auch zusätzlich Luparas, die typischen abgesägten Schrotflinten der italienischen Mafia.
»Bitte, Hände über Kopf«, befiehlt wieder der Gesprächige, »ich weiß, es gibt strenge Kontrollen auf Flughäfen, aber trotzdem.« Dann beginnt er, Kokoschansky nach eventuell doch versteckten Waffen abzutasten, während der Stumme den Trolley durchsucht.
»Ich habe ihnen gesagt, dass es bei dir nicht notwendig ist«, hört Kokoschansky eine ihm sehr bekannte Stimme und dreht sich langsam um. Auf der Freitreppe steht Robert Saller, in weißer Hose, mit eleganten Slippern und weißem, offenem, heraushängendem Hemd. »Aber ich bin hier nur Gast.« Dann breitet er die Arme aus, kommt Kokoschansky ein paar Stufen entgegen und begrüßt ihn wie einen alten Freund. »Danke, dass du wirklich gekommen bist. Das werde ich dir nie vergessen, egal, was immer passiert. Du wirst es nicht bereuen.«
Zwei weitere Männer tauchen auf der Terrasse auf. Im Gegensatz zu Saller, der sich tatsächlich ehrlich zu freuen scheint, sind ihre Mienen zwar freundlich, aber abwartend. »Darf ich dir vorstellen, unser Gastgeber und Besitzer dieser Pracht, Salvatore Madeo«, und wechselt sofort perfekt ins Italienische – für ihn kein Problem, da er mehrere Sprachen fließend beherrscht – um Kokoschansky bekannt zu machen. Der kleinwüchsige, ungefähr sechzigjährige Italiener mustert ihn nicht unfreundlich, aber umso genauer von oben bis unten. Kokoschansky weiß, wen er vor sich hat. Zum Glück funktioniert sein Namensgedächtnis ausgezeichnet, und erst von wenigen Wochen war er in einem Buch über die kalabrische Mafia, die `Ndrangheta, mehrmals über diesen Namen gestolpert. Nun steht einer der Capos der Nammoliti-Familie, die außerhalb Italiens besonders in Bayern aktiv ist, leibhaftig vor ihm, verweigert aber einen Handschlag. Das ist unter der Würde eines wahren Don oder Paten, einem absolut Fremden, noch dazu einem Pressemenschen, die Hand zu geben.
»Ich sehe an deinem Gesicht«, lächelt Saller, »du erkennst, wen du vor dir hast und da du ein exzellenter Journalist bist, wird dir auch dieser Herr geläufig sein. Ein Landsmann von mir, Branko Daramcić.« Auch dieser geheimnisvolle Mann folgt dem Beispiel des Italieners und verzichtet auf ein Händereichen.
»Wenn du dich ein wenig erfrischen willst«, bietet Saller an, »wird dich ein Angestellter in ein Badezimmer führen.«
»Ja, das wäre nett.«
»Gut.«
Kaum im Badezimmer, blickt er in den Spiegel und murmelt: »Warum sitze ich nicht auf meinem Rad, gondle durch die Gegend oder sitze im Kaffeehaus? Oder noch besser, ich kümmere mich um meinen Jungen und Lena. Nein, ich Arschloch bin irgendwo im tiefsten Montenegro, habe gerade in die Kloschüssel eines Mafiabosses gepinkelt, überall waffenstarrende Typen, und zwei Kroaten sind auch dabei, und ich habe nicht den leisesten Schimmer, was los ist, außer dass mir der Arsch auf Grundeis geht.«
*
Lena beschließt, sich einen geruhsamen Fernsehabend zu gönnen. Da Kokoschansky telefonisch nicht erreichbar ist, versuchten einige Journalisten, über sie an ihn heranzukommen, doch sie verweigert alle Interviewanfragen.
Weder die Bundespolizeidirektion noch das BKA oder ihre unmittelbaren Vorgesetzten meldeten sich bei ihr, was sie zwar sehr goutiert, ihr aber auch Kopfzerbrechen bereitet. Sie ist sich sicher, dass die Sache noch lange nicht ausgestanden ist.
Auf Druck der Medien ließen sich sowohl der Polizeipräsident wie auch die Innenministerin zu Statements herab, in denen sie mit dürren Worten mitteilten, dass umfangreiche Untersuchungen im Gange wären und sie noch keine konkreten Ergebnisse vorweisen können. Auch BKA-Chef Edmund Katterka leierte die gleiche Sprechblase herunter, bestätigte, dass Lackner und Erharter bis zur endgültigen Klärung dieses bedauerlichen Vorfalls vom Dienst suspendiert und Disziplinarverfahren eingeleitet worden sind.
Der Anruf kam völlig unerwartet. Sonja fragte an, ob sie auf einen Kaffee vorbeikommen dürfe.
Günther übernachtet bei einem Kindergartenfreund, und ihr ist ein bisschen langweilig. Erfreut sagte Lena sofort zu.
Nun sitzen die beiden Frauen auf dem Sofa im Wohnzimmer.
»Koko ist gar nicht hier?«, erkundigt sich seine Exfrau. »Günther sagte mir, dass sein Papa wegfahren muss. Wo treibt er sich denn herum?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich wieder in geheimer Mission unterwegs«, antwortet Lena nicht ganz wahrheitsgemäß.
Obwohl die Frauen sich sehr gut verstehen, will Lena ihr die Wahrheit nicht auf die Nase binden.
»Warum fragst du, Sonja?«
»Nur so.«
»Und wie läuft es sonst bei dir, Sonja? Alles in Ordnung?«
»Nun … ach lassen wir das.«
»Na, komm schon, dich bedrückt doch etwas. Raus damit, wir haben uns doch noch immer alles sagen können.«
Sonja greift nach einer Zigarette, schenkt sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Ich weiß es wirklich nicht, ob ich dir das sagen soll.«
»Ist irgendetwas mit Günther?«
»Nein, dem geht es prächtig. Im Gegensatz zu seiner Mutter.« Sie zieht fest an ihrer Zigarette, trinkt und fügt leise hinzu. »Es hat mit Koko zu tun.«
»Was ist los?«
»Wir haben wieder unsere nie erloschenen Gefühle füreinander entdeckt. Dafür fühle ich mich dir gegenüber schlecht.«
Lena traut ihren Ohren nicht. »Wie bitte? Was hast du eben gesagt?«
»Es tut mir unendlich leid, aber es ist so.«
»Seit wann läuft wieder etwas zwischen euch?«
»Ich habe schon seit einiger Zeit gemerkt, dass Koko wieder mehr für mich empfindet, aber ich wollte es wegen dir nicht zulassen. Als er zuletzt Günther zurückbrachte, duschte er noch bei mir und bat mich, ihm den Rücken zu schrubben. Zuerst sträubte ich mich dagegen, aber das Verlangen nach ihm war stärker.«
»Und …«, Lena schluckt und kämpft mit den Tränen.
»… ja, danach haben wir zusammen geschlafen. Ich weiß, es schmerzt und verletzt dich tief, aber ich wollte es dir selbst sagen und nicht, dass du es vielleicht zufällig erfährst oder herausbekommst. Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich, ob wir dir das antun dürfen. Nun ist es doch passiert, und wir können es nicht mehr rückgängig machen. Hat er dir gar nichts erzählt?«
»Nein«, antwortet Lena mit belegter Stimme.
»Na ja, vielleicht hatte er noch nicht die passende Möglichkeit gefunden, nach allem, was sich in den letzten Tagen so rund um ihn ereignete. Schade, mir hat er auch nicht verraten, was er vorhat. Oder willst du es mir nicht sagen, Lena?«
»Ich weiß es nicht«, blockt Lena brüsk ab, »das ist auch jetzt nicht mehr wichtig. Und ich Trampel dachte, zwischen uns wäre alles geklärt! So kann man sich täuschen.«
»Lena«, Sonja will nach ihrer Hand greifen, doch sie wendet sich ab, »ich kann dich wirklich verstehen. Aber Koko und ich, wir haben nun einmal zusammen ein Kind. Das verbindet, und irgendwie habe ich immer tief drinnen gespürt, es kann nicht alles gewesen sein. Da ist noch viel mehr. Ich wünschte, ich könnte dir etwas anderes sagen, aber Koko und ich haben immer zusammengehört, und daran wird sich auch nichts ändern. Ich hoffe, du kannst uns verzeihen. Schließlich geht es auch um Günther.«
»Hat er gesagt, dass er dich noch immer liebt?«
»Ja, mehrmals und es war sehr ehrlich von ihm.«
»Geh jetzt, bitte …«
»Ja, Lena, es hat eben nicht sein sollen.«
Nachdem Sonja die Wohnung verlassen hat, will sie in ihrer Wut zum Handy greifen und Kokoschansky sofort anrufen. Sie hält das Mobiltelefon bereits in der Hand, um es dann zutiefst verletzt in eine Ecke zu schleudern, weil sie ihn doch nicht erreichen kann. Erschöpft wirft sie sich aufs Sofa und beginnt, hemmungslos zu schluchzen.
*
Das Wasser des Pools leuchtet unnatürlich blau, und die Abendsonne zaubert Milliarden funkelnde, glitzernde Sterne auf die Oberfläche. Das glaubt mir kein Mensch, denkt Kokoschansky, während er seine Runden dreht, dass ich im Becken eines Mafiabosses schwimme.
Der `Ndrangheta-Mafioso und der ehemalige Kroatengeneral bevorzugen das Trockene, dösen scheinbar auf komfortablen Liegen unter Schatten spendenden, riesigen Sonnenschirmen und lassen den Journalisten keine Sekunde aus den Augen.
Der Italiener muss viele Feinde haben. Selbst im Parkgarten patrouillieren schwer bewaffnete Posten mit stoischen Mienen und verstecken ihre Augen hinter Sonnenbrillen. Etwas abseits, dezent im Hintergrund, unterhalten sich kichernd einige Frauen. Wahrscheinlich Madeos Familienangehörige. Einige sind sehr jung, und in ihren knappen Bikinis können sie es locker mit jedem Topmodel aufnehmen. Kokoschansky hängt sich an den Beckenrand, während Saller eine Bahn nach der anderen im Kraulstil durchzieht.
Robert Saller hat sich einen erstklassigen Unterschlupf gewählt. Hier steht er unter dem Schutz der kalabrischen Mafia und selbst wenn es die montenegrinische Polizei weiß, dass er sich hier aufhält, wird sie nichts dagegen unternehmen. Warum sich unnötig das Leben erschweren? Mit Salvatore Madeo werden sie sich nicht anlegen, und ihr Schweigen wird sicherlich fürstlich entlohnt werden. Und der Boss selbst wird schon genügend Gründe haben, warum er Italien und Deutschland den Rücken kehrt. Vielleicht ist es auch nur ein Wohnsitz von vielen?
Natürlich wäre es am einfachsten, zurück in Wien, Interpol und Europol zu informieren. Heimlich stellen Zielfahnder Montenegro auf den Kopf. Madeo würde sich wohl herauswinden können. Er ist wie Teflon, nichts bleibt an ihm haften. Kokoschansky könnte Zeugenschutzprogramme und Kronzeugenregelungen in Anspruch nehmen. Aber er will nicht das Untergrundleben eines Roberto Saviano führen, der mit seinen Büchern ganz oben auf der Todesliste der Camorra steht.
Koschansky stößt sich wieder vom Beckenrand ab, macht ein paar Tempi. Er empfindet keinerlei Skrupel, wenn er Saller, Madeo und Daramcić nicht ans Messer liefert. Dafür werden andere sorgen. Es geht nicht nur um sein Überleben, auch um seinen Sohn, Lena und Sonja.
Viel wichtiger erscheint ihm, durch die Informationen, die er von den dreien zu erhalten hofft, vielleicht ein paar dieser Biedermänner in der österreichischen Politik von ihren hohen Rössern zu holen und aus dem Verkehr zu ziehen, die sich mit ihren weißen Westen brüsten und das Stimmvieh, ihre Wählerschaft, von vorne bis hinten belügen und für dumm verkaufen wollen, was ihnen leider viel zu oft gelingt. Die Politik ist der beste Nährboden für Organisierte Kriminalität, weil sie von ganz oben gedeckt wird und dadurch ihren illegalen Geschäften den Anstrich von Legalität und Seriosität gibt, Milliarden waschen kann, zurück in den legalen Wirtschaftskreislauf einschleust, bis niemand mehr den wahren Ursprung entdeckt.
Es sind zwei parallel verlaufende Teufelskreise, einer legal und der andere illegal. Einer profitiert vom anderen, und die Schnittmenge ergibt die Organisierte Kriminalität. Schließlich geht es in beiden Kreisläufen ausschließlich um Macht, deren Erhalt und Ausbau, somit in letzter Instanz nur um das ganz große Geld.
»Na, Koko, wird Zeit fürs Abendessen«, lacht Saller und hievt sich aus dem Becken, »der Fraß im Flieger kann ja nicht satt machen.« Sein durchtrainierter und muskelbepackter Körper glänzt im Sonnenlicht, und Wassertropfen perlen wie winzige Diamanten von seiner braun gebrannten Haut ab. Keine Spur von der üblichen Gefängnisblässe. Wären nicht einschlägige Tätowierungen vorhanden, könnte man diesen Mann bedenkenlos den Vorstandsetagen einer Bank, eines IT-Konzerns oder jedes anderen Unternehmens zuordnen. Keine Spur vom gängigen Gangsterklischee mit schweren Goldketten um den Hals, Armbändern und protzigen Ringen an den Fingern. Gebildet, eloquent, gesundheitsbewusst lebend, Anhänger fernöstlicher Philosophien und dennoch hart, unerbittlich, gnadenlos, wenn es erforderlich ist.
»Außerdem willst du wohl wissen, warum du hier bist.«
»Nun, es wird nicht unbedingt die Sehnsucht nach mir sein«, kontert Kokoschansky schlagfertig und steigt aus dem Wasser. Sofort ist ein dienstbarer Geist zur Stelle und hilft den Männern in flauschige Bademäntel.
»In fünfzehn Minuten im Patio«, sagt Saller, »bis gleich.« Lässig schlendert er zur palastartigen Villa.
Eine leichte Brise weht köstliche Gerüche in Kokoschanskys Nase. Er sucht sein Zimmer auf, das ihm gleich nach seiner Ankunft zugewiesen wurde, um sich umzuziehen. Wenn überall Gorillas herumstehen, werden ebenso überall elektronische Augen wachsam sein. Er ist sich sicher, keinen Meter auf dem Areal unbeobachtet zu bleiben. Wahrscheinlich wurde auch seine vorübergehende Bleibe vorsorglich verwanzt, doch Kokoschansky wird sich hüten, das näher in Augenschein zu nehmen.
In seinem Zimmer mangelt es tatsächlich an nichts. Der Gastgeber hat sogar dafür gesorgt, dass einige Porno-DVDs dezent neben dem Recorder liegen. Es wäre interessant zu erfahren, wer wohl alles schon in diesem Bett geschlafen hat. Die Einrichtung ist ein guter Mix aus Designermöbeln und antiken Stücken. Kein Problem mit unbegrenzter Kohle im Hintergrund.
Kokoschansky zieht sich fertig um, T-Shirt und Jeans werden hoffentlich ausreichend sein. Unter den Arkaden im Patio steht eine riesige Tafel, und die Speisenmenge reicht aus, um eine gesamte Kompanie zu verpflegen. Der Hausherr lässt sich nicht lumpen.
Kokoschansky ist zwar alles andere als ein Gourmet, aber was seine Augen sehen, lässt ihm das Wasser im Munde zusammenrinnen. Dann speisen wir eben mit der Mafia, sagt er sich insgeheim, und sollte er wirklich so alt werden, kann er das einmal seinen Enkeln erzählen. Italienische, kroatische und montenegrinische Spezialitäten – er hat keine Ahnung, was hier alles dargeboten wird. Auf jeden Fall nur das Beste vom Besten und das Feinste vom Feinen. Die typische südländische Gastfreundschaft kommt zum Ausdruck.
»Prego«, bittet Salvatore Madeo, Platz zu nehmen. Es ist das erste Mal in Kokoschanskys Gegenwart, dass er ein Wort spricht. In der Mitte des Patios steht ein großer Tisch, gedeckt mit einem blütenweißen Tischtuch, darauf erlesenes Geschirr, Besteck und Kristallgläser. Ein Fünf-Sterne-Restaurant könnte es nicht besser arrangieren.
Kokoschansky bemerkt, dass weder Frauen noch Kinder zu sehen sind. Südländischer Machismo. Das Quartett will, abgesehen von den unvermeidlichen Bodyguards, die unter den Arkaden Wache schieben, unter sich bleiben: Madeo, Saller, Daramcić und der Journalist. Ein Diener serviert auf einem Silbertablett den Aperitif. Für den Italiener und den General Schnaps, Saller und Kokoschansky bekommen Fruchtsaft aufgetischt.
»Salute«, Madeo spricht zum zweiten Mal.
»Ich habe Don Salvatore informiert«, Saller sitzt Kokoschansky gegenüber, »du trinkst ebenso wie ich keinen Alkohol.«
»Grazie«, bedankt Kokoschansky sich höflich, der Mafiaboss quittiert stumm mit einem Kopfnicken.
»Wir werden unsere nette Plauderei auf Deutsch abhalten«, ergreift Saller wieder das Wort, »Don Salvatore und Branko sprechen hervorragend Deutsch.« Madeo gibt einem Diener einen Wink, und sofort werden die Antipasti serviert. »Wir können ungestört und offen sprechen. Hier gibt es keine feindlichen Augen und Ohren. Meine Freunde waren äußerst skeptisch und misstrauisch, als ich dich ins Spiel brachte. Du musst wissen, Koko, Don Salvatore hasst Journalisten wie die Pest. Geschweige denn gestattete er jemals einem aus deiner Zunft, überhaupt nur in seine Nähe zu kommen, seinen Grund und Boden zu betreten, in seinem Haus zu wohnen und mit ihm an einem Tisch zu essen. Du bist der Erste und wirst zugleich der Letzte sein. Ich bürge für dich, Koko, und du wirst mich, uns nicht enttäuschen. Ich muss dir das sagen, der Padrone besteht darauf. Wenn du trotzdem Absichten hegst, gegen uns vorzugehen, wirst du es nicht überleben. Aber auch nicht deine Freundin und dein Sohn. Sie werden vor dir sterben, dann du und zuletzt ich, weil ich dich in Don Salvatores Haus gebracht habe. So sind die Regeln. Omertá, das Schweigen, du verstehst.«
»Ich habe verstanden.«
Und trotzdem küsse ich dem Itaker jetzt nicht die Hand, wie man es aus einschlägigen Filmen kennt. Macht es nicht so spannend, sagt mir endlich, was ihr zu sagen habt, damit ich wieder abhauen kann.
Der Diener serviert den ersten Gang.
»Eine montenegrinische Spezialität, Karpfen mit Pflaumen«, erklärt Saller, »eine wahre Gaumenfreude. Für den Padrone arbeiten nur die besten Köche.« Gekonnt zerteilt er den Fisch. »Ich hoffe, du nimmst es uns nicht übel, dass wir dich gefilzt haben, aber ich denke, du hast dafür Verständnis.«
»Kein Problem.«
»Du hast bei Don Salvatore Bonuspunkte, weil du ohne deinen Reporterkram angereist bist. Keine Kamera, kein Tonbandgerät, nur ein Notizblock mit weißen Blättern. Du wirst ihn nicht brauchen. Morgen setzen wir dich wieder ins Flugzeug nach Hause, und du wirst reichlich mit bestimmtem Material versorgt sein. Du wirst wissen, wie du es zu verwerten hast. Don Salvatore hat es sehr imponiert, dass du Handy und Akku getrennt mit dir führst. Ein Zeichen, dass du gewillt bist, mit uns als Verbündeter zusammenzuarbeiten.«
»Teilzeitverbündeter«, korrigiert Kokoschansky sofort. Langsam hat er dieses Geplänkel satt. Auch der Fisch schmeckt ihm nicht mehr. »Meine Herren, ich weiß Ihre Gastfreundschaft, Ihr Entgegenkommen und die Aufnahme in Ihrem Haus, Don Salvatore, sehr zu schätzen, und ich danke auch dafür. Aber ich ersuche Sie, halten Sie mich nicht für einen Trottel. Natürlich weiß ich, dass man mich ständig beobachtet. Das ist mir klar.«
»Haben Sie in der Zwischenzeit telefoniert?«, fragt Salvatore Madeo unverblümt.
»Nein, Don Salvatore.« Kokoschansky zieht Handy und Akku aus den Taschen seiner Jeans, legt beides auf den Tisch. »Wollen Sie es überprüfen?« Madeo winkt ab, und der Journalist glaubt, zum ersten Mal etwas wie den Anflug eines Lächelns in diesem Steingesicht zu erkennen.
»Wenn wir schon dabei sind, meine Lebensgefährtin ist Polizistin, und zu meinem Freundeskreis gehören auch viele Bullen. Robert weiß es. Ist es ein Problem für Sie, Don Salvatore? Oder für Sie, Herr Daramcić? Aber das wissen Sie doch sicher alles.«
»Sie sind kein Selbstmörder, Signore Kokoschansky«, sagt Madeo leise und blickt den Journalisten durchdringend an. »Sie stürzen auch nicht Ihre Familie ins Unglück. Sie legen sich nicht mit der `Ndrangheta an. Mit keinem von uns, der hier am Tisch sitzt. Wir vertrauen Ihnen, sonst wären Sie gar nicht hier.«
»Gut«, stellt Kokoschansky fest, »somit wäre das geklärt. Worum geht es konkret? Warum bin ich hier?«
»Die Lage hatte sich für mich enorm zugespitzt«, erklärt Saller, »ich war im Gefängnis nicht mehr sicher. Husky und Rambo waren bereits wieder draußen und konnten daher meine Flucht organisieren. Mir war bereits nach meiner Verhaftung in München klar, dass ich dich, Koko, irgendwann kontaktieren werde, damit du einige Dinge öffentlich klarstellst. Es tut mir leid, dass bei meinem Ausbruch eine Krankenschwester verletzt wurde. Der Niederschlag in dieser brutalen Intensität war nicht gerechtfertigt, und ich habe den Verantwortlichen danach zur Rede gestellt. Du weißt, ich bin kein Schläger, es lässt sich nicht mit meiner grundsätzlichen Lebenseinstellung vereinbaren. Leider ist man manches Mal gezwungen, solche Mittel anzuwenden.«
»Ich weiß, wie das Geschäft funktioniert.« Sallers Rechtfertigungsversuche ärgern Kokoschansky. »Wegen mir musst du dir keinen Heiligenschein umhängen.« Kokoschansky konnte sich nicht bremsen.
»Ich wollte es nur gesagt haben«, antwortet Saller ruhig.
»Warum bist du getürmt?«
»Weil ich meines Lebens nicht mehr sicher war. Ich bekam eine Warnung, dass sie einen Georgier, einen Einbrecher, auf mich angesetzt hatten, der mich während des Hofganges kaltmachen sollte.«
»Wer sind sie?«
»Honsa mit dem Griechen und der Dritte im Bunde, Katterka.«
»Was?« Kokoschansky fällt beinahe die Gabel aus der Hand. »Kannst du das beweisen?«
»Abwarten, ich bin noch nicht fertig. Den Hurensohn von Griechen hat es bereits erwischt. Das ist sehr gut. Dem Erfinder des Satellitenfernsehens sei Dank, aber es wäre mir auch so nicht entgangen. Wenn du glaubst, ich hätte dabei meine Finger im Spiel gehabt, muss ich dich enttäuschen. Diese Drecksarbeit hat ein anderer erledigt, aus welchen Gründen auch immer. Es ist nicht wichtig und interessiert mich nicht. Hauptsache, den Griechen fressen die Würmer. Ohne seine Gouvernante und gleichzeitiges Gehirn ist Honsa hilflos. Es wird der Tag kommen, an dem ich mit ihm abrechnen werde. Oft genug habe ich ihm ausrichten lassen und selbst angeboten, tragen wir unsere Probleme von Mann zu Mann in einem Cagefight aus. Wer danach nicht mehr aufstehen kann, lässt den anderen für immer in Ruhe. Die feige Ratte sagte zwar immer zu, erschien aber niemals, weil er genau wusste, dass er mir unterlegen gewesen wäre. Er muss vor mir verdammt viel Angst haben, selbst als ich eingesessen bin. Zuerst klopfte er große Sprüche und triumphierte, aber dann zitterte er, weil er dachte, ich würde singen. Als auch noch Husky und Rambo draußen waren, weil nichts von den Anklagepunkten übrig geblieben war«, Saller lächelt hintergründig, »und die Zeugen reihenweise umfielen, machte er sich mitsamt Katterka in die Hosen. Deshalb setzte man den Killer auf mich an. Mein Pech war, dass ein kompletter Einbrecherring, nur aus Georgiern bestehend, ausgehoben und in die JVA Josefstadt eingeliefert worden war. Jeder hätte es sein können.«
»Leuchtet mir ein«, bemerkt Kokoschansky, »aber warum habe ich das BKA am Hals?«
»Du meinst diese beiden Blödmänner Lackner und Erharter? Auch darüber weiß ich bestens Bescheid und habe auch deinen Auftritt im Fernsehen mitverfolgt. Kompliment, wie du die beiden zerlegt hast, und Katterka steckt dadurch ebenfalls tief in der Scheiße. Nach seinem Wiedereintritt in das BKA und einem neuerlichen Karriereschub holte er sich die beiden als willfährige Lakaien, die sich wiederum durch ihren vorauseilenden Gehorsam ebenso einen Aufstieg erwarteten. Daraus wird wohl jetzt nichts mehr. Katterka fürchtet dich, Koko, deshalb, weil wir miteinander bekannt sind, und er glaubt, dass du von seinem Deal mit Honsa durch mich Bescheid weißt und ihn bei passender Gelegenheit fertigmachen könntest. Katterka hat unglaublich viel Dreck am Stecken.«
»Stimmen die Gerüchte also doch.«
»Keine Gerüchte, sondern die Wahrheit. Katterka stand auf Honsas Payroll.«
»Dann muss der gute Katterka ziemlich tief drinhängen, wenn er sich auf solche Methoden wie mit dem untergejubelten Koks einlässt.«
»Das kann man wohl sagen, mein Freund.«
»Wenn es sich auch beweisen lässt …«
»Geduld, Koko, Geduld. Als ich nach dem Jugoslawienkrieg nach Österreich kam, weil meine Betriebe« – Saller nennt seine Bordelle und Bars grundsätzlich nur Betriebe – »entweder zerstört oder von anderen übernommen worden waren, während ich an den Fronten stand, war ich natürlich alles andere als willkommen. War doch eure Polizei und eure Unterwelt bereits mit den Russen mehr als überfordert, und nun drängten sich auch noch die Tschuschen vom Balkan in den Rotlichtmarkt. Daher schlossen sich Honsa, der Grieche und ein paar andere Strizzis28 zu einer Allianz mit Katterka und seinen Leuten gegen uns zusammen.«
»Und dabei entstanden die Kontrolllisten, die Katterka vorübergehend das Genick brachen.«
»Richtig. Honsas Puffs waren bei Razzien und Kontrollen tabu. Dafür versorgten er und der Grieche Katterka laufend mit Informationen, natürlich mit dem Schwerpunkt Robert Saller. Viel kam ihnen nicht zu Ohren, aber die Bullen durften gratis in den Hütten saufen und sich mit den Mädels vergnügen. Dann kam der Regierungswechsel und somit ein neuer Innenminister, der sich unbedingt profilieren wollte, die Polizei von Grund auf umkrempelte, die Organisierte Kriminalität bekämpfen wollte. Damit war die Allianz gescheitert. Obendrein konnte der Minister Katterka nicht leiden, und daher stand dieser auf der Abschussliste. Aktion scharf gegen das Milieu war angesagt, der Minister musste sich in der Öffentlichkeit, vor seiner Partei und den eigenen Leuten im Ministerium profilieren. Die Kontrolllisten hatten ausgedient, und in Katterka sah Honsa nun einen Feind, weil er das nicht verhindern konnte.
Die Puffs von Honsa und dem Griechen waren nicht länger Sperrzone. Zudem beging Honsa einen fatalen Fehler. In seinem verkoksten Hirn dachte er, als Puffbetreiber könne er sich mit einer Hure alles erlauben, sie habe gefälligst zu spuren. Das Mädel ließ sich nicht einschüchtern, ging zu den Bullen, und Honsa wanderte für knapp fünf Jahre wegen Vergewaltigung in den Bau. Da er im Gefängnis genug Zeit zum Nachdenken hatte, redete er sich ein, ich könnte dahinterstecken, vielleicht sogar im Verbund mit seinem ehemaligen Busenfreund Katterka, dem er nicht verzeiht, dass seine Hütten wieder kontrolliert wurden. Der Grieche lachte sich ins Fäustchen, hielt sich im Hintergrund und stieg zum wahren Boss der Honsa-Betriebe auf, während Honsa in Garsten29 schmorte und nichts mitbekam. Der Grieche unternahm mehrere Versuche, mich auf seine Seite zu ziehen und mit ihm zusammen Geschäfte zu machen, doch ich ließ ihn immer abblitzen. Mit Ratten kooperiere ich nicht. Wieder in Freiheit, ließ der Grieche Honsa in dem Glauben, alles wäre beim Alten geblieben, doch er zog weiterhin die Fäden.
Zusammen dachten sie sich eine Intrige gegen Katterka aus, wobei wiederum der Grieche die treibende Kraft war. Einer ihrer Schläger übernahm den Job, rief Katterka an und bot ihm heiße Zunds aus dem Milieu an. Selbstverständlich von A bis Z getürkt. Blauäugig und naiv tappte Katterka in die Falle, weil er heiß auf die Tipps war und sich unter allen Umständen bei seinem Minister profilieren wollte. Der Grieche ließ das Treffen in einem Wiener Kaffeehaus heimlich fotografieren, übergab die Bilder einem miesen Boulevardjournalisten, der sie natürlich veröffentlichte. Zusätzlich schwor der Schläger gegen ein paar Scheine jeden Eid, dass Katterka ihm kommende Razzien verraten habe. Der Rest ist bekannt. Katterka flog raus, bekam einen Haufen Verfahren an den Hals, wurde verurteilt, kämpfte weiter wie ein Löwe um seine Rehabilitation und Reputation, marschierte durch alle Instanzen, gewann, kehrte zurück und ist heute mächtiger als je zuvor. Dabei griff ihm dieser Oberstaatsanwalt Lukas Bortner unter die Arme, sein alter Parteifreund.«
»Der wird für ihn in Zukunft nichts mehr tun können«, unterbricht Kokoschansky Saller, »den gibt es nicht mehr.«
»Was?« Zum ersten Mal ist Saller, der bis dahin souverän monologisiert hat, irritiert.
»Weißt du das nicht?«
»Was?«
»Bortner hat sich gestern selbst aus dem Leben geschossen. Angeblich. Jedenfalls wurde er in seiner Jagdhütte am Erlaufsee tot aufgefunden. Mehr weiß ich noch nicht.«
»Salute!« Sichtlich hocherfreut hebt Salvatore Madeo sein Glas mit dem herrlich funkelnden Rotwein. »Das nenne ich eine gute Nachricht. Ein buco del culo, ein Arschloch weniger.« Auch Branko Daramcić lässt sich zu einem leisen Lächeln herab und nickt bedächtig mit dem Kopf.
»Wie ich an den Reaktionen erkenne«, schaltet Kokoschansky blitzschnell, »ist den Herren dieser Name nicht unbekannt.«
»Si, Signore Kokoschansky«, bestätigt der Padrone, »aber Roberto soll weitersprechen, er kennt die Zusammenhänge am besten von uns.«
»Bortners Tod, ob nun freiwillig oder nachgeholfen, wird so manches ändern. Langsam nähern wir uns dem Kern. Der Grieche soll angeblich im Besitz von Aufzeichnungen gewesen sein, mit denen er sich in seinen Kreisen ständig brüstete, damit die gesamte Führungsspitze der Bullen in der Hand gehabt zu haben. Schmiergeldzahlungen, Puffbesuche, Konsumationen aufs Haus, das Übliche. Auch Fotos und Videos sollen existieren. Meine Leute schafften es bisher nicht, an das Material heranzukommen. Ist das nicht eine lohnende Aufgabe für dich, Koko?«
»Mal sehen«, Kokoschansky pflegt wieder sein Pokerface und lässt sich nicht in die Karten blicken.
»Hast du schon einmal etwas vom Club 50.000 gehört?«, fragt Saller.
»Schon«, antwortet Kokoschansky, »in unregelmäßigen Abständen tauchen Gerüchte auf und verschwinden wieder. Ich glaube auch nicht, dass die Polizei wirklich etwas darüber weiß.«
»Du kennt das Sodom«, führt Saller weiter aus, »den Nobelschuppen im 1. Bezirk, in dem die feine Wiener Gesellschaft sich trifft, vorwiegend Männer und zahlreiche Mafiosi aus dem ehemaligen Osten.«
»Klar«, grinst Kokoschansky, »nur leisten kann ich es mir nicht.«
»Dann wirst du wissen, dass es einen Sonderbereich gibt, in den nur speziell ausgewählte Gäste hineindürfen und das gegen entsprechend cash. Während im vorderen Teil Tabledance abläuft, geht es hinten richtig zur Sache. Obwohl die Mädchen durchwegs blutjung sind, oft minderjährig, und vorwiegend aus dem Osten, der Dominikanischen Republik und aus Asien stammen, ist das einigen Herrschaften nicht mehr genug. Sie wollen Frischfleisch, wirkliches Frischfleisch und keinerlei Einschränkungen in ihren Perversionen. Das ist ihnen schon fünfzigtausend Euro Gebühr wert. Natürlich sind diverse Sonderwünsche extra zu bezahlen. Sollte tatsächlich einmal ein Mädchen, ich sollte besser Kind sagen, dabei abkratzen, ist die Beseitigung der Leiche inkludiert, und der Herr Anwalt, der Herr Politiker, der Herr Wirtschaftszampano, der Herr Banker, der Herr Werbeguru, der Herr Schauspieler, der Herr Regisseur und so weiter und so fort muss nicht um den öffentlichen Ruf bangen oder massive Probleme befürchten. Selbstverständlich können derartige Sexspiele nicht im Sodom veranstaltet werden. Das wäre zu gefährlich und würde sehr schnell auffliegen. Daher trifft diese exquisite Herrenrunde sich niemals zweimal an einem Ort. Der Grieche beschaffte die Mädels. Einer dieser Mädchenhändler ist ein gewisser Kosta, eine ganz große Nummer. Mehr weiß ich nicht über diesen Typ, es interessiert mich auch nicht, da es nicht mein Stil ist. Honsa wusste davon, und er ließ seinen Kompagnon gewähren.
Mehrmals habe ich versucht, einige meiner Leute in diesen Zirkel einzuschleusen, aber es ist mir nicht gelungen. Wer einsteigen will, braucht zwei bestens bekannte Bürgen. Aber ich denke, wir können uns auch so vorstellen, wer in diesen Kreisen verkehrt. Die Orte, an denen diese Herrenrunde sich trifft, sind immer privat. Meist Villen in vornehmeren Wiener Wohngegenden. Doch so viel haben meine Leute herausbekommen, Bortner gehörte dazu.«
»Sieh mal einer an, der honorige, integre, unantastbare Herr Oberstaatsanwalt«, Kokoschansky ist mehr als erstaunt, lässt es sich aber nicht anmerken, »leider ist er plötzlich für immer verstummt.«
»Nun, Signore Kokoschansky«, klinkt Salvatore Madeo, der bislang sehr aufmerksam zugehört hat, sich in das Gespräch ein, »wir haben derzeit erhebliche Probleme in Ihrer Heimat, vor allem in diesem wunderschönen Kärnten. Was nützen mir die Annehmlichkeiten dieses Wörthersees, wenn ich sie nicht genießen kann, weil mich große Sorgen belasten.«
»Wer ist wir?«, fragt der Journalist ungeniert. Die Geschichte wird immer spannender. Madeo scheint seine Abneigung gegenüber Journalisten zumindest vorübergehend abgelegt zu haben. Oder ist er ein ausgezeichneter Schauspieler?
»Wir? Damit meine ich meine Familie«, antwortet Madeo und blickt Kokoschansky durchdringend an.
»Also die Nammolitis aus Kalabrien«, lässt sich dieser nicht im Geringsten beirren.
»Gut«, Madeo beugt sich leicht vor und spricht noch um einiges leiser als zuvor, »Signore Kokoschansky, Sie haben dieses besagte Wort vorhin genau ausgesprochen. Nämlich zum ersten und zum letzten Mal. Ja, ich bin der Padrone der Nammoliti-Familie, und hier in Montenegro ist einer meiner Stützpunkte. Basta!
Wir brauchen Österreich, vor allem Kärnten. Deshalb müssen einige Dinge sehr rasch bereinigt werden. Dafür brauchen wir Sie, Signore Kokoschansky. Roberto sagte mir, Ihnen kann man vertrauen. Enttäuschen Sie uns nicht.«
»Mit Verlaub, Don Salvatore, ich will die Story, die hinter allen diesen Andeutungen steckt. Mehr nicht.«
»Ich denke«, Madeo lehnt sich gemächlich zurück, pafft einige Sekunden vor sich hin, »auch Sie sind zu kaufen.« Wieder dieses Fingerschnippen. Der Lakai bringt einen Zettel und einen goldenen Füllhalter, legt beides vor Kokoschansky auf den Tisch. »Schreiben Sie Ihre Bankverbindung und Kontonummer auf. Bereits morgen werden Sie um drei Millionen Euro reicher sein.«
Langsam nimmt der Journalist das leere Blatt Papier in die Hand, dreht es ein paar Mal nach allen Seiten, blickt dabei den `Ndrangheta-Boss ebenso durchdringend an, bevor er den Zettel zerknüllt und auf seinen Teller wirft. Saller und Daramcić beobachten aufmerksam die angespannte Situation.
»Don Salvatore«, abrupt steht Kokoschansky auf, »ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft. Ich möchte wieder zurück nach Podgorica, zum Flughafen.«
In seinem Inneren tobt ein Kampf. Während ihn sein innerer Schweinehund einen Volltrottel schimpft, weil er soeben eine sorgenfreie Zukunft ausgeschlagen hat und sich weiterhin aufs Lottospielen verlässt, ermutigt ihn sein Gewissen, standhaft zu bleiben.
Salvatore Madeo deutet Kokoschansky mit einer unmissverständlichen Handbewegung, sich wieder hinzusetzen, und seine Grabsteinmiene verwandelt sich augenblicklich in ein breites Grinsen. »Du hast mir anscheinend wirklich einen sehr guten Mann ins Haus gebracht«, wendet er sich Saller zu, »ich mag Männer mit Mut und Courage.«
»Hätten Sie fünf oder noch besser zehn Millionen gesagt, wer weiß?«, lächelt nun auch Kokoschansky. »Mit Trinkgeld gebe ich mich ungern ab.«
»Game over«, antwortet Madeo unvermittelt und hebt die Hände zum Zeichen, dass diese einmalige Chance, auf die Schnelle reich zu werden, vergeben ist. Die Folge ist dröhnendes Gelächter. Wie verblödet, überdreht und verrückt bin ich eigentlich, fragt sich der Journalist. Ich sitze hier irgendwo in Montenegro, tafle mit Gangstern und finde das auch noch alles super?
Madeos leise Stimme holt ihn wieder aus seinen Gedanken in die Realität zurück. »Wenn Sie Ihre Story haben, Signore Kokoschansky, wird mein Name und der meiner Familie darin aufscheinen?«
»Wenn es erforderlich ist, dann werde ich Ihre Person dermaßen verklausulieren und umschreiben, dass keinerlei Rückschlüsse möglich sind. Aber ich werde sicherlich den Überbegriff Mafia verwenden.«
Salvatore Madeo überlegt ein paar Sekunden. »Gut, einverstanden. Damit kann ich leben.«
»Don Salvatore, Sie sprachen davon, dass Sie Kärnten brauchen.« Kokoschansky findet es an der Zeit, dieses Gespräch endlich in eine heiße Phase zu bringen. »Hat es etwas mit der Estate Carinthia Bank zu tun? Mit Kurt-Friedrich Midas und seinen Kumpanen?«
»Ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, Signore Kokoschansky«, Madeo ist tatsächlich etwas verblüfft, »in der Tat, Sie liegen, wie sagt man in Deutsch, goldrichtig. Doch Midas und seine Leute sind nur willfährige Handlanger. Mehr nicht. Unbedeutende Randfiguren. Sie müssen viel höher ansetzen.«
»Pardon, das ist die Sichtweise eines Außenstehenden, Don Salvatore«, widerspricht Kokoschansky, »in Österreich sorgen seit Jahren gewisse Machenschaften, in denen stets Midas mit seinen Leuten verwickelt ist, für gehöriges Aufsehen, doch bisher konnten nur wenig brauchbare Ergebnisse erzielt werden. Die laufenden Ermittlungen und Verfahren ziehen sich ungeheuer in die Länge, es ist gleichsam ein Auf-der-Stelle-Treten. Tatsache bleibt, dass die Estate Carinthia Bank die Drehscheibe ist.«
»Genau diese linken Touren, die unter jener Regierung, der auch Midas als Wirtschaftsminister angehörte, geschehen sind«, doziert Robert Saller, » sind es und die nun nach und nach aufbrechen. Das bereitet uns große Sorgen. Durch die Gier und Unfähigkeit gewisser ehemaliger Kabinettsmitglieder, nicht nur Midas alleine, sind wir ziemlich in die Bredouille geraten.«
»Sprechen wir es offen aus«, Kokoschansky wagt einen Schuss ins Blaue und wartet die Reaktion ab, »in der Estate Carinthia Bank sind von euch Gelder geparkt, die, behaupte ich einmal, nicht ganz sauber und legal sind. Also Geldwäsche.«
Treffer ins Schwarze, keinerlei Gegenrede. »Wir können diese großen Summen nicht einfach aus dieser Bank abziehen, ohne sofort aufzufallen«, bestätigt Saller indirekt Kokoschanskys Vermutung, »wir würden sofort ins Visier der FMA, der Finanzmarktaufsicht, und der unterschiedlichen Ermittlungsbehörden geraten. Es hat uns viel Mühe, Zeit und Aufwand und Geld gekostet, diese Summen in ein sehr komplexes, für Uneingeweihte kaum zu knackendes Firmengeflecht über verschiedene, verlässliche und verschwiegene Strohleute wieder in den regulären Kreislauf einzuschleusen. Högers plötzlicher Tod hat uns allen sehr geschadet.«
»Du zweifelst also an der offiziellen Version des tragischen Autounfalls?«
»Koko, ich glaube ebenso wenig an Märchen wie du.«
»Du behauptest, es wurde nachgeholfen.«
»Aber mit uns hat es nichts zu tun«, Salvatore Madeo macht dabei eine ausladende Armbewegung in die Runde, »Marius Höger war unser Verbündeter und verdiente durch uns Millionen.«
»Moment, Moment!«, Kokoschansky fasst sich mit den Händen an die Schläfen. »Höger soll Opfer eines Mordanschlags gewesen sein?«
»An einem Auto lässt sich viel manipulieren«, bleibt Saller geheimnisvoll, »ohne dass es der Lenker sofort merkt. Ab einer gewissen Geschwindigkeit tritt plötzlich Unvorhergesehenes ein. Höger war als rasanter Fahrer bekannt. Ein bisschen an der Elektronik herumpfuschen, einer der Airbags explodiert, Höger erschrickt, verliert die Kontrolle über das Fahrzeug und aus die Maus. Eigentlich sehr simpel. So wie dieses Auto zerstört war, konnte niemand mehr den tatsächlichen Unfallhergang rekonstruieren.«
»Da ist tatsächlich einiges dran«, Kokoschansky ist nachdenklich geworden, »und wenn ich ehrlich bin, hat die offizielle Version mich nie überzeugt.«
»An deiner Stelle, Koko«, gibt Saller ihm einen Tipp, »würde ich intensiv bei den al-Qatrs recherchieren.«
»Wie kommst du jetzt auf diese arabische Sippe? Was haben der übergeschnappte Diktator und Höger miteinander zu tun? Gut, der Landeshauptmann war mehrmals bei ihm in seinem Beduinenzelt in der Wüste zu Gast und war eng mit Nazeem, einem der Söhne, befreundet. Na und? Das ist kein Geheimnis, das war überall in den Medien präsent. Inzwischen ist bekannt, dass Höger von Mahmud al-Qatr Geld in beträchtlicher Höhe angenommen hatte, wovon er wahrscheinlich einen Teil in seine Partei investiert hatte.«
»Das ist der springende Punkt«, Saller nippt ein wenig an seinem Mineralwasser, »Mahmud al-Qatr hat hohe Summen über Nazeem in die Estate Carinthia Bank gebuttert. Ein ansehnliches Vermögen, zusammengeraubt vom eigenen Volk, vielleicht auch Terrorgelder, was weiß ich. Ist auch nicht relevant. Tatsache bleibt, die unfähigen Bankvorstände verspekulierten mit Högers Einverständnis die gesamte Kohle in windigen Investitionen und mit dubiosen Kreditvergaben. Die ECB war nichts anderes als Högers privater Selbstbedienungsladen. Dann wollte Mahmud al-Qatr sein Geld zurück, und sein Sohn sollte es organisieren. Höger musste Farbe bekennen und beteuerte, von allem nichts gewusst zu haben. Die al-Qatrs interessierte das nicht. Plötzlich landete der Landeshauptmann im Jenseits. Mehr gibt es wohl dazu nicht zu sagen.«
»Wir brauchen Österreich«, dabei pocht Salvatore Madeo mit dem Zeigefinger auf die Tischplatte, »vor allem diese Estate Carinthia Bank. Euer striktes Bankgeheimnis kommt uns sehr entgegen. Wir müssen unsere in der ECB gebunkerten Vermögen schützen, auch wenn die Bank inzwischen von Ihrer Regierung notverstaatlicht werden musste, um sie vor dem endgültigen Bankrott zu retten.«
»Wenn wir schon so offen sprechen«, will Kokoschansky es jetzt genau wissen, »um welche Gelder handelt es sich?«
Die drei Männer wechseln rasche Blicke untereinander. Zuerst sprechen Saller und Madeo einige Minuten italienisch miteinander, dann parliert Saller mit Daramcić in ihrer kroatischen Muttersprache. Kokoschansky versteht nicht ein Wort und wartet angespannt das Ergebnis dieser internen Konferenz ab.
»Wenn wir dich nur ein bisschen in diese Geschäfte einweihen, Koko«, Saller beugt sich leicht vor, und seine Stimme klingt nun bedrohlich, »kann es für alle Beteiligten sehr gefährlich werden. Ich kenne dich, und ich vertraue dir, aber wie können wir dennoch sichergehen, dass du uns mit diesen Informationen, unabhängig von dem Material, das wir dir später übergeben werden, nicht doch ans Messer lieferst? Kein österreichischer Journalist bekam jemals diese einmalige Chance, und es wird sie auch kein zweites Mal geben.«
Noch besteht für Kokoschansky die Möglichkeit aufzustehen, sich für die Gastfreundschaft zu bedanken und nach Hause zu fliegen. Er ist sich sicher, sie lassen ihn ungeschoren gehen. Er ist zwar inzwischen in diese Geschichte tief verstrickt, aber noch nicht tief genug, um nicht mehr umkehren zu können. Will er sich tatsächlich vereinnahmen, sich indirekt zu einem Handlanger der Mafia und aller unschönen Begleitumstände machen lassen? Auch wenn ihm keine Millionen mehr angeboten werden, ist es nicht dennoch ein Verkauf seiner Unabhängigkeit und Freiheit? Kann er das vor sich selbst verantworten, lässt es sich mit seinem journalistischen Verständnis und der Ethik vereinbaren? Es ist ein ungeheurer Grenzgang ohne Absicherung und Rückzugsmöglichkeiten, wenn er diesen Weg beschreitet.
»Ich kann garantieren, eure Namen beziehungsweise eure Personen, wie schon einmal erwähnt, dermaßen zu verschleiern, dass niemand Rückschlüsse auf die wahren Identitäten ziehen kann. Ich will mich jedoch nur auf die österreichischen Missstände, auf Midas und seine Leute, konzentrieren. Wenn danach andere Journalisten weiter herumstochern, vielleicht etwas ausgraben, was euch nicht in den Kram passt, darauf habe ich dann keinen Einfluss mehr. Hätte ich beispielsweise böse Absichten gegenüber dir, Robert, gehegt, wärst du jetzt nicht hier, sondern wieder in deiner Zelle. Es wäre sehr leicht gewesen, dich im Krankenhaus hochgehen zu lassen.«
»Stimmt. Aber du hättest dir enorme Probleme eingehandelt«, kontert Saller, »die für dich fatal ausgegangen wären.«
»Vielleicht verfolgen Sie nur eine bestimmte Taktik, Signore Kokoschansky?« Jetzt geht es ans Eingemachte. Nun wollen sie den Journalisten abchecken und austesten.
»Und worin soll der Sinn liegen, Don Salvatore?«, stellt Kokoschansky die Gegenfrage und gibt sich gleich selbst die Antwort: »Angenommen, ich bin der falsche Hund, für den man mich anscheinend doch hält, wäre es doch nur logisch gewesen, Robert noch in Wien zu verpfeifen. Dann müsste ich mich nur mit einem Gegner herumschlagen, nämlich mit dir, Robert, und deinen Leuten. Wahrscheinlich wäre mir inzwischen«, der Journalist kann sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, »ähnlich wie Höger ein tödlicher Unfall widerfahren. Nun bin ich hier, und sollte ich, zurück in Wien, wirklich schnurstracks zu den Bullen laufen, dann«, er findet, ein bisschen Bauchpinselei zur richtigen Zeit kann nicht schaden, »kämen noch zwei äußerst mächtige Gegner hinzu.« Dabei zeigt Kokoschansky ungeniert mit dem Zeigefinger zuerst auf Madeo und danach auf Daramcić. »Womit meine Überlebenschancen und die meiner Angehörigen gleichsam auf null sinken würden. Ich bin nur an der Story interessiert.«
»Signore Kokoschansky«, Madeos Ton klingt jetzt geradezu väterlich, »keiner von uns schätzt Sie als falschen Hund ein. Sonst wären Sie gar nicht so weit gekommen. Außerdem bürgt Roberto für Sie. Aber Sie schätzen Ihre Lage richtig ein. Uns geht es lediglich darum, was und wie Sie berichten werden, wenn Sie mit den nötigen Informationen versorgt worden sind.«
»Don Salvatore, bisher bekomme ich wie ein Hund ein paar Knochen hingeworfen, die für mich noch keine Komplexität für eine Riesengeschichte ergeben. Daher behandeln Sie mich, mit allem gebotenen Respekt, auf Augenhöhe, wobei ich nochmals ausdrücklich betone, ich bin weder der Gehilfe von Ihnen und Ihrer Familie noch von Robert oder von sonst wem. Was immer Sie mir an Informationen übergeben, ich werde sie nach meinen Richtlinien auswerten und verwenden, aber niemand wird mich steuern. Niemand wird mir diktieren, wie und was ich wie zu schreiben habe. Ich bin kein Lohnschreiber. Ich bin ein freier, unabhängiger Journalist. Ich alleine verantworte, wie weit ich mich aus dem Fenster lehnen werde, und ich alleine trage dafür allfällige Konsequenzen. Wenn Sie das akzeptieren können, machen wir weiter. Wenn nicht, hat es mich gefreut, Sie kennen gelernt zu haben, und ich verziehe mich sofort wieder nach Wien zurück.«
Die Würfel sind gefallen, Kokoschanskys Entscheidung ist fix. Wieder werfen Madeo, Saller und Daramcić sich lange, vielsagende Blicke zu, und dieses Mal schweigen sie.
»Ein Mann, ein Wort«, sagt Salvatore Madeo nach einer Weile, die für Kokoschansky unerträglich scheint. »Gut, Sie sind tatsächlich unser Mann«, und als er Kokoschanskys abweisende Geste sieht, schwenkt er sofort um. »Scusi, ich meine, der Mann, der vielleicht beitragen kann, unsere Probleme in Österreich weitgehend zu entschärfen. Ist diese Formulierung nun korrekt gewesen, Signore Kokoschansky?«
»Damit kann nun ich wiederum leben. Höger und seine Probleme mit den al-Qatrs rund um die Estate Carinthia Bank zeigen nur eine Seite der Medaille. Wie sieht die andere aus?«
»Sehr vielschichtig, Koko«, auf einen Wink Madeos leitet nun Saller wieder das Gespräch. »Klartext. Natürlich geht es um unsaubere Geschäfte, um Geldwäsche in großem Stil, was sonst? Warum ist die Estate Carinthia Bank in Klagenfurt so enorm wichtig für uns? Weil sie für uns, geografisch gesehen, äußerst günstig liegt. Sowohl von Italien wie auch von Kroatien aus ist die Stadt leicht zu erreichen. Höger war für uns drei unser Verbindungsmann. Die Estate Carinthia Bank ist zwar eine österreichische Staatsbank, war aber in Wirklichkeit Högers Privatbank, in der er sich nach Lust und Laune bediente. Ob nun für eigene Zwecke oder tatsächlich zugunsten Kärntens ist uns egal gewesen. Für uns war wichtig, dass wir in ihm einen zuverlässigen Partner hatten und einen Ort, wo wir unsere Gelder parken konnten. Leider beging er den fatalen Fehler, die Bank von einem zwar willfährigen, ihm gegenüber treu ergebenen, aber umso unfähigeren Vorstand leiten zu lassen. Wahrscheinlich um sich die Gunst ihres Herrn nachhaltig zu sichern und ihm gegenüber ihre Tüchtigkeit zu beweisen, unternahmen sie diese tollpatschigen Investments und fielen auf die Schnauze. Nachdem Höger erfahren hatte, was Sache war, musste er, wie gesagt, gegenüber Nazeem al-Qatr Farbe bekennen, der wiederum seinem Vater Rede und Antwort stehen musste. In einem verzweifelten Schachzug versuchte Höger zu retten, was noch zu retten war, und offerierte den Bayern die Bank, die schon längere Zeit ein Auge auf die Estate Carinthia Bank geworfen hatten, ohne natürlich nicht auf den eigenen Vorteil zu vergessen. Kurzum, er machte dem bayerischen Ministerpräsidenten den Mund wässrig, da dieser wiederum für die nächsten Wahlen kandidieren wollte und daher nach allem griff, was ihm öffentlich Bonuspunkte bringen könnte. Schließlich stand diese Bank mit ihren gefälschten Bilanzen bestens da, aber das wussten die Bayern damals noch nicht. Höger zog die Bayern über den Tisch. Die Geschäfte zwischen Höger und den al-Qatrs waren uns gleichgültig, doch seine Bankleute pfuschten gehörig und arbeiteten mehr als dilettantisch. Zu unserem Nachteil. Gelder wurden hin und her verschoben, auch unsere, vermischten sich mit den Geldern der Araber. Das alte Loch-auf-Loch-zu-Prinzip.
Kurt-Friedrich Midas, damals noch Wirtschaftsminister, sahnte dabei kräftig ab. Bis es schließlich den al-Qatrs zu blöd wurde, und sie Höger ein Ultimatum stellten. Don Salvatore, Branko und ich glauben, Höger wollte tatsächlich den inzwischen entstandenen Schaden wiedergutmachen, doch die Karre steckte schon viel zu tief im Dreck. Jetzt mussten die Araber handeln und plötzlich knallte es. Da verstehen sie keinen Spaß. Gestern noch Freund, heute schon Todfeind. Dass Nazeem al-Qatr medienwirksam bei Högers bombastischem Begräbnis anwesend war, nichts weiter als Show. Jetzt war endgültig Feuer am Dach. Die Bayern sind aus einem anderen Holz geschnitzt als die Österreicher, im Besonderen die Kärntner. Sie fühlten sich betrogen und riefen sämtliche Behörden auf den Plan. Warum glaubst du, Koko, bin ich in München gelandet, als ich aus der Dominikanischen Republik kam? Ich wollte mich mit Don Salvatore treffen, und wir beabsichtigten, mit einigen Münchner Bankleuten, die auf seiner Payroll stehen, unsere Angelegenheiten zu regeln. Leider kam mir meine Verhaftung in die Quere, weil ich verpfiffen worden bin.«
»Wer hat dich ans Messer geliefert?«, unterbricht Kokoschansky.
»Ich kann es noch nicht beweisen, aber ich bin mir sicher, dahinter steckte Katterka. Er wusste, dass ich ein nettes Häuschen in der DomRep besitze, und wartete nur darauf, bis ich wieder nach Österreich zurückkehrte. Aber das ist eine andere Front.
Nach Högers Tod dachte dieser völlig ahnungslose und korrupte ehemalige Wirtschaftsminister, dessen Erbe antreten zu müssen, und nahm auch noch seine Parteifreunde mit ins Boot, die um keinen Deut besser als er sind. Naiv, blöd und gierig wickelten sie Transaktionen ab, die über kurz oder lang platzen mussten, cashten aber selbst mächtig ab, und nun stehen sie in der Sackgasse. Diese Misswirtschaft konnte auf längere Sicht auch deinen Kollegen nicht verborgen bleiben, weil es unglaublich selbstherrlich und dumm vonstattengegangen war. Wir wissen, dass in den österreichischen Medien laufend darüber berichtet wird und die Öffentlichkeit inzwischen in dieser Thematik sehr sensibilisiert ist. Der Staub, der dadurch aufgewirbelt wird, passt uns gar nicht in den Kram und schadet uns nur. Mich wundert, dass du noch nicht in diesem Sumpf herumstocherst, Koko.«
Kokoschansky zündet sich eine weitere Zigarette an. »Weil mir bereits zu viele darin herumwaten und sich in Midas verbeißen. Ich will aber die grauen Eminenzen, die wirklichen Hintermänner zu Fall bringen. Midas und seine Parteihengste sind zwar naiv und dumm, aber auch durchtrieben, bauernschlau und abgebrüht. Eben nichts weiter als kleine Lichter, die am großen Kuchen mitnaschen wollten und, wie man inzwischen weiß, es auch gründlich getan hatten. Der, der einiges wusste, Oberstaatsanwalt Bortner, hat sich leider überraschend angeblich selbst das Lebenslicht ausgeblasen.«
»Du wirst diese Hintermänner von uns frei Haus geliefert bekommen, Koko.«
»Hattet ihr jemals mit der Agentur eines gewissen Othmar Kaltengruber zu tun? Einem Lobbyisten, der mächtig Dreck am Stecken hat und ständig mit Midas und dessen Kumpanen mauschelte.«
»Nein«, antwortet Saller, »aber wir wissen, wer er ist. Du nimmst mir das Wort aus dem Mund, Koko, ich wollte dich gerade auf diesen Typen aufmerksam machen. Er stand zwar im Fadenkreuz Bortners, doch konnte ihm bisher nichts nachgewiesen werden. Er ist eine der Schlüsselfiguren.«
»Ich frage mich bereits die ganze Zeit über«, Kokoschansky nimmt kein Blatt mehr vor den Mund, »und ich kann mir sehr gut vorstellen, dass ihr genügend Leute an der Hand habt, warum ihr nicht mit euren Mitteln ein paar Leute zum Schweigen bringt.« Eine brisante Wortwahl, die der Journalist gebraucht, aber inzwischen ist es egal geworden.
»Sprechen Sie ruhig aus, was Sie denken, Signore Kokoschansky«, beginnt Salvatore Madeo bedächtig, aus dem Nähkästchen zu plaudern. »Sie meinen ein paar Killer ausschicken und Figuren, wie zum Beispiel Midas, eliminieren? Sicherlich wäre das eine Option, wenn auch eine sehr schlechte. Man setzt die Mafia immer noch gleich mit waffenstarrenden, dumpfen Männern, die zuerst schießen und danach fragen …«
»Und was sehe ich hier?«, kann Kokoschansky es nicht lassen, deutet in die Runde, wo in angemessener Entfernung genau diese waffenstarrenden Männer den Tisch bewachen und im Auge behalten.
»Das sind Leibwächter, Bodyguards, wie unschwer zu erkennen ist«, weist Madeo ihn barsch zurecht, »unterbrechen Sie mich nicht, wenn ich versuche, Ihnen zu erklären, was wirklich Sache ist.« Kokoschansky nickt, hebt die Hände als Zeichen, dass ihm seine vorlaute Art leidtut. »Sie sind ein gebildeter, wohlinformierter Mann, Signore Kokoschansky«, Madeos Stimme ist wieder versöhnlich geworden, »daher wissen Sie, welche ungeheure Macht meine Familie und andere Clans in unserem Verbund haben und dass wir über ungeheuren Reichtum verfügen. Eines greift ins andere. Geld ist Macht, und Macht entsteht durch Geld. Wenn wir wollen, können wir es uns leisten, Staaten zu kaufen. Wir sind in der Lage, Staatshaushalte zu sanieren. Warum sollten wir das tun? Die Mafia von heute verfolgt ganz andere Ziele als noch vor einigen Jahrzehnten. Es geht nicht mehr nur darum, welcher Clan welches Gebiet kontrolliert, wer an wem seinen pizzo… wie heißt es in Deutsch … Schutzgeld zu bezahlen hat. Damit kann man sich bei uns seine ersten Sporen verdienen und wenn wir befinden, wir können diese Männer gebrauchen, dann dürfen sie sich langsam weiter hocharbeiten. Heute ist Bildung für uns enorm wichtig. Meine Söhne haben in Oxford, Bologna, Paris und Yale studiert. Studienrichtungen, die für unsere Familie von äußerster Wichtigkeit sind. Jura, Ökonomie, Betriebswirtschaft, Management, Informatik. So gehen auch inzwischen alle anderen Familien vor. Nach erfolgreichen Studienabschlüssen und ihren Fähigkeiten entsprechend schleusen wir unsere Angehörigen in die für uns Vorteile bringenden Schlüsselpositionen ein, und niemand hat auch nur die geringste Ahnung, wer tatsächlich hinter den Schreibtischen sitzt, Entscheidungen zu unseren Gunsten tätigt, Gesetze in unserem Sinne beschließt und Trends in unserem Sinne beeinflusst. Wir danken den Schöpfern der EU, dieser wunderbaren Schlaraffenlandinstitution, weil wir endlich in Europa nach Belieben schalten und walten können, wie es uns passt. Brüssel muss gute Miene zum bösen Spiel machen. Wir bedienen uns aus den Fördertöpfen nach Belieben. Uns kann niemand aufhalten. Weder Sie, Signore Kokoschansky, noch Tausende Ihrer Kollegen. Keine Antimafia-Gesetze, keine Sondereinheiten, keine Antikorruptionsbehörden, keine Staatsanwaltschaften, keine Polizei, keine Armeen auf diesem Planeten. Wir sitzen mitten im Herzen der EU, in Brüssel, wie in beinahe allen Staaten dieser Welt und bekleiden in unterschiedlichsten Funktionen Schlüsselämter. Es gibt dieses geflügelte Wort. Warum leckt sich der Hund seine Eier? Weil er es kann. Im übertragenen Sinne können wir es auch.
Politik und Mafia gehen Hand in Hand. Das war immer so und wird sich auch nie ändern. Aneinandergekettet auf Gedeih und Verderb. Oder, wenn Sie so wollen, wie ein altes Ehepaar. Einer kann nicht ohne den anderen. Bis einer der beiden stirbt. Politik unterliegt dem Wandel der Zeiten. Politiker kommen und gehen, die Mafia verstand es immer hervorragend, sich den gegebenen gegenwärtigen Umständen anzupassen und daraus Nutzen zu ziehen.
In unseren Kreisen gibt es nur den Tod, keine Scheidung. Wer sich trennen will, ist bereits tot. Wir vergessen nichts und niemanden, selbst wenn es Jahrzehnte dauert. Für uns sind Menschen eine Ware, daher kaufen wir Menschen, um weiter unsere Macht und unseren Einfluss ausbauen zu können.
Wissen Sie, wie wir groß wurden? Heute ist es kein Geheimnis mehr. Den Grundstein für unsere heutige Macht und unseren Einfluss legten wir vor vielen Jahrzehnten mit Entführungen von Menschen in großem Stil und dort, wo die Lösegeldforderungen sich lohnten. Diese erpressten Gelder investierten wir beispielsweise in der Baubranche, in Immobilien, in der Müllentsorgung und anderen Bereichen. Bis wir so weit waren, um im internationalen Drogenhandel mit den Südamerikanern mithalten zu können. Wenn die Menschen Drogen nehmen wollen, bekommen sie diese auch. Ein lukratives Geschäft, nicht mehr und nicht weniger.
Sie denken, Signore Kokoschansky, Sie sind nicht käuflich.« Ein feistes Lächeln tritt in Salvatore Madeos Gesicht. »Ja, Sie haben mein finanzielles Angebot strikt abgelehnt. Doch es hat nichts geändert. Ich habe Sie mir mit dem Angebot einer tollen Exklusivstory gekauft. Das haben Sie nicht abgelehnt. Sie sind mir, und ich gebe es ehrlich zu, nicht unsympathisch. Aber ich traue Ihnen genau von einer Tischkante zur anderen. Mehr nicht. Nun ist es zu spät, diesen Tisch zu verlassen, Signore Kokoschansky. Es gibt ein Sprichwort bei uns, zwar von den Sizilianern, aber es ist zutreffend. Pri canuciri un amicu realis si cchi havi a manchiari ´na sarma di sali … Um einen richtigen Freund zu erkennen, muss man drei Scheffel Salz miteinander teilen. Sie verstehen, Signore Kokoschansky.
Ich spüre beinahe körperlich, wie Sie uns zutiefst verabscheuen und ablehnen. Gut, ich akzeptiere es und bin Ihnen deswegen nicht böse oder feindlich gesinnt. Sie brauchen uns für Ihre Story und wir Sie, damit Sie für uns hoffentlich einiges in Ihrer Heimat in Bewegung bringen, was uns wieder Luft zum Atmen gibt. Ich bin um einiges älter als Sie, Signore Kokoschansky, und ich habe viel erlebt, viel durchgemacht, wovon Sie sich wahrscheinlich keinen Begriff machen. Ich habe viele Menschen sterben sehen, und manchmal musste ich selbst zur Waffe greifen. Es sind Ströme von Blut geflossen, und sie werden auch nicht versiegen. Sie werden für uns vorübergehend arbeiten, sozusagen als freier Mitarbeiter. Und Sie werden uns jedes Wort, jede Zeile vorlegen, bevor es auch nur ansatzweise öffentlich wird. Später werden wir Ihnen zeigen, wie wir gefahrlos und abhörsicher kommunizieren können, wenn Sie wieder in Wien sind. Und hier ist unser kleiner Arbeitsvertrag.« Salvatore Madeo greift in die Brusttasche seines Hemdes. »Sie brauchen nicht zu unterzeichnen, Signore Kokoschansky. Ihre Unterschrift sind diese zwei Leben.«
Dem Journalisten scheint das Blut in den Adern zu gefrieren. Der `Ndrangheta-Boss hat zwei Fotos auf den Tisch gelegt. Eines zeigt Lena in Uniform, als sie und einer ihrer Kollegen auf Streife waren, das andere Kokoschansky mit seinem Sohn Günther, aufgenommen kürzlich auf dem Spielplatz.
»Gute Fotos«, meint Kokoschansky lakonisch mit belegter Stimme. Jetzt nur keine Schwäche zeigen, sich nicht anmerken lassen, wie aufgewühlt er ist. Er lässt keine Regung in seiner Miene zu, er will diesen Scheißkerlen nicht den Gefallen tun und ihnen zeigen, wie tief betroffen er ist. Während des Fluges nach Montenegro hatte er sich die unterschiedlichsten Szenarien ausgemalt, die vielleicht passieren können, doch niemals hatte er damit gerechnet! Warum hat er Robert Saller nicht gleich im Krankenhaus auffliegen lassen? Kokoschansky quält sich mit Selbstvorwürfen, die Situation überfordert ihn, und er hat größte Mühe, sich im Zaum zu halten.
»Signore Kokoschansky«, wieder dieser salbungsvolle, väterliche, beinahe priesterliche Ton Salvatore Madeos, der Kokoschansky zunehmend in den Wahnsinn treibt. Am liebsten möchte er dem Italiener an die Gurgel gehen und ihm den Hals umdrehen. »Verstehen Sie uns jetzt nicht falsch. Diese beiden Fotos sind nur eine kleine Absicherung für uns. Wir sind ebenso Profis wie Sie.«
»Ich muss wohl ziemlich wertvoll sein, wenn Sie diesen Aufwand betreiben und mich extra beschatten ließen.«
»Nun, Signore Kokoschansky, wir haben Sie auf Empfehlung Robertos auserwählt, weil er Sie als einen der wenigen in Ihrer Branche angepriesen hat, der in Österreich keine Scheu kennt oder gar Angst vor großen Tieren hat, auch keinen Rückzieher machen wird.«
Rückzieher? Mit diesem Druckmittel und dieser Erpressung ist es unmöglich geworden. Wer sich mit Hunden schlafen legt, darf sich nicht wundern, mit Flöhen aufzuwachen.
»Sie erledigen mit Ihrem journalistischen Können die Drecksarbeit für uns, Signore Kokoschansky«, Salvatore Madeo zeigt nun mit jeder Äußerung sein wahres Gesicht, »indem Sie gründlich diesen Sauhaufen in Ihrer Heimat aufmischen, dadurch einen Skandal auslösen, der uns ermöglichen wird, wieder für geordnete Verhältnisse in unserem Sinne zu sorgen. Wie wir das anstellen werden, ist unsere Sache und braucht Sie nicht weiter zu interessieren.«
»Wenn es mir aber nicht gelingen sollte …«
»Es wird Ihnen gelingen«, unterbricht Madeo den Journalisten und zeigt dabei wieder auf die noch immer auf dem Tisch liegenden Fotos, »weil die Bedingungen unseres Arbeitsvertrages eindeutig sind.«
»Dann händigen Sie mir die zugesagten Unterlagen aus, Don Salvatore, ich setze mich in den nächsten Flieger und mache mich an die Arbeit«, Kokoschansky fügt noch sarkastisch hinzu, obwohl ihm zum Heulen zumute ist, »damit ich meinen Vertrag erfüllen kann.«
»Salute!« Salvatore Madeo hebt sein Glas. »Darauf trinken wir!« Man prostet sich gegenseitig zu. Kokoschansky zieht mit, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt. »Leider fliegt um diese Zeit keine Maschine mehr nach Wien. Aber es wird Ihnen in meinem Haus an nichts mangeln. Morgen früh erhalten Sie Ihr Material.«
»Beantworten Sie mir eine Frage, Don Salvatore?«
»Das kommt auf die Frage an, Signore Kokoschansky.«
»Haben Ihre Leute diese beiden Fotos gemacht oder«, dabei versucht der Journalist, mit seinem Blick Robert Saller festzunageln, »ist dafür in Ihrem Auftrag jemand anderer verantwortlich?«
Saller bleibt völlig gelassen und zuckt mit keiner Wimper. Kokoschansky traut hier niemandem mehr.
»Es war ein erstklassiger Fotograf, Signore Kokoschansky. Jetzt haben wir genug vom Geschäft gesprochen. Wir wollen doch nicht, dass diese Köstlichkeiten verderben. Wir werden nun wieder essen und trinken. Basta! Salute!«
*
Der pensionierte Chefinspektor Thomas Petranko schiebt missmutig den Einkaufswagen vor sich her. Er hasst Supermärkte, und besonders sauer ist er, wenn seine Frau ihn verdonnert, sie zu begleiten. Alleine schickt sie ihn nicht los, da er ihrer Ansicht nach entweder das Falsche nach Hause bringt oder zu allem Überdruss auch noch Wichtiges vergisst. Um den häuslichen Frieden zu bewahren, lässt er sich jedes Mal breitschlagen und macht die Einkaufstour mit. Das Schicksal eines Rentners. Es graut ihm vor den Warteschlangen an den Kassen, und bestimmt findet sich irgendein ein unachtsamer Idiot, der ihm mit dem Einkaufswagen an die Fersen fährt, was verdammt schmerzhaft ist.
Außerdem plagen ihn weitaus wichtigere Gedanken als die Tatsache, dass die Küchenrollen zu Hause ausgegangen sind. Vor mehr als einer Stunde telefonierte Petranko mit Lena, aber auch sie hat noch keinerlei Nachricht von Kokoschansky erhalten, was ihn beunruhigt. Der Journalist fand bisher immer Mittel und Wege, sich bemerkbar zu machen. Außerdem klang Lena ziemlich kurz angebunden, wirkte aus unerklärlichen Gründen sauer.
Wie lange dauert es denn noch? Petranko beobachtet seine Frau, wie sie an der Wursttheke die verschiedenen Sorten aufmerksam studiert und sich nicht entscheiden kann, welche sie nehmen soll. Einer wie Petranko, der sich jahrzehntelang hauptsächlich an Würstelständen und in der Polizeikantine ernährte, wird auch im fortgeschrittenen Alter kein Gourmet mehr. Nimm endlich irgendeine Wurst und lass uns abhauen …
»Verräter«, zischt es plötzlich leise an seinem rechten Ohr. Petranko zuckt zusammen, dreht sich langsam um und blickt direkt ins hasserfüllte Gesicht seines ehemaligen Kollegen Erharter.
»Du verfluchtes Kameradenschwein«, wispert Erharter erregt, »du hast mir und Lackner diese Nummer mit dem Kaffeelöffel eingebrockt.«
»Wovon redest du?«
»Stell dich nicht blöder als du bist. Rein zufällig tauchst du in der Kantine auf und wartest nur darauf, einen Löffel fladdern zu können, den ich in der Hand hatte, und gleich darauf präsentiert ihn dein Scheißfreund Kokoschansky im Fernsehen mit meinen DNA-Spuren.«
»Ihr seid eben beide schon immer absolute Vollkoffer gewesen, du und dein Spezi«, Petranko ist nicht aus der Ruhe zu bringen, »man braucht auch ein Mindestmaß an Intelligenz, will man jemanden richtig eintunken.«
»Pass bloß auf, Petranko. Wir machen dich und Kokoschansky fertig. Verlass dich drauf.«
»Mir schlottern bereits die Knie. Und jetzt verzieh dich, du Witzfigur. Du verpestest hier nur die Luft, die ohnehin schlecht genug ist.«
»Ich habe ungarische Salami und ein wenig Polnische genommen«, Petrankos Frau kehrt zu ihrem Mann zurück, »ist dir das recht, Schatz?«
»Also dann, Thomas«, augenblicklich schwenkt Erharter um, »schön, dich wieder einmal gesehen zu haben. Lass dich wieder einmal bei uns blicken. Auf Wiedersehen, Frau Petranko, und noch einen schönen Tag!« Erharter verschwindet in der nächsten Regalgasse.
»Wer war das?«
»Ach, nur ein Exkollege. Haben wir jetzt endlich unseren Kram beisammen? Ich will hier raus.«
*
Das weitere Essen verlief, zumindest von Kokoschanskys Seite aus, in ziemlich frostiger Atmosphäre. Daher unterhielten sich meist nur Madeo, Saller und Daramcić größtenteils auf Italienisch, während er anstandshalber an den Speisen herumwürgte. Der Appetit war ihm gründlich vergangen. Gegen Mitternacht hob der `Ndrangheta-Boss endlich dieses Gelage auf, und sie zogen sich in ihre Räumlichkeiten zurück.
Jetzt liegt Kokoschansky ausgestreckt und vollständig bekleidet auf dem Rücken, die Hände im Nacken verschränkt, auf dem komfortablen Kingsizebett und starrt zur Decke. In seiner Wut und Verzweiflung verwünscht er sogar Lena, dass sie ihm diesen fatalen Tipp zukommen ließ, und verflucht sich selbst.
Scheiße, die ganze Zeit über war Ruhe, jetzt beginnt wieder seine kleine Operationswunde zu schmerzen. Kokoschansky greift sich vorsichtig in den Schritt, lässt die Hand darauf liegen.
Am Morgen wird er hoffentlich das ständig angekündigte Material erhalten und dann nichts wie nach Hause. Er schwört sich, er lässt sie alle, ganz gleich, wer darin verwickelt ist, auffliegen. Er wird diese Geschichte publik machen, und sollte Saller tatsächlich etwas mit den Fotos zu tun haben, dann wird er auch auf ihn keinerlei Rücksicht mehr nehmen.
Kokoschansky liegt völlig im Dunkeln, er will kein Licht anmachen. Obwohl es ihn in den Fingern juckt, sein Zimmer näher in Augenschein zu nehmen. Es ist eine laue Nacht. Kokoschansky hat das mannshohe Doppelflügelfenster weit geöffnet. Eine leichte Brise bewegt sanft den durchsichtigen Vorhang, durch den ein sternenklarer Himmel scheint. Es riecht nach Meer. Das war ihm gleich bei seiner Ankunft aufgefallen. Madeos pompöser Unterschlupf muss sich in unmittelbarer Küstennähe befinden.
An Schlaf ist nicht zu denken, obwohl er hundemüde ist. Draußen veranstalten Milliarden von Zikaden ihr nächtliches Konzert.
Es ist kurz nach 2 Uhr früh. Langsam fallen ihm endlich doch die Augen zu. Umbringen werden sie ihn nicht, da sie ihn angeblich brauchen. Außerdem, wozu dann dieser Aufwand? Das hätten sie in Wien billiger haben können. Daher kann er es sich leisten, vielleicht doch noch ein wenig Schlaf abzubekommen.
Tatsächlich ist er eingenickt, als ihn dieses eigenartige Geräusch weckt. Es klingt wie ein überdimensionaler Wassertropfen, der auf einen harten Untergrund aufschlägt und zerplatzt. Gleich darauf folgt ein leiser, dumpfer Aufprall. Es muss in unmittelbarer Nähe seines geöffneten Fensters sein.
Plötzlich kehren die Erinnerungen wieder. Scheiße! Ja, genau! Schon wieder! Geräusch und Aufprall. Kokoschansky wird siedend heiß. Natürlich! Das sind Schüsse! Schüsse aus Waffen mit aufgeschraubten Schalldämpfern! Der Aufprall stammt von getroffenen Körpern, die zusammensacken und zu Boden fallen. Das hat er schon einmal erlebt.
Instinktiv rollt Kokoschansky sich blitzartig vom Bett und kriecht schleunigst darunter. Zum Glück reicht die Überwurfdecke bis auf den Boden. Er bekommt eine Ladung Staub in die Nase, kämpft gegen den Niesreiz, kann ihn erfolgreich unterdrücken, kauert sich im hintersten Winkel zusammen, so gut das eben einem Zwei-Meter-Mann gelingt.
Keine Sekunde zu früh!
In abnormer Geschwindigkeit erhellen grelle, kurze Blitze sein Zimmer. Die Mündungsfeuer einer schallgedämpften Maschinenpistole. Dumpf schlagen die Projektile in den Bettrahmen, die Matratze und in das Bettzeug ein. Die Zeit rinnt wie zähflüssiger Honig aus dem Glas. Kokoschansky hat seinen Kopf schützend in den Armen vergraben. Die Ballerei will kein Ende nehmen. Das ist ein Überfall! Ihm gilt dieser Überraschungsangriff nicht. Nicht einmal Robert Saller. Dafür ist der Kroate doch zu klein und unbedeutend. Das richtet sich gegen Madeo, der in der obersten Liga spielt. Vielleicht auch gegen Daramcić, der bisher am undurchsichtigsten von allen dreien ist und während ihrer Zusammenkunft den großen Schweiger markierte.
Aus allen Richtungen sind nun Schüsse und Schreie zu hören. Madeos Leibwächter wehren sich, vereinzelt werden knappe Kommandos auf Italienisch gebrüllt. Kokoschansky bemüht sich, die Stimmen auseinanderzuhalten, doch er kann weder Madeos noch Sallers Stimme erkennen.
Verschiedene Einrichtungsgegenstände zersplittern, Glas geht zu Bruch. Kokoschansky spürt einen stechenden Schmerz in seiner linken Wade, gleichzeitig schrammt ihm ein Holzteil über eine Hand. Er beißt seine Zähne so fest zusammen, dass sie knirschen. Plötzlich ist das Schießen ebenso schlagartig beendet, wie es begann.
»Vamos! Vamos!«, hört er eine keuchende Stimme, dann laufende Schritte von mehreren Personen. Die Schmerzen sind vergessen. So viel Spanisch versteht Kokoschansky und weiß, es ist eine Aufforderung zum Verschwinden. Er kombiniert blitzschnell. `Ndrangheta, Mafia, Drogen, Südamerika. Er ist in eine Fehde geraten. Wäre es eine interne Mafiaauseinandersetzung, hätten sie sich in ihrer Muttersprache Italienisch verständigt. Da draußen sind Sicarios, Berufskiller unterwegs! Nichts wie weg, aber wie?
Totenstille. Ein riesiges Leichentuch hat sich ausgebreitet.
Sein Bein macht sich bemerkbar, und über seine linke Hand spürt er Blut fließen. Das Bein ist momentan wichtiger. Vorsichtig tastet der Journalist zu der verwundeten Stelle, fühlt, dass ein großer Holzsplitter in seiner Wade steckt. Gott sei Dank keine Schussverletzung. An der Hand scheint es nur ein gröberer Kratzer zu sein. Diese unnatürliche Stille ist beinahe noch unerträglicher als die Schießerei.
Kokoschansky bleibt unter dem Bett, wartet ab, spürt nur seine pochende Wade und die brennende Hand. Noch einige Minuten absolute Ruhe und Stille, nur die Zikaden konzertieren unbeirrt weiter. Er nimmt alle Kraft zusammen, beißt die Zähne zusammen, und mit einem Ruck zieht er den Splitter aus seinem Bein. Sofort fließt Blut aus der Wunde.
In einiger Entfernung hört er Motorengeräusche und dann mit quietschenden Reifen wegfahrende Autos. Auch ein Motorboot scheint im Spiel zu sein. Zumindest bildet er es sich ein. Wieder wartet er einige Minuten ab, obwohl ihm seine unbequeme Haltung langsam zusätzliche Schmerzen bereitet. Diese absolute Stille ist zum Verrücktwerden. Ist er der einzige Überlebende eines Massakers? Was muss das für ein Killerkommando gewesen sein? Was ist mit den Frauen, den Kindern? Sind es Madeos Familienangehörige? Es wird doch noch Leute geben, die am Leben sind?
Sind tatsächlich alle weg oder treiben sich noch einige Mörder auf dem Anwesen herum? Es kann nur ein Killerkommando gewesen sein. Kein Einzeltäter ist so verrückt, und nur ein potenzieller Selbstmörder würde alleine in dieses abgesicherte Anwesen eindringen.
Er lauscht angestrengt, doch außer dem Wind und den Zikaden ist nichts Verdächtiges mehr zu hören. Er muss hier raus, sich selbst ein Bild machen und vor allem seine Verletzungen notdürftig versorgen. Vorsichtig lugt er unter dem Bettüberwurf hervor. Im Zimmer hat es geschneit. Der Boden ist von den Federn der durchsiebten Polster und der Decke übersät, dazwischen Glassplitter und Holzteile. Das fahle Licht des Sternenhimmels verleiht diesem Bild ein pittoreskes Aussehen. Zumindest die Typen, die sein Zimmer aufs Korn genommen hatten, müssen sehr nervös gewesen sein. Zu seinem Glück haben sie sich nicht überzeugt, ob ihre Schüsse erfolgreich waren.
Langsam robbt Kokoschansky aus seinem Versteck hervor, setzt sich langsam auf. Kurzerhand reißt er ein paar Streifen aus dem Leintuch heraus, bindet sie als Notverbände um Hand und Wade. Er stützt sich auf die Bettkante, zieht sich langsam hoch und schafft es, sich auf sein zerschossenes Bett zu setzen. Erst jetzt beginnt er, wie Espenlaub zu zittern, und kann seinen Körper und die Gliedmaßen kaum unter Kontrolle halten. Endlich die Befreiung, die Erlösung. Er wagt noch immer nicht, das Licht einzuschalten, tastet nach seinen Zigaretten. Die Glut verbirgt er in seiner hohlen Hand. Sicher ist sicher. Am liebsten würde er auf der Stelle abhauen, aber er weiß nicht einmal, in welche Richtung er soll. Und vor allem wie? Ohne Fahrzeug? Außerdem muss er wissen, was aus Madeo, Saller, Daramcić und den anderen geworden ist. Langsam lässt das Zittern nach. Mit der unverletzten Hand wischt er sich über die Augen, wirft die Kippe einfach auf den Boden und tritt sie mit dem Absatz aus. Er meint, mitten in einem Horrorfilm zu sein. Was er nicht weiß, es ist erst der Vorspann.
Langsam stemmt er sich hoch, kommt auf die Beine und wider Erwarten klappt es besser, als er dachte. Behutsam setzt er einen Fuß vor den anderen, Glassplitter knirschen unter seinen Schuhsohlen, er muss aufpassen, dass er nicht auf den unzähligen Patronenhülsen ausrutscht. Kokoschansky hinkt verletzungsbedingt, aber die Schmerzen sind auszuhalten.
Seine Nerven sind zum Zerreißen angespannt. Er muss diese Erkundungstour machen, er will wissen, was hier passiert ist. Madeos Haus muss sehr abgelegen stehen, niemand in der Umgebung scheint irgendetwas mitbekommen zu haben. Niemand scheint die Polizei verständigt zu haben. Zentimeterweise schiebt Kokoschansky seinen Kopf aus dem Fenster, rechnet damit, dass vielleicht sofort wieder geschossen wird. Zum Glück geschieht nichts. Er sieht nach links und rechts. Ein paar Meter neben dem Fenster liegen zwei verkrümmte Gestalten. Das war wohl seine Bewachung.
Kokoschansky betritt die Terrasse und untersucht die Wächter. Zweifelsohne sind es Madeos Leute, tot. Überall Patronenhülsen. Das waren diese Geräusche, die ihn geweckt hatten. Ihre Ingrams, diese handlichen Maschinenpistolen, liegen neben ihnen. Kurz entschlossen schnappt der Journalist sich eine der Waffen, fühlt den Lauf, der eiskalt ist. Aus dieser Knarre wurde kein Schuss abgefeuert. Es ist gut, dass es Nacht ist, so braucht er nicht in ihre toten Gesichter zu sehen.
Kokoschansky hatte noch nie eine MP in der Hand, kann damit gar nicht umgehen, aber er will für einen eventuellen Notfall gerüstet sein. Außer den beiden erschossenen Leibwächtern ist niemand auf der Terrasse zu sehen. Er hängt sich die Ingram mit dem Riemen über die Schulter, kehrt wieder in sein Zimmer zurück. Dann öffnet er die Türe, betritt den dunklen Flur, auch hier ist es still wie in einer Leichenhalle. Seine Augen haben sich an die Dunkelheit gewöhnt, schemenhaft kann er Silhouetten und Konturen erkennen. Auf einer Seite sind drei Zimmer, seines mit eingerechnet. Auf der gegenüberliegenden ebenfalls drei. Kokoschansky hält die Ingram in Anschlag, hütet sich, mit seinem rechten Zeigefinger auch nur in die Nähe des Abzugshahns zu kommen, da er annimmt, dass die Waffe entsichert ist. Seine linke Hand greift nach der Klinke. Im Zeitlupentempo drückt er sie herunter, die Türe gibt glücklicherweise kein Geräusch von sich, als er sie langsam öffnet. Er strengt seine Augen an, erkennt einen Schreibtisch, Regale, mehrere Computer, Laptops, sonst nichts. Hier ist keine Menschenseele. Kokoschansky tritt ein, sieht sich genauer um. Die Vorhänge sind nicht zugezogen, daher fällt ihm die Orientierung leichter. Er tastet über den Schreibtisch, fühlt verschiedene Stifte, Mappen, Papier und Ordner.
Es wird immer unheimlicher. Ist er der einzige Überlebende? Kokoschansky wird das Gefühl nicht los, vom Tod als unsichtbarem Begleiter auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden, der ihm über die Schulter guckt, während er auf der Suche nach weiteren Leichen ist.
Wie gerne würde er jetzt Lena anrufen! Nur, um mit ihr zu reden, ihre Stimme hören, ohne ihr zu sagen, was wirklich los ist. Aber er wagt es nicht. Es ist viel zu riskant. Er fühlt sich wie in einem Labyrinth, aus dem er nie wieder herausfinden wird. Und er will diese verdammten Unterlagen! Hier geht er nicht mit leeren Händen fort. Dann wäre alles umsonst gewesen, das Risiko völlig unsinnig.
Plötzlich hallen eilige Schritte von draußen, Männerschritte, die näher kommen. Der Unbekannte betritt die Villa. Blitzartig schließt Kokoschansky die Türe, umklammert die Ingram, sucht nach einem passenden Versteck, kann aber keines entdecken. Er glaubt, Halluzinationen zu haben, pfeift doch dieser Typ tatsächlich eine muntere Melodie vor sich hin! Im Flur brennt nun Licht, ein schmaler Streifen dringt unter dem Türspalt ins Arbeitszimmer herein.
Kokoschansky hält den Atem an. Die Schritte entfernen sich, steigen Stufen hoch. Er kann sich an eine Treppe erinnern. Eine Türe fliegt auf, der mysteriöse Besucher scheint sich auszukennen und sich sehr sicher zu fühlen. Oder ist er ein Mitglied dieses Killerkommandos, das sich nochmals überzeugen will, dass wirklich ganze Arbeit geleistet wurde? Doch Kokoschansky hatte wegfahrende Autos gehört, bildet sich ein, auch den Außenborder eines Bootes im Ohr gehabt zu haben. Da passt wieder einmal nichts zusammen.
Kokoschansky zieht vorsichtig die Türe einen Spalt auf, lugt hinaus, wild entschlossen, sofort loszuballern, sollte etwas Verdächtiges sich anbahnen. Der Schweiß rinnt an ihm herab und durchdringt seine notdürftigen Verbände, es brennt unangenehm, dazu noch die ständig ansteigenden Schmerzen, und zu allem Überdruss meldet sich in kontinuierlichen Abständen seine Operationswunde. Sein Zustand ist erbärmlich. Verletzt und angeschlagen, kaputt und todmüde, voller Angst und in einer Falle sitzend, verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit suchend. Doch aufgeben kommt nicht infrage. Viel Lärm um nichts? Das Ding wird durchgezogen, koste es, was es wolle.
Auf Zehenspitzen schleicht Kokoschansky Meter für Meter vorwärts, ständig auf der Hut, mit Unvorhergesehenem und Unberechenbarem konfrontiert zu werden. Zum Glück trägt er Sportschuhe, und die Treppe besteht aus Steinstufen. So kann er sich lautlos bewegen. Noch eine Stufe, jetzt ist er im oberen Stockwerk angekommen. Aus der geöffneten Tür fällt Licht in den Flur. Je näher er seinem Ziel kommt, desto deutlicher ist das Stöhnen eines sichtlich schwer verletzten Mannes zu hören.
Plötzlich glaubt Kokoschansky, seinen Ohren nicht zu trauen. Jemand spricht Kroatisch, doch Sallers Stimme kennt der Journalist sehr genau. Es kann sich bei dem fröhlichen Pfeifer nur um Branko Daramcić handeln! Was ist da los? Kokoschansky hat sich eng an die Wand gepresst, versucht, sich so dünn als möglich zu machen, ist auf alles vorbereitet. Mit eisernem Griff umklammern seine schweißnassen Hände die Maschinenpistole. Saller scheint getroffen worden zu sein und, seinem Stöhnen nach zu schließen, ziemlich schwer. Ohne noch einen Moment länger zu zögern, tritt Kokoschansky in den Türrahmen, die MP schussbereit.
Seine Vermutungen bestätigen sich. Robert Saller sitzt neben dem Bett und, angelehnt an eine Wand, auf dem Boden, hält sich mit schmerzverzerrtem Gesicht seine rechte Seite, und unter seinen Fingern quillt Blut hervor. Er trägt noch die gleiche Kleidung wie beim Abendessen. Entweder wollte er noch nicht schlafen gehen oder hatte die Absicht, als es ihn erwischte. Vor ihm steht breitbeinig der Exgeneral, mit dem Rücken zu Kokoschansky. Noch wurde der Journalist nicht bemerkt. Zu sehr sind sie im Gespräch vertieft, das eher einem Streit gleicht und dementsprechend unfreundlich klingt.
»Kann mir vielleicht einer von euch sagen, was hier für eine Scheiße abgeht?«
Daramcić dreht sich langsam um. Er scheint unbewaffnet zu sein. Sein Erstaunen ist riesengroß, als er Kokoschansky gegenübersteht. Kaum mehr als zwei Meter trennen die beiden. Vorsichtshalber nimmt der Journalist seine Waffe in Anschlag.
»Kokoschansky lebt also? Wie ist denn das möglich?«
»Indem ich mich nicht habe umnieten lassen«, Kokoschansky setzt alles auf eine Karte, »der große Schweiger kann tatsächlich sprechen, und ich dachte, Sie wären stumm. Na, immerhin sind wir schon drei, die am Leben sind. Was ist mit dir los, Robert?«
»Siehst du doch«, ächzt Saller. »Ich habe ein paar Löcher abbekommen. Durchs offene Fenster, peng! Und das war es. Ich muss ziemlich lange bewusstlos gewesen sein, und in der Hektik dachten sie wohl, ich hätte bereits den Löffel abgegeben.«
»Wer sind sie?«
»Frag … ihn …«, presst Saller zwischen den Zähnen hervor, »er steckt dahinter …«
»Geben Sie mir die Waffe«, fordert Daramcić und lässt Kokoschansky keine Zeit, um weitere Fragen zu stellen. »Sie können doch nicht damit umgehen.«
Der Exgeneral geht einen Schritt auf Kokoschansky zu, doch der hält ihn sofort in Schach. Der Lauf der MP ist nur ein paar Handbreit von dem Kroaten entfernt und wenn er will, kann er Kokoschansky die Waffe entwinden, obwohl er um einiges kleiner als der Journalist ist. Als Militarist mit der entsprechenden Ausbildung wäre es wohl nicht besonders schwer.
Doch ein Blick in Kokoschanskys entschlossenes Gesicht genügt, um es sich zu überlegen. »Seien Sie vernünftig, geben Sie mir die Knarre«, probiert er es abermals auf die sanfte Tour.
Kokoschansky ist auf der Hut.
»Keiner rührt sich mehr«, befiehlt er barsch und versucht, kaltblütig zu wirken, »ich drücke ab, und das ist keine leere Drohung.« Dabei geht er zwei Schritte zurück.
»Herr Journalist«, höhnt Daramcić, und in seinen Augen glitzert Mordlust, »jetzt machen Sie sich doch nicht lächerlich. Sie können doch diese MP nicht einmal entsichern und um zu schießen sind Sie doch zu feig.«
»Wenn Sie meinen …« Kurz entschlossen reißt er die Waffe hoch, feuert knapp über den Kopf des ehemaligen Generals in den Plafond. Verputzteile rieseln herab, Saller stößt ein gequältes Lachen aus. Es ringt ihm Bewunderung ab.
»Na bitte, geht doch«, mimt Kokoschansky weiterhin den Lässigen, obwohl er nahe daran ist, sich in die Hosen zu machen. »Und wer ist für diesen Wahnsinn verantwortlich?«
»Ihr seid beide bereits tot«, Daramcićs Augen verengen sich zu Schlitzen und ähneln einer Raubkatze, die jeden Augenblick zum Sprung ansetzt, und mit einem Wink in Richtung Saller, »der macht es auf keinen Fall mehr lang, und dich, du Komiker, rauche ich in der Pfeife.«
»Spar dir deine Wildwest-Sprüche, Scheißkerl«, lässt Kokoschansky Dampf ab, weicht ein paar Schritte zurück, »auf die Knie und Hände in den Nacken!«
Kaum ist das letzte Wort verklungen, werden Daramcićs Augen riesengroß und beinahe kreisrund, er stößt gurgelnde Laute aus, aus seinem Mund rinnt Blut, er knickt in den Knien ein und schlägt der Länge nach hin. Kokoschansky muss zur Seite springen, um nicht mitgerissen zu werden. Im Rücken des ehemaligen Generals steckt genau zwischen den Schulterblättern bis zum Heft ein Stilett. Noch zucken Körper und Gliedmaßen, doch es sind nur mehr die Reflexe, das Leben ist längst entwichen. Da der Kroate vor seinem schwer verletzten Landsmann stand, blieb ihm dessen Angriff verborgen. Für Saller muss es im Hinblick auf seinen Zustand eine enorme Überwindung und Kraftanstrengung gewesen sein, so blitzartig und gleichzeitig präzise zu treffen.
»Hast du noch mehr solcher Überraschungen auf Lager?« Kokoschansky glaubt, in einem Albtraum zu sein, hofft, jeden Augenblick aufzuwachen, und weiß, es bleibt bei dem frommen Wunsch.
»Ich …«, Saller strengt jedes Wort an, »ich … habe … dir … einmal … erzählt …, dass … ich … in … der … Fremdenlegion … war. Dort lernt man das.« Er versucht, sich etwas aufzurichten, doch die Schmerzen zwingen ihn, weiterhin in seiner Position zu verharren. »Dich hat es auch erwischt, Koko, wie ich sehe.«
»Nur ein paar Kratzer, nicht der Rede wert.«
»Koko, ich brauche dringend einen Arzt, sonst verrecke ich hier.«
»Wo soll ich den jetzt herzaubern?«
»Bring mich weg von hier … bitte …« Einem Mann wie Saller, der Befehle erteilt, kommt dieses Wort nur sehr schwer über die Lippen.
»Bist du noch weiter bewaffnet?« Kokoschansky bleibt ungerührt, und er findet, dass er allen Grund dazu hat.
»Nein, sonst hätte ich ihn umgeblasen. So einer war einmal mein Partner. Das Messer ist alles, was ich bei mir hatte. Lass mich hier nicht verbluten. Du hast mir schon einmal geholfen, mach es noch ein zweites Mal …«
Saller muss es wirklich dreckig gehen. Nie im Leben hätte Kokoschansky sich träumen lassen, dass ihn einmal ein gefürchteter Unterweltboss bittet, ihm das Leben zu retten.
»Steckst du hinter den Fotos?«, konfrontiert Kokoschansky den Schwerverletzten mit dem, was ihn am meisten drückt.
»Welche Fotos?«
»Frag nicht so scheinheilig! Mein Arbeitsvertrag«, in Kokoschanskys Stimme mischen sich Sarkasmus und Wut, »den mir Madeo auf den Tisch geknallt hat. Fotos von meiner Lebensgefährtin und meinem Sohn. Hast du die Fotos in seinem Auftrag schießen lassen? Ja oder nein? Die Spaghettifresser werden wohl kaum jemanden extra dafür abgestellt haben.«
»Ehrlich, ich schwöre dir«, Saller ringt nach Luft und kämpft um jedes Wort, »damit habe ich nichts zu tun. Das ist nicht mein Stil. Ich war genau so perplex wie du, als er mit den Bildern herausrückte.«
»Den Eindruck hast du aber nicht gemacht.« Kokoschansky zeigt weiterhin keinerlei Anzeichen, dass er willig ist, Saller zu helfen.
»Was hätte ich denn tun sollen?«, jammert Saller. »Schaff mich hier weg. Ich muss schleunigst zu einem Arzt. In ein Krankenhaus kann ich nicht, sonst bin ich gleich wieder verhaftet.«
Kokoschansky überlegt, ist im Zweifel, ob er Saller glauben kann, und ist gleichzeitig entsetzt über sich selbst, wie kaltblütig und kaltschnäuzig er sein kann. Ein Mensch liegt vor ihm, kämpft offensichtlich um sein Leben, und es berührt ihn nicht. »Hör zu, Robert, ein wenig wirst du noch durchhalten müssen. Ich werde mich jetzt umsehen. Wenn es mich erwischen sollte, weil sich noch immer Killer herumtreiben, haben wir beide Pech gehabt. Außerdem will ich endlich dieses Scheißmaterial, das ihr mir zugesichert habt. Danach packe ich dich in ein Auto, irgendwo wird hier schon eines herumstehen. Als ich hergebracht wurde, fiel mir ein Wegweiser auf. Ulcinj heißt der Ort. Dorthin fahre ich dich, lade dich ab und rufe über 112 den Europanotruf. Du wirst sicherlich über falsche Papiere verfügen. Im Gegenzug wirst du mir während unseres Ausflugs alles, aber wirklich alles erzählen, was du weißt. Also, bleib gefälligst bei Bewusstsein. Mehr kann ich nicht für dich tun. Du hast die Wahl. Entweder hier abkratzen oder auf meinen Deal eingehen. Ich werde mich beeilen. Weißt du, wo das Zeug sein kann, nach dem ich suche?«
»Madeo hat uns einiges auf einem Laptop gezeigt …«
»Nur dir oder ihm auch?« Kokoschansky deutet auf die Leiche.
»Uns beiden. Und dafür hat er einige USB-Sticks benutzt.«
»Wo?« Kokoschansky lässt nicht locker. So nahe dran und das Ziel vor Augen.
»Ein Stockwerk tiefer«, stöhnt Saller, »dort ist ein Arbeitszimmer. Ob Madeo hier noch andere Räume für seine Geschäfte benutzt, weiß ich nicht. Ich habe nur dieses gesehen.«
»Überlege es dir und halt durch«, sagt Kokoschansky kurz angebunden und verschwindet.
Seelisch ist er längst darauf vorbereitet, in die Abgründe der Hölle zu blicken, wenn er seine Erkundungstour fortsetzt. Jetzt ist keine Zeit für Gefühle und Emotionen, nur rationales Denken zählt. Langsam wird es hell, und noch immer ist alles ruhig. Der Journalist hat sich vorgenommen, zuerst sämtliche Zimmer der Villa zu durchkämmen, er muss Madeo finden. Er will diese Fotoausdrucke. Auf keinen Fall dürfen die Bilder von Lena und seinem Jungen in fremde Hände fallen. Noch immer schleppt er die Ingram mit sich herum. Sicher ist sicher.
Kokoschansky will alles mit seiner Handykamera dokumentieren. Raum für Raum, egal, was und wen er vorfindet. Die Wunde auf seiner Wade beginnt, immer heftiger zu pochen, und zwingt ihn zu hinken. Vielleicht findet er einen Verbandsschrank. Er fischt sein Handy aus der Hosentasche, verbindet es wieder mit dem Akku und aktiviert es. Ununterbrochenes Vibrieren zeigt ihm an, dass er eine stattliche Anzahl an Nachrichten erhalten hat. Doch es fehlt ihm an Zeit, sich jetzt damit auseinanderzusetzen. Trotzdem überfliegt er das Display und ist tief enttäuscht, dass er nichts von Lena vorfindet.
Kokoschansky hofft inständig, dass jetzt nicht die Polizei auftaucht. Die Ballerei muss doch gehört worden sein! Dann hätte er einen gewaltigen Erklärungsnotstand. Als Ausländer mit einer geschulterten Maschinenpistole in der Villa eines Mafiabosses und wahrscheinlich umgeben von einem Haufen Leichen, da würden sämtliche Beteuerungen nichts nützen.
Die Räumlichkeiten im oberen Stockwerk sind bis auf Sallers Zimmer leer. Feudal und geschmackvoll eingerichtet, aber keine Menschenseele vorzufinden. Langsam geht die Sonne auf und taucht die Zimmer in wunderschönes und zugleich geheimnisvolles, mystisches Licht. Das Flair des Bösen.
Kokoschansky steigt die Treppe hinunter, betritt sein Zimmer und findet es so vor, wie er es verlassen hatte. Er geht auf die Terrasse hinaus, die erschossenen Wächter liegen unverändert an Ort und Stelle, wie er sie vorgefunden hatte. Einem wurde der halbe Schädel weggepustet, dem anderen haben die Kugeln die Brust zerfetzt. Kokoschansky schluckt, würgt und wendet sich ab, sieht in Richtung des Pools, wo weitere drei Männer bäuchlings auf der Wasseroberfläche treiben. Nach ihrer Kleidung, schwarze Anzüge, muss es sich um weitere Bodyguards von Madeo handeln. Der Journalist schießt mit seinem Handy Foto um Foto, baut darauf, dass jetzt wohl kaum jemand Sehnsucht nach ihm verspürt und ihn orten will.
Er erreicht den zweiten Trakt der Villa, noch um einiges pompöser. Es dürfte sich um den Privatbereich des `Ndrangheta-Bosses handeln. Kokoschanksy hört nur sein eigenes, schweres Atmen. Auch hier muss ein längerer Kampf stattgefunden haben.
Obwohl es noch kühl ist, klebt die Kleidung am Körper. Bisher fünf Leichen, mit Daramcić sechs. Ein imaginäres, riesiges Laken des Todes ist über dem Areal ausgebreitet und beinahe körperlich zu spüren. Unangenehm wie ein riesiges Spinnennetz, in dem man sich verfängt.
Kokoschansky erreicht eine große, moderne, bestens ausgestattete Küche, die jedem Haubenrestaurant zur Ehre gereichen würde. Auf Tabletts türmen sich benutztes Geschirr und die Reste des vergangenen Mahles. Wieder knipst er seine Fotos und ist froh darüber, keine Toten zu finden. Auch in den weiteren Räumen des Erdgeschosses ist niemand anzutreffen. Langsam steigt Kokoschansky eine ausladende Freitreppe hoch, die ihn unwillkürlich an eine Szene mit Al Pacino als Tony Montana in Scarface erinnert.
Verdammt noch mal, wo sind die Frauen und Kinder geblieben? Kaum hat er diesen Gedanken zu Ende gesponnen und eine Tür aufgemacht, erstarrt er. Es riecht nach Blut, sehr viel Blut. In diesem Badezimmer wurde gnadenlos gewütet. Eine junge Frau, vielleicht um die fünfundzwanzig Jahre alt, in einem dünnen Nachthemd, kniet vor einer großen Marmorbadewanne, hängt mit dem Oberkörper halb über den Rand. Ihr wurde mehrmals erbarmungslos in den Rücken geschossen und, nach den Einschusslöchern zu schließen, war dafür ein großes Kaliber verantwortlich. Eine zweite Frau in Unterwäsche ist neben einem Waschbecken zusammengesackt, hält in ihrer rechten Hand noch verkrampft eine Zahnbürste. Sie wurde in Kopf und Brust getroffen. Das Todeskommando muss bestens vorbereitet gewesen sein und über exzellente Ortskenntnisse verfügt haben. Kokoschansky zittern die Hände, als er die Handykamera auf die ermordeten Frauen richtet, zwingt sich, ruhig zu bleiben, und drückt blindlings ab.
Im Flur lehnt er sich an die Wand, atmet mehrmals tief durch, sieht in einigen Metern Entfernung drei tote Männer am Boden liegen. Weitere Leibwächter Madeos. Kokoschansky ist tatsächlich bis in den privaten Bereich des Bosses vorgedrungen. Der Überfall muss völlig überraschend gekommen sein, sämtliche Anwesenden wurden überrumpelt. In den Wänden unzählige Einschusslöcher und von Kugeln durchsiebtes Mobiliar.
Einer der toten Bodyguards liegt quer im Flur, und Kokoschansky ist gezwungen, über ihn hinwegzusteigen. Die starren Augen scheinen den Journalisten zu verfolgen, als er nebeneinanderliegende Türen mit Comicfiguren sieht. Ein untrügliches Zeichen für Kinderzimmer. Er presst sich die Hand vor den Mund, drückt sachte die Klinke herunter und weiß, die Bilder, die sich ihm gleich präsentieren werden, wird er nie wieder aus seinem Gedächtnis verbannen können. Keines der Kinder, die er noch vor einigen Stunden fröhlich und ausgelassen spielend gesehen hatte, hat überlebt. Sie wurden im Schlaf überrascht und mit mehreren Kopfschüssen in ihren Betten regelrecht hingerichtet. Drei Jungen und vier Mädchen, vom Kindergarten- bis zum Schulalter.
Kokoschansky blickt in das entstellte Gesichtchen eines kleinen Mädchens mit Stoppellocken, dem eine Kugel ins linke Auge eingedrungen war. Er kotzt sich die Seele aus dem Leib und weint gleichzeitig hemmungslos. In dem Bettchen liegt nicht mehr das unbekannte Kind, sondern sein ermordeter Sohn. Im Badezimmer hängt Lena tot über der Wanne. Er schlägt sich mit der Faust auf die Stirn, will die grässlichen Trugbilder verscheuchen, seine Wut und Verzweiflung hinausbrüllen. Kokoschansky nimmt die blutbespritzte Puppe, legt sie in das kalte Ärmchen des Mädchens, streicht zärtlich über das Händchen.
Wer auch immer diese Liquidierungsaktion angezettelt hat, wollte ein Exempel statuieren und war von unbändigem Hass auf die Nammoliti-Familie erfüllt. Vendetta, Blutrache, wie sie blutrünstiger nicht sein könnte. Wie viele Leute müssen an diesem grauenhaften Gemetzel beteiligt gewesen sein, um dermaßen gründlich aufzuräumen?
»Ich lasse euch alle hochgehen, ihr gottverfluchten Arschlöcher«, murmelt er vor sich hin, »auch Saller. Scheißegal … Ich will euch alle für immer hinter Gittern sehen oder, noch besser, tot wie diese Kinder.«
Er hat genug gesehen. Er will nur noch Salvatore Madeo finden, dann das Arbeitszimmer auf den Kopf stellen und weg. Ob Saller inzwischen abgekratzt ist oder nicht, interessiert ihn nicht. Und sollte er während der Fahrt verrecken, auch recht. Wahrscheinlich werden in den Nebengebäuden die ermordeten Angestellten und Bediensteten des Clanchefs liegen.
Kokoschansky hat am Ende des Flurs die Wahl zwischen zwei Türen. Er entscheidet sich für die breitere und öffnet sie vorsichtig. Sein Instinkt war richtig. Es ist Salvatore Madeos Schlafzimmer. Offenbar war der Mafiaboss gerade im Begriff, zu Bett zu gehen, er ist noch vollständig bekleidet. Sie müssen ihn auf der Kante sitzend erwischt haben und jagten ihm ein komplettes Magazin in den Körper. Mit weit ausgebreiteten Armen und regelrecht zerfetzt liegt er rücklings auf den Beinen einer jungen, nackten und ebenfalls toten Frau. Freundin, Geliebte, Ehefrau? Eine versilberte Pistole mit goldenen Einlegearbeiten im Kolben liegt auf dem flauschigen, blutdurchtränkten Teppichboden. Wahrscheinlich ahnte Madeo das kommende Unheil, hatte aber keine Chance mehr, sich zur Wehr zu setzen.
Kokoschansky sieht ein mit Blut bespritztes Papier aus der Brusttasche des Hemdes ragen. Es muss sein »Arbeitsvertrag« sein. Nach dem Essen hatte Madeo die Fotoausdrucke sorgfältig zusammengefaltet und in sein Hemd gesteckt. Mit spitzen Fingern zieht er das corpus delicti heraus. Ja, es sind Lena und Günther. Kurzerhand zündet er das Papier mit seinem Feuerzeug an, wirft es in eine Schale und wartet, bis es zu Asche zerfällt.
Danach knipst er seine Bilder und verlässt den Raum. Er kehrt ins Arbeitszimmer zurück und durchsucht es von oben bis unten. Alles mitnehmen, was wichtig erscheint, hämmert es in seinem Kopf. In der Aufregung und Angespanntheit hat er auf seine Verletzungen vergessen, die sich nun wieder heftig bemerkbar machen. Wo ein Schlafzimmer, kann auch ein Bad nicht weit sein. Tatsächlich ist der Raum, den er vorher ausgelassen hatte, das Badezimmer. Zum Glück ohne Leiche. Er kramt in den Laden und findet, was er sucht. Jod, Pflaster und Verbandszeug. Die Schramme auf der Hand ist nicht so schlimm, trotzdem verzieht er das Gesicht, als er die rostbraune Flüssigkeit auf die Wunde träufelt. Dann klebt er ein großes Pflaster darüber. Die Verletzung an der Wade ist nicht so glimpflich. Er zieht seine Jeans herunter, stellt das Bein auf das Bidet. Gut einen Zentimeter tief war der Splitter eingedrungen. Wieder die brennende Prozedur mit reichlich Jod, bevor er einige Mullbinden um die Wade wickelt, mit Leukoplast fixiert und sich wieder ankleidet.
Hastig und soweit mit dem verletzten Bein möglich, humpelt er wieder in den Gästetrakt zurück, steigt die Treppe hoch. Das Gewissen mahnt ihn, nach Saller zu sehen. Er glaubt, seinen Augen nicht zu trauen, stutzt, das Stilett steckt nicht mehr in Daramcićs Rücken. Wo Saller halb gelegen hat, findet sich nur mehr eine kleine Blutlache.
»Du Arsch«, flüstert Kokoschansky fluchend, »du bist gar nicht so bedient, wie du getan hast. Fahr zur Hölle.«
Plötzlich hört er den Motor eines startenden Autos. Sofort reißt er die Maschinenpistole hoch, stolpert beinahe über die Leiche des Kroatengenerals, geht auf den Balkon und sieht, wie ein Landrover in einer Staubwolke und in hohem Tempo davonprescht.
»Ein Problem weniger«, murmelt er. Es kann nur Saller gewesen sein, wer sonst? Sein Blick fällt zufällig auf das Nachtkästchen. Dort steckt das Messer im Holz und fixiert einen Umschlag. Kokoschansky nimmt ihn an sich, liest die Worte, die mit einer blutigen Hand und in zittriger Schrift geschrieben sind: »Für dich. Wird dich interessieren. Such nach dem Tresor in Madeos Zimmer. Und danke. Mir läuft die Zeit davon.«
»Fahr doch nicht zur Hölle«, lächelt Kokoschansky, »zumindest jetzt noch nicht.« Dann sieht er nach, was ihm Saller hinterlassen hat: Drei CD-ROMs.
Wo soll in Salvatore Madeos Arbeitszimmer ein Tresor sein? An den Wänden hängen einige Ölschinken, die echt und wertvoll zu sein scheinen. Dann fällt ihm ein, Panzerschränke sind meist hinter Bildern versteckt. Zumindest ist es immer so in Fernsehkrimis. Bereits nach dem fünften Bild bewahrheitet sich dieses uralte Klischee. Der weibliche Akt in einem Rosengarten lässt sich zur Seite klappen, und dahinter ist das begehrte Objekt. Wenn Madeo es sich sonst anscheinend an nichts fehlen ließ, bei diesem Tresor sparte er. Es ist ein uraltes Modell mit Nummernschloss. Vielleicht ein Erbstück vom Mafiapapa? Kokoschansky dreht ein wenig daran herum. Nichts. Wie viele Kombinationsmöglichkeiten gibt es? Drei, fünf, zehn oder mehr Millionen? Kokoschansky geht ein paar Schritte zurück, legt an und ballert los. Das Rattern der MP verursacht in der Totenstille einen infernalischen Lärm.
Die Projektile prallen an der Stahltür ab, spritzen unkontrolliert durch das Zimmer, schlagen wahllos ein und zertrümmern einige noch heil gebliebene Gegenstände. Kokoschansky hat mehr Glück als Verstand, dass er sich nicht selbst außer Gefecht setzt. Doch die Kugeln können das Nummernschloss zerschmettern, und es fällt in Teilen zu Boden. Er lässt die Ingram sinken, sieht ein rauchendes Loch, hängt sich die Waffe wieder über die Schulter, und mit einiger Kraftanstrengung lässt die Panzertüre sich öffnen. Mappen, CD-ROMs, ein paar USB-Sticks, einige Bündel Bargeld in verschiedenen Währungen, überwiegend Euro und Dollar. Kokoschansky entdeckt neben dem Schreibtisch einen unversperrten Aktenkoffer. Auch darin sind einige Papiere. Er packt alle Unterlagen hinein. Er hat keine Ahnung, was er mitgehen lässt, er kann nur hoffen, dass zumindest einiges dabei ist, was wirklich von Nutzen ist.
Dann fällt sein Blick erneut auf die Geldstapel, er nimmt ein paar Packen an Euro und Dollars und legt sie zu den Unterlagen im Aktenkoffer.
»Für Spesen und die Todesangst«, murmelt er und empfindet keinerlei Spur schlechten Gewissens. Es ist Blutgeld, und im richtigen Moment wird er wissen, wofür er es verwenden wird.
In seinem Zimmer packt er hastig seine Sachen in seinen Trolley und trennt wieder den Akku vom Handy. Dann zieht er eine neue Jeans an und bemerkt, dass eine der Kugeln, die für ihn bestimmt waren, ausgerechnet ein Rad seines fahrbaren Koffers treffen musste. Noch immer mit geschulterter MP, links den brisanten Aktenkoffer und rechts seinen lädierten Trolley verlässt er die Villa. Etwas weiter weg vom Haus hatte er gestern einen Komplex gesehen, der wie Garagen aussieht.
Der Fuhrpark kann sich sehen lassen. Ein Maserati, ein Ferrari, zwei Mercedes, ein Nissan Pick-up und eine Harley Davidson. Ganz verschämt in einer Ecke steht tatsächlich ein Fiat Uno.
Er entscheidet sich für den unauffälligen grauen Fiat Uno mit italienischem Kennzeichen. Das Knurren hinter ihm lässt ihn zusammenzucken und erstarren. Es klingt nicht freundlich. Langsam und vorsichtig dreht er sich um. Rund fünf Meter vor ihm steht ein wunderschöner, stattlicher Schäferhund ohne Halsband, der ihn nicht aus den Augen lässt und jede noch so winzige Bewegung mit einem weiteren Knurren quittiert. Kokoschansky nimmt seinen ganzen Mut zusammen. Mit Hunden konnte er immer gut umgehen.
»Na, du«, sagt er mit ruhiger Stimme, »haben sie dich übersehen, oder bist du rechtzeitig verduftet? Komm her, ich tue dir nichts. Bin selbst froh, wenn ich hier heil verschwinden kann. Na, komm her, du Prachtkerl.« Das Knurren verstummt, doch der Rüde bleibt auf Distanz. Noch ist er sich nicht sicher, ob er dem Langen vertrauen kann. »Nun, sei nicht so feig. Ich habe bisher nur Leichen gesehen. Es tut gut, endlich wieder ein Lebewesen vor sich zu haben. Leider habe ich nichts für dich außer ein paar Streicheleinheiten.« Langsam streckt Kokoschansky ihm seine Hand entgegen, und der Hund geht ein paar Zentimeter auf ihn zu. Kokoschansky geht in die Hocke. »Siehst du, ich will dir nichts Böses. Was wird jetzt wohl aus dir werden? Wenn du sprechen könntest, wäre ich um einiges klüger. Oder gehörst du gar nicht hierher? Bist du nur auf Besuch gekommen?« Mit spitzen Ohren beschnüffelt der Schäfer Kokoschanskys Hand, wird von Sekunde zu Sekunde zutraulicher, leckt sie ab, beginnt, langsam zu wedeln. Das Eis ist gebrochen. »Tja, mein Alter, leider kann ich dich nicht mitnehmen.« Kokoschansky streichelt ihm sanft über den Kopf, und der Hund schmiegt sich an ihn.
Das Kurzschließen der Zündung kann er sich sparen. Ein netter Mensch hat den Schlüssel stecken lassen. Kokoschansky startet, der Motor springt sofort an, die Nadel des Benzinanzeigers zeigt auf drei Viertel vollen Tank. Das muss reichen. Jetzt kann er nur hoffen, dass er auf schnellstem Weg nach Podgorica zurückfindet und nicht in eine zufällige Polizeikontrolle gerät. Er wirft seinen kaputten Trolley auf die Rückbank, den Aktenkoffer legt er auf den Beifahrersitz, die Ingram griffbereit darauf. Unterwegs wird er die Waffe irgendwo wegwerfen.
Im Handschuhfach findet er einen geladenen Trommelrevolver. Das zählt in diesen Kreisen anscheinend zur Standardausrüstung. Der Hund sitzt brav neben der Fahrertüre und rechnet fest damit, mitgenommen zu werden.
»Leider, mein Alter«, muss Kokoschansky ihn enttäuschen, »ich kann nichts für dich tun. Pass gut auf dich auf.« Zum Abschied streichelt er dem Hund über den Kopf und tätschelt seinen Hals.
Plötzlich versteift der Schäfer sich, seine Nackenhaare sträuben sich, er fletscht die Zähne und stellt sich schützend vor Kokoschansky, den er anscheinend als sein neues Herrchen akzeptiert. Wankend steht ein schwarz gekleideter Mann in einer Art von Kampfanzug in der Garageneinfahrt. Auf dem Kopf trägt er eine hochgeschobene Sturmhaube, die ihm wohl als Maskierung diente. Der Unbekannte ist unbewaffnet. Trotzdem greift Kokoschansky nach der Ingram.
»Ist gut, ist gut«, beruhigt er seinen neuen Kurzzeitfreund und hält ihn am Nacken fest.
Offensichtlich ist der Fremde sehr schwer verletzt, in seinem Oberkörper sind Schusswunden. Es sind mehrere Einschusslöcher zu sehen, und dennoch strahlt er noch immer eine tödliche Gefahr aus. An seinem Gürtel hängen drei Handgranaten. Er kann nur ein Überlebender des Killerkommandos sein, denn seine Montur ist völlig blank ohne jegliche Rangabzeichen oder andere Aufnäher wie sonst beim Militär oder bei polizeilichen Sondereinheiten. Er schwankt wie ein vom Sturm gebeutelter Baum und, wo immer er sich die letzten Stunden versteckt gehalten hat, muss es ihn übermenschliche Anstrengungen gekostet haben, wieder auf die Beine zu kommen und sich bis hierher zu schleppen. Mit einem gurgelnden Laut bricht der Angeschossene zusammen und liegt seitlich verkrümmt auf dem kiesbestreuten Zufahrtsweg vor der Garage. Der Hund bleibt weiterhin wachsam und weicht nicht von Kokoschanskys Seite, der sich langsam dem jungen Mann, der bestimmt noch keine fünfundzwanzig Jahre alt ist, nähert. Blut fließt aus dem Mund und tränkt den schneeweißen Kies.
Kokoschansky hockt sich neben dem Mann, sieht ihm ins Gesicht. Er fühlt keinerlei Mitleid.
»Who are you?«, versucht er es auf Englisch.
Die Antwort sind flackernde Augen, die längst dort hinsehen, was erst ein Sterbender zu Gesicht bekommt, bevor er endgültig diese Welt verlässt, und ein Flüstern, das kaum durch die blutverkrusteten Lippen dringt. Kokoschansky meint, spanische Worte zu hören.
»Como? … Wie?« Erfolglos. Er beugt sich tief bis zum Mund hinunter.
»Santa Maria Dolorosa …« Jetzt ist es zu spät zum Beten. Kokoschansky muss sich anstrengen, um zu verstehen. »… El … Chapo …« Der Kopf kippt zur Seite, die Augen verdrehen sich und brechen. Der Mann ist tot. Auch der Hund spürt, dass soeben ein Mensch verstorben ist, beruhigt sich endgültig, setzt sich neben die Leiche, hält Totenwache.
Hastig baut Kokoschansky wieder sein Handy zusammen, fotografiert den Mann. Findet dieses Sterben auf diesem Gelände gar kein Ende? Er packt den Toten an den Füßen, schleift ihn ein paar Meter zur Seite für eine freie Ausfahrt. Überstürzt flüchtet er sich in den Fiat Uno, er will nur schleunigst dieses Todesareal verlassen, Vollgas und weg. Zurück bleibt ein sich traurig trollender Schäferhund. Auf Menschen ist doch kein Verlass.
Kokoschansky fährt auf einer bestens asphaltierten Zufahrtsstraße und hat sich nicht getäuscht. Das Anwesen liegt tatsächlich so nahe am Meer, dass es beinahe zum Greifen ist. Er hat keinen Kopf für dieses traumhafte Panorama mit dem azurblauen, wolkenlosen Himmel, der Brandung, den heranrollenden Wellen mit den Gischtkronen, kann nicht entspannt die Wärme der Sonne genießen, anhalten und zum Strand hinuntergehen, sich in den weißen Sand legen und an nichts denken, nur dem Wind und dem Rauschen des Wassers zuhören.
Wie kam das Killerkommando herein? Natürlich ist das Grundstück, wie er vermutete, bestens überwacht. Alle paar Meter sind Videokameras entweder an Bäumen oder auf Stehern montiert. Somit muss es eine Überwachungszentrale geben. In der Villa ist ihm nichts aufgefallen, aber er hatte nur oberflächlich gesucht. Wenn Kameras vorhanden sind, gibt es die dazugehörigen Aufzeichnungsbänder, und darauf wird auch Kokoschansky zu sehen sein. Aber wo? Wieder zurück und nochmals stöbern, ist zu riskant. Heimlich sind die Killer nicht eingedrungen, es müssen Helfer mitgespielt haben.
»Volltrottel!«, führt Kokoschansky Selbstgespräche. »Na klar! Wer sonst? Daramcić muss die Typen eingelassen haben!«
Der Journalist nähert sich einem großen Stahltor, beinahe wie die Ein- bzw. Ausfahrt eines Gefängnisses, oben mit Stacheldrahtrollen bewehrt. Gleich daneben steht ein kleines Haus, das sicherlich für die Wächter bestimmt ist. Vor dem Eingang liegen fünf Hunde. Zwei bullige, schwarzbraune Rottweiler, ein schlanker, schwarzer Dobermann und zwei Kraftpakete von hellen Mastiffs. Sie rühren sich nicht, als Kokoschansky langsam auf sie zurollt. Die Tiere sind tot, und ein Schwarm Schmeißfliegen surrt über den Kadavern. Er steigt aus, lässt den Motor laufen. Die Hunde müssen vergiftet worden sein, er kann keine Schusswunden entdecken.
Vorsichtig betritt er das Haus, merkt erst jetzt, dass er auf die Ingram vergessen hat, aber wenn die vierbeinigen Wächter tot sind, wird ihn drin nicht das blühende Leben empfangen. In dem ebenerdigen Haus laufen tatsächlich die Fäden zusammen. Kokoschansky wundert sich nicht, dass er mit Überwachungselektronik auf dem allerletzten Stand konfrontiert ist, und es schreckt ihn auch nicht mehr, weitere vier ermordete Männer vorzufinden, alle mit präzisen Kopfschüssen umgebracht. Wahrscheinlich gehen diese Morde sogar auf Daramcićs Konto, bevor er den Killertrupp hereinließ und sich selbst für die Zeit des Massakers aus dem Staub machte.
Verschiedene Leitungen sind gekappt. Obwohl es Kokoschansky nicht aufgefallen ist, werden sicherlich auch in der Villa Überwachungsmonitore installiert sein. Ein Regal interessiert ihn besonders. Hier sind Videobänder gestapelt, penibel datiert. Die letzten Aufzeichnungen stecken noch in den Recordern. Kokoschansky sammelt sie Band für Band ein, nimmt auch die Stöße der letzten zwei Monate aus dem Regal. Gerne hätte er alle mitgenommen, aber wie soll er sie transportieren? Noch schwieriger wird es, das Material in den Flieger zu bekommen. Doch darüber macht er sich jetzt noch keine Gedanken. Irgendwo wird er sich eine sehr große Reisetasche kaufen müssen.
Kokoschansky verstaut seine Schätze im Auto, probiert am Tor, ob es sich öffnen lässt. Problemlos lassen die Flügel sich aufziehen, kein Alarm ertönt. Bevor er endgültig abfährt, wirft er die Ingram achtlos in den Hauseingang. Den Trommelrevolver behält er noch.
Diese Karre zu lenken, ist für einen Zwei-Meter-Mann wie Kokoschansky eine wahre Tortur. Immer ist ein Körperteil im Weg. Tief gebückt hockt er hinter dem Lenkrad, um halbwegs durch die Windschutzscheibe sehen zu können. Daher fährt er auch wie auf rohen Eiern. Jetzt bloß nicht in eine Polizeikontrolle geraten.
Er hat keine Ahnung, in welche Richtung er fahren muss, er vertraut einfach auf seinen Instinkt und seinen Orientierungssinn. Endlich taucht ein Wegweiser nach Ulcinj auf und kurz danach auch einer für Podgorica. Es sind tatsächlich geringe Entfernungen.
Kokoschansky wird in Ulcinj den Fiat Uno stehen lassen, sich ein Taxi ordern und damit zum Flughafen fahren. Das ist sicherer. Das viele Geld und die Videobänder durch die Sicherheitsschleusen zu bringen, bereitet ihm Kopfzerbrechen. Zwar riskant, aber wenn alle Stricke reißen sollten, dann kann er immer noch versuchen, die Beamten zu schmieren. Es wäre fatal, wenn am Flughafen plötzlich sein Material beschlagnahmt werden würde.
Langsam fährt Kokoschansky über einen Hügel. Vor ihm liegt das Städtchen Ulcinj. Er bleibt am Straßenrand stehen. Während der Fahrt ist seine innere Anspannung zusehends verschwunden. Der Journalist blickt in den Rückspiegel, weit und breit niemand zu sehen. Kurzerhand öffnet er das Fenster, nimmt den Revolver aus dem Handschuhfach und schleudert die Waffe einen Abhang hinunter. Er spürt seine Wade kaum mehr, und auch die Operationswunde bleibt friedlich. Kokoschanskys Mund ist völlig ausgetrocknet, und trotz der vielen schrecklichen Bilder, die in seinem Kopf herumspuken, knurrt sein Magen. Auch seine Zigaretten gehen zur Neige. Zeit, sich ein Lokal zu suchen und danach einen Laden, wo er eine Reisetasche kaufen kann. Vielleicht findet sich auch eine Apotheke, wo er sich für den Notfall mit Schmerztabletten versorgen kann.
Ulica-Rruga, Majka-Tereza, Nëna-Terezë entziffert Kokoschansky. Die Ortstafeln und Straßenbezeichnungen sind zweisprachig, da der Bevölkerungsanteil der Albaner sehr hoch ist. Die südlichste Stadt Montenegros ist nicht weit von der albanischen Grenze entfernt und hat sich zu einem Touristenort gemausert.
Kokoschansky findet ein kleines Hotel in der Nähe des Hafens mit einem einladenden Gastgarten und bestellt ein ausgiebiges Frühstück. Er ist todmüde, doch der Kaffee und die vorzüglichen, einheimischen Spezialitäten, von denen er keine Ahnung hat, was es ist, wecken seine Lebensgeister wieder. Ob Saller es wohl geschafft hat? Kokoschansky ist sich nicht sicher, ob seine Verletzungen wirklich so schwer waren oder ob er nur gespielt hat. Gut hat es auf jeden Fall nicht ausgesehen, aber Saller ist ein harter Knochen.
Der Tipp des Kellners erweist sich als goldrichtig. In dem Laden, nur ein paar Schritte vom Hotel entfernt, findet Kokoschansky, was er braucht. Mit einer neuen Reisetasche und einigen Päckchen Marlboro kehrt er zum Auto zurück, fährt ein Stück weiter zu einer entlegenen Stelle und packt um. Danach sucht er das Ortsende des Städtchens, entdeckt ein Wäldchen, den idealen Platz, um sich des Autos zu entledigen. Er schnappt sich seinen lädierten Trolley, hängt sich die Reisetasche um und geht zurück zur Straße. Unrasiert, ziemlich abgerissen, sieht er wie ein Globetrotter aus, der sein Leben damit verbringt, sich die Welt anzusehen und sich durchs Leben zu schlagen. Mittlerweile ist es heiß geworden, weit und breit keine Aussicht auf Schatten. Es dauert nicht lange, bis Kokoschansky durchgeschwitzt ist. Auch sein Hinkebein beginnt, wieder zu schmerzen, und der Riemen der Tasche schneidet in seine Schulter ein.
Das sind die Momente, in denen er sich zu fragen beginnt: wozu? Hätte er damals sein Geschichtsstudium abgeschlossen und wäre, wie er es ursprünglich geplant hatte, an der Universität geblieben, wäre er wahrscheinlich heute Dozent mit geregeltem Leben und Einkommen, keinen Gefahren ausgesetzt. Hinterher ist man immer klüger. Ob er allerdings glücklich geworden wäre, zumindest was er auf seine Art unter Glück versteht, steht auf einem anderen Blatt.
Das Schnaufen eines altersschwachen Lasters reißt Kokoschansky aus seinen trüben Gedanken. Der fahrende Rosthaufen bleibt neben ihm mit quietschenden Bremsen stehen, stinkt fürchterlich, und der Fahrer beugt sich zu ihm herunter, spricht ihn auf Montenegrinisch an. Kokoschansky schüttelt den Kopf, versucht es auf Englisch, was wiederum von der anderen Seite nicht verstanden wird. Also dann auf Deutsch.
»Ah, deutsch«, grinst der Lenker, der auch ohne Maske problemlos in jedem Western den Bösewicht spielen könnte, »du Deutscher?«
»Nein. Austria, Österreich.«
»Ah, Österreich! Gutes Land! Wien?«
»Genau«, lacht Kokoschansky.
»So schönes Stadt. Ich arbeiten zwei Jahre am Bau dort. Für U-Bahn. Wohin du müssen?«
»Podgorica, Flughafen.«
»Ich dich bringen, keine Problema. Schmeißt du hinten deine Krempel auf Ladefläche. Komm, steigen ein.« Bereitwillig öffnet er die Beifahrertüre.
Mit Schwung wirft Kokoschansky sein Gepäck auf den Laster und hievt sich ins Führerhaus.
»Ich Predag«, er reicht dem Journalisten die Hand, »und du?«
»Heinz.«
Das Getriebe erzeugt erbarmungswürdige Geräusche, als Predag den Gang einlegt, und der Laster setzt sich ruckartig in Bewegung. Es dauert eine Weile, bis die altersschwache Kiste halbwegs Tempo erreicht, aber besser schlecht gefahren als laufen.
Die Fahrt ist sehr unterhaltsam, und Kokoschansky kann zumindest für ein Weilchen die schrecklichen Erlebnisse der letzten Stunden verdrängen. Predag martert seinen LKW, fährt, als gelte es, dem Teufel zu entkommen, raucht dabei ununterbrochen, wobei es sich, dem Geruch nach zu schließen, um gemahlene Fußmatten handeln muss. Jedenfalls ein Tabak, der selbst einem starken Raucher wie Kokoschansky den Genuss verleidet. Mehrmals lehnt er dankend die angebotenen Zigaretten ab und flüchtet sich in die Notlüge, dass er nur auf seine Marke eingehustet ist. Predag erzählt ununterbrochen, wie schön es in Wien war und dass er einiges Geld sparen konnte, dadurch seiner Familie, immerhin muss er sechs hungrige Mäuler stopfen, ein angenehmes Leben ermöglicht. Natürlich will er auch wissen, womit Kokoschansky seinen Lebensunterhalt verdient. Der Journalist faselt etwas von einer Erbschaft und dass er jetzt einmal richtig ausspannt.
Die abenteuerliche Fahrt nähert sich langsam dem Ende zu, und Kokoschansky ist nicht unglücklich darüber, denn Predag fährt nach dem Motto, dem Stärkeren gehört die Straße. Verkehrszeichen und Ampeln sind für die anderen gedacht, er hat seine eigenen Regeln. Der Laster rumpelt durch die Straßen von Podgorica, Kokoschansky versucht, sich zu orientieren, gibt es aber bald auf, weil es zwecklos ist. Marka Miljanova liest Kokoschansky auf einem Straßenschild, als Predag an einer Kreuzung doch das Ampelrot notgedrungen akzeptieren muss. Mit einem Ruck setzt der Laster sich wieder in Bewegung, biegt in diese Straße ein, und plötzlich hat Kokoschansky eine Eingebung, die ihn vor eventuellen Schwierigkeiten bewahren wird.
»Halt hier, bitte«, sagt er zu Predag, als er eine DHL-Zweigstelle entdeckt.
»Warum? Flughafen nicht mehr weit.«
»Mir ist noch etwas eingefallen, das ich unbedingt erledigen muss.«
»Wenn du meinen.« Predag ist sichtlich eingeschnappt, aber seine Miene erhellt sich sofort, als Kokoschansky ihm eine Zweihundert-Euro-Note in die Hand drückt. »Das zu viel. Ich Kollega von dir, du Kollega von mir.« Und er ist eine ehrliche Haut.
»Das passt so, Predag«, lächelt Kokoschansky, »du hast mir sehr geholfen. Vielen Dank!«
Mafiageld auszugeben, macht richtig Spaß, und in diesem Fall ist dieser Schein sicherlich sehr gut angelegt. Unbedacht springt er aus dem Führerhaus, genau auf sein verletztes Bein, was ihm sofort mit einem brennenden Stich heimgezahlt wird.
»Alles okay, Heinz?«, fragt Predag, der sogleich sein schmerzverzerrtes Gesicht bemerkt.
»Ja, ja«, wehrt Kokoschansky ab und hebt sein Gepäck von der Ladefläche, »bin nur blöde aufgetreten. Also dann, mach’s gut und nochmals danke!«
»Okidoki«, Predags Goldzähne blinken im Sonnenlicht, »wenn du wieder in Montenegro sein, wir laufen uns bestimmt übern Weg. Ist kleines Land. Ich wohnen in Ulcinj.«
Predag winkt, gibt Gas und hüllt seinen Laster in eine schwarze, zum Erbrechen stinkende Auspuffwolke.
Zumindest eine Sorge ist Kokoschansky los, und er ärgert sich, dass er nicht von selbst darauf gekommen ist und förmlich mit der Nase darauf gestoßen wurde. Er wird die brisanten Unterlagen und die Videobänder kurzerhand per DHL nach Wien schicken, und bei der Sicherheitskontrolle am Flughafen ist er aus dem Schneider.
Als er die heiße Fracht auf den Versandweg gebracht hat, steht Kokoschansky vor der DHL-Zweigstelle und zündet sich genüsslich eine Zigarette an. Nach wenigen Minuten gelingt es ihm, ein Taxi anzuhalten. Natürlich weiß der Chauffeur sofort, dass ein Tourist im Fond sitzt, und im Gegensatz zu Predag dürfte der Typ ein Schlitzohr sein, denn Kokoschansky bemerkt mehrmals, wie er bewusst Hinweisschilder in Richtung Flughafen übersieht, und bestimmt wird auch der Taxameter manipuliert sein. Was soll’s? Eine ungeplante Sightseeing-Tour vor dem Heimflug schadet nicht, schließlich bezahlt Madeo unselig.
Endlich ist der Tower des Flughafens in Sichtweite. Achtzig Euro kostet die Fahrt, und Kokoschansky bezahlt mit hundert, Rest Trinkgeld. Zurück bleibt ein dreist grinsender Taxilenker, der sicherlich seinen Kollegen stolz erzählen wird, wie er einen dämlichen Touristen über den Tisch gezogen und sich dabei eine goldene Nase verdient hat.
Kokoschansky beschließt, direkt von Podgorica nach Wien zu fliegen. Jetzt gibt es keinen Grund mehr, die Route zu verschleiern.
Genügend Zeit vor dem Boarding noch Robin Hood zu spielen. Kokoschansky sucht eine Toilette auf, überprüft ob Überwachungskameras vorhanden sind, doch der Raum ist sauber. Er nimmt aus dem Behälter die Papierhandtücher heraus, präpariert sie mit Madeos Dollar- und Euroscheinen und stopft den Packen wieder zurück. Sicherlich wären die verdutzten Gesichter der Finder hochinteressant. Danach noch einen Happen Essen und das Gehalt der Kellnerin erheblich aufbessern. Es macht Spaß, Mafiageld zu verpulvern.
Der Beamte in seinem Glaskobel sieht mit ausdruckslosem Gesicht auf Kokoschanskys Pass und winkt ihn mit einem lässigen Kopfnicken durch. Ach du meine Güte, das Geschenk für Günther! In der Hektik und Aufregung hätte er beinahe darauf vergessen. Rabenvater, tadelt er sich selbst. Der Journalist eilt in den Bereich der Duty-free-Shops, in der Hoffnung, ein Spielwarengeschäft zu finden. Die Auswahl ist nicht unbedingt überwältigend.
Er entscheidet sich für zwei knallig bunte T-Shirts mit lustigen Motiven, die seinem Jungen sicherlich gefallen werden. In spätestens drei Monaten passen ihm die Leibchen nicht mehr. Man kann dem kleinen Racker förmlich beim Wachsen zusehen. Von wem er das wohl hat?
Langsam wird es Zeit für das Boarding. Kokoschansky nimmt seine Armbanduhr ab, legt sie in die graue Plastikwanne, dazu den Gürtel seiner Hose, nimmt das Handy aus seiner Jacke, beides wandert in den Behälter. Keinerlei Beanstandungen, problemlos passiert der Journalist die Kontrolle.
Dann entdeckt er eine Telefonzelle, ruft 112 an. Auf Englisch und mit verstellter Stimme sagt er der freundlichen Frauenstimme am anderen Ende der Leitung, dass man ein Anwesen in der Nähe von Ulcinj näher in Augenschein nehmen soll und legt auf.
Erschöpft lässt Kokoschansky sich in einen der Sitze im Gate fallen und wird von schlimmen Ahnungen gequält, dass zu Hause einiges in Unordnung sein könnte.
*
In der Businessclass saßen außer Kokoschansky nur zwei weitere Personen, eine Frau und ein Mann. Beide sehr elegant, sehr arrogant, sehr geschäftig und mit einem Haufen Sonderwünsche. Einmal passte ihr der Platz nicht, dann wieder verspürte er Zugluft. Sie wollte eine bestimmte Sorte Champagner, er wieder einen speziellen Whiskey. Pech, beides war an Bord nicht vorhanden. Natürlich ein Grund, sich lautstark über den miesen Service zu mokieren. Und dann noch dieser abgerissene Typ in Person Kokoschanskys zwei Reihen hinter ihnen! Der Journalist war viel zu müde und erledigt, um auf ihre geringschätzigen Blicke mit entsprechenden provokanten Worten zu reagieren. Kaum war der Flieger in der Luft, wurden sofort die Laptops hervorgeholt und wild in die Tastaturen getippt.
Kokoschansky verfiel sofort in einen tiefen, traumlosen Schlaf, nur einmal sanft durch das Rütteln an seiner Schulter von der Stewardess geweckt, die ihm sein Essen brachte, das er allerdings nur bis zur Hälfte verzehrte, um gleich wieder einzunicken. Die Strecke von Montenegro nach Österreich ist ein Katzensprung, die Zeit verging im sprichwörtlichen Sinne tatsächlich wie im Flug, und er hätte gerne noch ein Weilchen weitergeschlummert.
Mitgenommen und erschöpft steigt Kokoschansky in Wien in den Zubringerbus, der ihn zum Hauptgebäude des Flughafens bringt. Während der Fahrt aktiviert er sein Handy und hofft inständig auf ein Lebenszeichen von Lena. Doch unter den Unmengen an Nachrichten, auch von Petranko, der ihm viel Glück wünschte, findet er nichts von Lena. Sofort plagen ihn wieder die wildesten Gedanken, Vorstellungen und Szenarien. Während er am Förderband steht und auf seinen Trolley wartet, ruft er mehrmals vergeblich zu Hause an.
Die Ängste, die er um Lena und seinen Sohn aussteht, sind nichts im Vergleich zu dem, was er in Montenegro durchmachen musste. Wer weiß, was Lackner und Erharter ausgeheckt haben? Auch Katterka ist von der Dummheit und Unfähigkeit seiner beiden Beamten schwer angepatzt und behindert, zumindest für einige Zeit. Sein geplanter, weiterer Aufstieg ist in weite Ferne gerückt. Große Teile der Polizei werden Kokoschansky ebenfalls nicht wohlgesonnen sein, da sein TV-Auftritt als Generalangriff auf den gesamten Berufsstand angesehen wird.
Endlich taucht sein kaputter Trolley auf. Er schnappt sich seinen Koffer, drängt sich durch die Wartenden, will nur nach Hause und endlich wissen, was los ist. Kokoschansky steuert auf den grün markierten Ausgang zu, der für Ankommende vorgesehen ist, die nichts zu verzollen haben. Plötzlich steht ein Zöllner vor ihm und stellt sich ihm in den Weg.
»Einen Moment, bitte schön. Folgen Sie mir.«
Sicherlich erregt Kokoschanskys Penneraussehen die Aufmerksamkeit des Beamten, und der Journalist ist heilfroh, zur rechten Zeit der richtigen Eingebung gefolgt zu sein und das `Ndrangheta-Material mit DHL verschickt zu haben.
»Sind Sie Österreicher?«, fragt der Zöllner, der Kokoschansky in einen vom normalen Ankunftsbetrieb aus nicht einsehbaren Bereich geführt hat.
»Ja.«
»Ihren Reisepass, bitte.« Kokoschansky zieht das gewünschte Dokument aus einer Tasche seiner Jeansjacke. »Woher kommen Sie?«
»Montenegro.«
»Was war der Grund Ihrer Reise?«
Langsam beginnt der Typ zu nerven.
»Wie wär’s mit Urlaub?«
»Ihr Ticket, bitte.«
Kokoschanskys Schmerzgrenze ist erreicht, er ist auf hundertachtzig.
»Hm, Businessclass«, abfällig mustert der Beamte den Journalisten von oben bis unten, »das war aber ein sehr kurzer Urlaub.«
»Und? Was dagegen?«
»Nein. Haben Sie etwas zu verzollen?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Legen Sie Ihren Trolley hier auf die Bank und treten Sie einen Schritt zurück.«
Kokoschansky glaubt nicht an eine normale Zollkontrolle, da bahnt sich etwas an. Viel gibt es in dem Trolley nicht zu kontrollieren.
»Haben Sie Drogen am oder im Körper?«
»Ja.«
Zum ersten Mal gelingt es Kokoschansky, diese beamtete Nervensäge ernsthaft zu irritieren, doch noch bevor dieser reagieren kann, klärt er ihn grinsend auf: »Legale Drogen in Form von Zigaretten und Koffein. Zufrieden?«
»Die Verletzung an Ihrer Hand scheint frisch zu sein. Haben Sie sich die in Montenegro zugezogen?«
»Die Frauen dort sind sehr heißblütig«, lächelt Kokoschansky süffisant, »und stellen Sie sich vor, beißt mich doch dieses Luder in ihrer Geilheit mittendrin tatsächlich in die Hand.«
»Für mich ist es erledigt. Doch es will Sie noch jemand sprechen.«
»Na, Kokoschansky, so trifft man sich wieder.« Hinter einer Ecke tritt ein dreist grinsender Erharter hervor. »Was hast du denn in Montenegro verloren?«
»Das geht vor allem dich einen riesengroßen Scheißdreck an.« Genau diesen Kerl braucht Kokoschansky jetzt wie einen Schuss ins Knie. Mit allem hat er gerechnet, aber niemals, dass der verhasste Bulle ihm im Flughafen auflauert. Doch er muss sich beherrschen, wirkt nach außen hin völlig ruhig und abgeklärt. »Wer lässt fragen? Sind die Suspendierungen von dir und deinem Busenfreund wieder aufgehoben? Da wäre mir wirklich etwas entgangen, kann ich mir aber nicht vorstellen. Darfst du ohne deinen Wachhund überhaupt alleine unter die Leute? Freundchen, du baust in deiner grenzenlosen Blödheit schon wieder Scheiße. Amtsanmaßung nennt man das, falls es dir entgangen sein sollte, du bist weg vom Fenster. Du darfst nur etwas tun, was mit deinem bisherigen Job überhaupt nichts zu tun hat. Auto waschen, mit deiner Frau einkaufen, tapezieren und so weiter. Jetzt hast du zusätzliche Probleme am Arsch, mein Lieber. Du spionierst auf eigene Faust ohne dienstlichen Auftrag einen freien, unbescholtenen, österreichischen Staatsbürger aus. Wer hat dir gesteckt, woher ich komme? Der da?« Kokoschansky zeigt mit dem Finger auf den Zöllner, der in einiger Entfernung die Auseinandersetzung beobachtet, und winkt den Mann zu sich, der zwar zögernd, aber dennoch kommt.
»Von Ihnen hätte ich gerne Namen und Dienstnummer.«
»Und warum?«
»Weil Sie sich ein Problem eingehandelt haben.«
»Ach tatsächlich?«
»Dieser Kriminalbeamte vom BKA ist nämlich derzeit für diesen Verein gar nicht mehr tätig, weil er suspendiert worden ist, und Sie haben ihm anscheinend Auskünfte über meine Person erteilt, was Sie gegenüber einem Privatmann, der er jetzt ist, gar nicht dürfen. Vielleicht sind Sie beide auch befreundet? Wie auch immer, interessiert mich nicht.«
»Was wollen Sie eigentlich, Herr Kokoschansky?«, der Zöllner ist sich keiner Schuld bewusst. »Ich habe nur meine Pflicht getan und eine routinemäßige Kontrolle durchgeführt.«
»Lesen Sie keine Zeitungen, oder sehen Sie nicht fern?«
»Wieso? Muss ich das?«
»Kommen Sie«, Kokoschansky fällt es schwer, sich im Zaum zu halten, der stoische Zöllner zerrt gewaltig an seinen Nerven. »Sie wollen mir doch nicht weismachen, diese Visage«, dabei zeigt er ungeniert auf Erharter, »ist Ihnen unbekannt? Und meine dazu?«
»Ich habe mit dem BKA nichts zu tun. Der Zoll gehört, wie Sie vielleicht wissen, Herr Kokoschansky, zum Finanzministerium. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich habe zu tun.«
»Das wirst du noch bereuen«, Erharter ist ganz dicht an Kokoschansky herangetreten und flüstert, »dich und Petranko machen wir fertig. Verlass dich drauf. Es gibt eine Menge Leute, die euch am Boden sehen wollen. Vor allem dich, Kokoschansky. Was hast du in Montenegro gemacht?«
»Ich recherchiere für ein Kochbuch über die montenegrinische Küche. Woher weißt du überhaupt, wo ich war, du Wichser?«
»Mmh«, Erharter steckt die Beleidigung weg wie ein Boxer einen Uppercut, »man hat auch Freunde.«
»Schön für dich. Dann sollen sie sehr auf dich, Lackner und ein paar andere Arschlöcher in deinem ehemaligen Verein achten. Ihr habt den Krieg angefangen, also werdet ihr ihn bekommen. Und jetzt hau ab, ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Ach ja und noch etwas. Solltest du oder ihr irgendetwas gegen meine Familie im Schilde führen, garantiere ich dir bereits jetzt, dann spielt es gewaltig Granada.«
»Wir kriegen dich, du Scheißfigur«, hört Kokoschansky den angeschlagenen Kriminalbeamten hinter seinem Rücken fluchen und quittiert die Drohung mit dem ausgestreckten Mittelfinger.
Der Journalist könnte darauf wetten, dass der Zöllner Erharters Informant war. Vielleicht kam der Tipp auch aus den Reihen der AUA oder von der Flughafenpolizei? Kokoschansky hat keine Ahnung, wo Erharters Leute sitzen. Tatsache bleibt, der Personenkreis, der in Wien von seinem Trip nach Montenegro wusste, ist sehr klein: Lena, Petranko, Rocky, Husky, Saller natürlich und dessen Anwalt. Die kommen als Maulwurf nicht infrage.
Momentan ist Kokoschansky nur über die Verzögerung verärgert, er denkt nicht länger darüber nach, will nur auf schnellstem Weg nach Hause. In der Ankunftshalle herrscht das übliche Gedränge. Er marschiert durch die Menschenwand und ist richtig neidisch auf das Pärchen, das ein paar Meter vor ihm steht, die Welt ringsum vergessend, und sich leidenschaftlich küsst. Sie hält eine langstielige, rote Rose in der Hand. Wunderschön, wäre Lena jetzt hier und an der Hand Günther. Zum Glück erwischt Kokoschansky einen Taxifahrer mit Gasfuß, der nicht die geringste Lust auf Konversation verspürt.
Obwohl er nicht einmal zwei Tage fort gewesen ist, kommt es ihm wie eine Ewigkeit vor, als er wieder vor seinem Wohnhaus steht. Bemüht, so wenig wie möglich an die schrecklichen Ereignisse zu denken, steigen vor seinem geistigen Auge doch immer wieder die grauenhaften Bilder auf. Wenigstens sind die Schmerzen in seinem Bein beinahe verschwunden. Er verzichtet auf den Lift, nimmt zwei Stufen gleichzeitig, hastet die Treppen hoch, fingert in seinen Taschen nach den Schlüsseln, schimpft leise, weil sie ihm vor Aufregung zu Boden fallen. Die Türe ist nicht versperrt.
»Lena? … Lena! … Bin ich froh, wieder hier zu sein!«
Er lässt sein Gepäck im Flur fallen, stürmt ins Wohnzimmer. Lena sieht ihn mit ausdrucksleeren Augen wie einen Fremden an.
»Schatz, ich bin’s! Was ist passiert?«
Er stürmt auf sie zu, will sie in den Arm nehmen, endlich an sich drücken und ihr einen Kuss geben, doch sie dreht nur den Kopf beiseite, wendet sich ab, und er versteht gar nichts mehr.
»Hey, was soll das? Was ist los?«
»Das fragst du noch?«, spricht Lena leise mit brüchiger Stimme. »Weißt du das nicht?«
»Was soll ich wissen?«
»Und ich dachte, du wärst anders als die anderen. Männer sind nun einmal Schweine und werden es immer bleiben. Ich werde dich verlassen.«
»Was?« Kokoschansky fällt auf einen Stuhl, hält die Hände an die Schläfen gepresst, der Boden wirft Wellen und wankt. »Warum willst du von mir weg? Kannst du mich bitte aufklären, worum es eigentlich geht?«
»Es ist eine ziemlich fiese Nummer, die du hier abziehst«, langsam dreht Lena sich in seine Richtung und greift sich ans Herz, »ist dir eigentlich bewusst, was du da drinnen angerichtet hast?«
»Sag mal, spinnst du jetzt?«
»Deswegen brauchst du mich nicht anzufauchen … Sonja …«
»Was ist mit ihr?«
»Das wirst du wohl selbst am besten wissen. Du betrügst mich mit ihr, du fickst wieder mit ihr rum.«
»Wer behauptet das?« Kokoschansky fühlt sich wie in Watte gepackt, ist kaum mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Sonja war hier und hat mir reinen Wein eingeschenkt.«
»Und du glaubst diese verlogene Scheiße?«
»Sie war sehr überzeugend«, antwortet Lena und ihre Stimme klingt etwas gefasster, » es ist doch toll, wenn man es mit zwei Frauen abwechselnd treibt. Da kann sich mancher in deinem Alter eine Scheibe abschneiden.«
»Pah!«, brüllt
Kokoschansky los, und er drischt mit seiner Faust voll auf die
Tischplatte. »Dieses verdammte Miststück! Ist die von allen
guten
Geistern verlassen? Das wird sie mir büßen! Los, zieh dich an! Wir
fahren sofort zu ihr!«
»Was? Jetzt?«
»Sicher! Wann sonst? Mach schon! Und sie soll mir genau das ins Gesicht sagen, was sie dir verklickert hat!«
*
Erharter, blind vor Rachegedanken, sitzt in einem der zahlreichen Flughafenrestaurants und spricht leise in sein Handy: »… wenn ich dir sage, er ist direkt aus Montenegro gekommen … Woher soll ich das wissen? Ich habe keine Ahnung, was der Arsch dort gemacht hat. Der Drecksack ließ sich nicht im Geringsten einschüchtern, der fühlt sich ziemlich sicher. Und er scheint sich verletzt zu haben. Zumindest ist eine Hand verbunden. Was sollen wir jetzt tun?«
*
»… so. Jetzt weißt du Bescheid, wie es wirklich war. Ich habe mir nichts vorzuwerfen, außer dass ich dir diesen unwürdigen Vorfall nicht sofort erzählt habe, aber es war schließlich genug los, wie wir beide wissen, und ich dachte, es ist wohl besser, wenn ich es für mich behalte.«
Kokoschansky möchte am liebsten vor Wut zerspringen. Das Schlamassel ist schlimm genug, jetzt dreht auch noch seine Exfrau durch. Mit quietschenden Reifen parkt er sich vor Sonjas Wohnhaus ein. Leider kann er nicht vor seiner Ex toben, wie er gerne möchte, da Günther sicherlich bei ihr ist und der Kleine davon auf keinen Fall etwas mitbekommen darf. Lena wiederum nimmt er krumm, dass sie ihm tatsächlich zutraut, sie mit Sonja zu betrügen, und ihm nicht einmal eine Chance lässt. Das ist der Grund, weshalb sie in der Zeit, in der er weg war, nicht das leiseste Lebenszeichen von sich gegeben hat. Dafür hat sie sich lieber grundlos die Augen aus dem Kopf geweint. Er braucht ihr nur ins Gesicht zu sehen.
Zornig drückt er den Klingelknopf und läutet Sturm, während Lena ihn vergeblich mahnt, doch auf das Kind Rücksicht zu nehmen, aber er winkt nur energisch ab.
»Mama, Mama!«, hört Kokoschansky die süße Stimme seines Sohnes. »Da ist wer!«
Dem Journalisten fällt ein, dass er in der Hektik auf das Mitbringsel für seinen Sohn vergessen hat. Sonja öffnet, und Günther hüpft jauchzend an seinem Vater hoch.
»Da ist ja mein kleiner Racker!«, Kokoschansky bietet alle seine Schauspielkunst auf, zu deren er fähig ist, um sich vor Günther nichts anmerken zu lassen. Kinder haben feine Antennen. »Bist du schon wieder gewachsen? Und so schwer!«
»Papa ist wieder hier!«, jubelt der Bub und wechselt von seinem Vater zu Lena, um ihr einen dicken, nassen Schmatz auf die Wange zu drücken.
»Das ist aber eine Überraschung«, Sonja wirkt fahrig und überrumpelt. Offensichtlich hat sie nicht mit diesem ungebetenen Besuch gerechnet, doch sie ahnt sofort, dass Feuer am Dach ist, denn Kokoschanskys verkniffene Miene spricht Bände. »Kommt rein, macht es euch bequem. Ihr kennt den Hausbrauch«, versucht sie, sich locker zu geben.
»Mama, ist Papa böse?« Der Bub hat tatsächlich ein exzellentes Gespür.
»Nein, Papa ist nur müde.« Kokoschansky hat Mühe, seinen Sohn zu überzeugen. »Weißt du was? Du gehst jetzt in dein Zimmer, spielst ein bisschen. Deine Mama, Lena und ich haben etwas zu besprechen, dabei wird dir nur langweilig. Danach schaue ich bei dir vorbei und Lena auch.«
»Na gut.«
Mit gehörigem Schmollmund tapst Günther davon, und Kokoschansky wartet ab, bis die Türe geschlossen ist.
»Du weißt, warum ich hier bin und Lena gleich mitgebracht habe«, kommt er sofort zur Sache. »Bist du jetzt komplett von der Rolle? Spielen wir Michael Douglas und Glenn Close, machen auf Eine Verhängnisvolle Affäre oder was? Lena weiß inzwischen Bescheid, wie es wirklich abgelaufen ist. Behauptest du noch immer, wir haben miteinander ein Verhältnis?«
Sonja lehnt am Kühlschrank, knetet nervös ihre Finger und starrt zu Boden.
»Komm, trau dich«, versucht Kokoschansky, sie aus der Reserve zu locken, »wiederhole diesen ungeheuerlichen Schwachsinn.« Seine Exfrau bleibt wie eine Statue stehen, rührt sich nicht vom Fleck. »Was ist? Ich habe mein Lebtag keine Frau geschlagen, und ich habe es nicht vor, aber du bringst mich dermaßen in Rage, dass du mich noch dazu bringst und mir tatsächlich die Hand ausrutscht, wenn du nicht augenblicklich Farbe bekennst und die Wahrheit sagst.«
»Sonja«, Lena ist kleinlaut, verlegen, kämpft mit ihren Gefühlen, und nach Kokoschanskys forschem Auftreten ist sie unsicher, hofft und fürchtet zugleich, ihm bitter unrecht getan zu haben. »Stimmt seine Version oder deine?«
»Komm, raus damit!«, fordert Kokoschansky seine Exfrau barsch auf. »Was bringt es herumzueiern? Bringen wir es hinter uns. Ich habe genug Probleme um die Ohren, da brauche ich nicht auch noch deine verdammten Lügengeschichten.«
Sonja hebt im Zeitlupentempo ihren Kopf, sieht zuerst mit wässrigen Augen zu Koko, dann zu Lena, wirkt wie eine gebrochene alte Frau, wankt zu einem Stuhl und setzt sich.
»Was ist nun das wieder für eine Show?« Kokoschansky ist ungeduldig. Vor diesem Moment hat er sich immer gefürchtet. Dass ihn eine Frau einmal so weit treibt und er zuschlägt. Sonja ist auf dem besten Wege dazu.
»Es stimmt«, sagt Sonja kaum verständlich, scheint irgendwie weggetreten zu sein und wiederholt sich, »ja, es stimmt. Ich habe fürchterlichen Mist gebaut. Ich habe gelogen. Koko hat mich nach unserer Scheidung nie mehr angerührt. Ich habe ihn verführen wollen, aber er ist standhaft geblieben. Du kannst stolz auf deinen Koko sein.«
»Warum, Sonja? Warum?« Lena geht vor ihr in die Hocke, umfasst Sonjas Knie. »Warum um alles in der Welt? Ich habe dir geglaubt, so überzeugend warst du.«
»Das fragst du?« Mit einem bösen Blick sieht Sonja ihre Rivalin an, schiebt Lenas Hände weg, steht auf, scheint wieder gefasst zu sein. »Weil ich neidisch bin! Weil du ihn dir unter den Nagel reißen konntest, wozu ich nicht imstande war! Weil er dich fickt und ich nichts habe! Ja, einen wunderbaren Buben, dem ich täglich etwas vorspielen muss, damit er nicht merkt, wie es tatsächlich um mich steht. Darum habe ich das gemacht.« Sonja zündet sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, sieht Kokoschansky durchdringend an. »Du hast unsere Familie in den Abgrund geführt. Du und dein verfluchter Scheißberuf! Alle meine Träume sind geplatzt, alle meine Sehnsüchte in unerreichbare Weiten entrückt. Danke schön, Koko. Bisher habe ich geschwiegen, aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin fertig und am Ende. Und du hast mir meinen Sex geraubt. Diese verdammte Geschichte, durch die ich durch dich unschuldig hineingezogen wurde, beinahe von einer Horde Männer vergewaltigt und danach umgebracht worden wäre. Wegen dir musste ich monatelang in psychiatrische Behandlung, ließ eine Unzahl Therapiesitzungen über mich ergehen, nur damit ich meinen Alltag und meinen Beruf wieder halbwegs bewältigen kann. Ich werde meinen Job als Krankenschwester sicherlich nicht mehr lange ausüben können. Bevor mir ein gravierender Fehler unterläuft, höre ich auf. Nur unser Sohn hält mich noch am Leben. Gäbe es ihn nicht, hätte ich mich schon längst ausgeklinkt. Weißt du eigentlich, wie lange ich schon keinen Mann mehr hatte?«
»Moment mal, Sonja«, Kokoschansky schwankt noch immer zwischen Wut und Mitgefühl, »Tatsache bleibt wohl, dass du erst durch deinen damaligen Lover in diese Kreise geraten bist. Erst dadurch war diese schreckliche Situation für dich entstanden.«
»Ja, nachdem du genau in diesen Kreisen zum Herumschnüffeln angefangen hast«, ereifert Sonja sich. »Ich habe euch nur immer die heile Welt vorgegaukelt, wenn wir uns trafen oder ihr auf Besuch gekommen seid. Und wenn ihr es genau wissen wollt, ich habe euch niemals euer Glück gegönnt.«
Die Küche beginnt, sich vor Lenas Augen zu drehen, und sie hat Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Niemals hätte sie angenommen, dass Sonja sich dermaßen verstellen kann und der pure Hass aus ihr spricht. Sie hielt Sonja bislang immer für eine gute Freundin, die akzeptiert hat, dass ihre Ehe gescheitert ist und dennoch zu ihrem Ex und dessen neuer Lebensgefährtin ein freundschaftliches Verhältnis pflegt. Mitnichten! Somit bewahrheitet sich zum wiederholten Mal, niemand kann in einen anderen Menschen hineinsehen. Lena schämt sich in Grund und Boden, dachte, sie verfüge, schon berufsbedingt, über eine ausgezeichnete Menschenkenntnis.
Kokoschansky ist völlig von den Socken. Die bisherige Wut hat sich in Mitleid und vor allem in Angst, Angst um seinen Sohn und auch um Sonja, umgewandelt.
»Ich verstehe nicht, Sonja«, sagt Kokoschansky mit belegter Stimme, »warum hast du nie mit mir, mit uns darüber gesprochen? Warum hast du zu so einer Lüge greifen müssen?«
»Was hätte das geändert? Nichts«, erwidert Sonja trotzig, »oder hättest du von ihr die Finger gelassen?« Sie vermeidet bewusst, Lenas Namen auszusprechen, um auf diese Art ihre Verachtung zu zeigen.
»Das ist gründlich danebengegangen«, stellt Kokoschansky nüchtern fest, »ich dachte immer, du bist eine gestandene Frau, die das Ende einer Beziehung verkraften kann. Dem ist leider nicht so. Hör zu, Sonja. Lena und Günther bedeuten mir alles, sind alles, was ich habe, und ich will nicht und lasse es auch nicht zu, dass jemand, auch du nicht, einen Keil dazwischentreibt. Lass dir helfen. Nimm wieder psychologische, psychiatrische Hilfe in Anspruch. Geh wieder in Therapie. Die Scheißtabletten, die du dir dauernd einwirfst, schaden doch nur. Natürlich sitzt du an der Quelle, kannst dir besorgen, was dir in den Sinn kommt. Günther kommt in dieser Zeit zu uns, irgendwie bekommen wir das schon auf die Reihe. Selbstverständlich kannst du unseren Jungen jederzeit besuchen und wenn du wieder völlig hergestellt bist, kehrt er zu dir zurück.«
»Ich brauche keine Hilfe«, lehnt Sonja brüsk ab, »weder von dir, noch von ihr oder sonst jemandem. Schon gar kein Mitleid. Ich komme alleine zurecht. Dass ich gelogen habe, tut mir leid. Dafür entschuldige ich mich, aber mehr nicht. Und jetzt geht, bitte.«
»Von meinem Jungen werde ich mich wohl noch verabschieden dürfen.«
»Tu das …«
Günther ist zu Tode betrübt, als sein Vater und Lena sich verabschieden und nicht einmal Zeit für eine Geschichte bleibt. Lena sitzt in sich zusammengesunken auf dem Beifahrersitz, das pure Elend. Sie weiß, was sie mit ihrem unbegründeten Verdacht und ihrer Eifersucht angerichtet hat, kann nur hoffen, dass Kokoschansky ihr vergibt. Schweigend fahren sie nach Hause. Erst als er den Motor abstellt, wendet er sich Lena zu.
»Wir werden jetzt ein wenig reden müssen, Lena«, sagt er leise, »lange reden …«
»Ja«, haucht sie und spürt förmlich die schwarze Wolke, die sich über ihrem Kopf zusammenbraut.
In der Wohnung geht Kokoschansky zuerst in die Küche und betätigt die Kaffeemaschine, danach kommt er mit zwei Tassen ins Wohnzimmer und stellt sie auf dem Tisch ab.
»Wirfst du mich jetzt raus?« Lena blickt zu ihm hoch wie ein bei einem Streich ertapptes Kind. »Schließlich ist es deine Wohnung.«
»Blödsinn«, winkt Kokoschansky ab, aber er bleibt nach wie vor kühl und unnahbar, »dieser Trampel weiß gar nicht, was sie mit ihrer hundsgemeinen Lügerei ausgelöst hat. Nicht nur, dass sie zwischen uns Unfrieden stiftet, sie lehrt mich nun das Fürchten, was Günther betrifft. Ich habe eine Scheißangst um den Kleinen, die ich gar nicht beschreiben kann.«
»Was meinst du damit?«
»Ich traue Sonja nicht mehr über den Weg. Diese Frau ist krank, nicht nur vor Eifersucht. Sie ist zu einer lebenden Zeitbombe geworden. Hast du diesen Hass in ihren Augen gesehen? Sonja gehört in eine Klinik.«
»Du meinst, sie lässt es Günther spüren?«
»Noch hält sie sich zurück, ich merke auch nicht, dass der Junge irgendwie leidet. Aber wie lange noch? Ich möchte nicht eines Morgens die Zeitung aufschlagen und lesen, Mutter tötete ihren Sohn und anschließend sich selbst.«
»Glaubst du wirklich, sie würde so weit gehen?«
»Ja, ich bin sogar davon überzeugt. Ich spüre instinktiv, sie will sich etwas antun, damit mich bis an mein Lebensende Schuldgefühle plagen. Günther ist das geeignete Mittel zum Zweck. Wenn sie Selbstmord begeht, ist das bitter und traurig, aber, so gesehen, bleibt mir der Bub. Sind beide weg … ach, ich mag es mir gar nicht ausmalen.«
»Sie hat aber das Sorgerecht.«
»Das weiß ich auch!«, fährt Kokoschansky Lena scharf an.
»Entschuldigung …«
»Tut mir leid. Im Augenblick weiß ich nicht, was ich tun soll. Ich kann ihr nicht einmal das Jugendamt auf den Hals hetzen, weil es keinen Grund zum Einschreiten gibt. Günther fehlt es an nichts, er wächst in geordneten Verhältnissen auf. Ich kann nur dasitzen und abwarten, erst dann etwas unternehmen, wenn es zu spät ist.« Verzweifelt vergräbt Kokoschansky sein Gesicht in seinen Händen.
»Was ist mit deiner Hand?«, fragt Lena zögerlich.
»Nichts weiter«, wischt Kokoschansky ihre Frage beiseite, »nur eine Lappalie. Nicht der Rede wert. Mir muss schleunigst etwas einfallen, damit ich Sonja zur Räson bringe und meinen Sohn aus ihren Fängen befreie.« Er hält sich die Hände vors Gesicht, schüttelt dann den Kopf, steht auf. »Ich muss jetzt endlich unter die Dusche. Vielleicht habe ich danach wieder einen halbwegs klaren Schädel.«
Das angenehme warme Wasser zeigt tatsächlich Wirkung und bringt ihn wieder auf Vordermann. Die Wunde an der Wade ist zum Glück weniger schlimm, als er ursprünglich angenommen hatte, und die Heilung seiner kleinen Operationswunde im Schritt macht ebenfalls gute Fortschritte. Für das Bein und die Hand reichen zwei größere Pflaster. Kokoschansky schlüpft in seinen Frotteebademantel und kehrt ins Wohnzimmer zurück, wo Lena noch immer niedergeschlagen am gleichen Platz sitzt.
Er setzt sich neben sie, nimmt ihre Hand und tätschelt sie. »Du bist ein richtiges Dummerchen, Lena«, tadelt er, »hast du tatsächlich angenommen, ich fange mir hinter deinem Rücken mit Sonja etwas an? Einfach so? Aus Spaß? Sex mit der Ex?«
»Ich habe mir so inständig gewünscht, dass es nicht der Fall ist.«
»Du hast von ihr selbst gehört, was Sache ist. Aber ihr geglaubt, als sie dir dieses Märchen aufgetischt hat.«
»Sie klang so überzeugend.« Lena nagt an ihrer Unterlippe. »Wie geht es nun mit uns weiter? War es das?«
»Kindskopf.« Zum ersten Mal lächelt Kokoschansky wieder nach längerer Zeit. »Im Grunde kann ich dich sogar verstehen. Sehr gut sogar. Du weißt alles von mir, kennst mich in- und auswendig. Ich war nie ein Kind von Traurigkeit. Ein Filou, ein Windbeutel, der sich seine eigene Moral zusammengezimmert hat, über Treue in einer Partnerschaft zwischen Mann und Frau seine eigenen Ansichten hatte, bis du in mein Leben getreten bist. Du hast mir altem Deppen bewiesen, dass die alten Werte doch nicht überholt sind und Relikte aus vergangenen Zeiten. Wegen dir habe ich mich von Grund auf geändert, weil ich es auch wollte. Darum hat es mich ins Mark getroffen, weil du mir ein heimliches Verhältnis zugetraut hast.«
»Ich habe große Scheiße gebaut«, gesteht Lena und drückt seine gesunde Hand, so fest sie kann, »ich glaube nicht, dass Sonja wirklich ausrastet. Dafür liebt sie Günther viel zu abgöttisch. Sie will dich nur unter Druck setzen und erpressen.«
»Dein Wort in Gottes Ohr«, seufzt Kokoschansky und bleibt weiterhin skeptisch, »ich habe ein mieses Gefühl, und es täuscht mich selten.«
»Verzeihst du mir?«
In den Jahren, seit er mit Lena zusammenlebt, hat er sie noch nie so aufgelöst und fertig gesehen. Natürlich hat er ihr längst vergeben. Er wäre dumm, deswegen Schluss zu machen. Wer selbst im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Nie und nimmer würde er diese Traumfrau wegen dieser Nichtigkeit vor die Türe setzen. Doch ein wenig zappeln lassen, schadet nicht. Strafe muss sein.
»Hm«, brummt er vor sich hin, » das war schon ein dicker Hund.«
»Das verstehe ich. Ich kann mich nur wiederholen. Es tut mir unendlich leid. Ich würde viel darum geben, es ungeschehen machen zu können.« Lena nimmt einen Schluck Wasser. »Was war los in Montenegro?«
»Der absolute Irrsinn. Heute will ich aber nicht mehr darüber reden. Es reicht einfach. Ich will einfach nur abschalten?«
»Was ist das an deinem Bein?«
»Ein nettes Andenken an meinen Kurztrip. Ist bald verheilt.«
»Und das andere?«
»Was?« Jetzt erst begreift Kokoschansky, was Lena meint. »Daran denke ich gar nicht mehr. Ab und zu zwickt es noch im Schritt, doch nicht weiter wichtig.«
»Ich möchte es mir ansehen«, lässt Lena nicht locker.
»Später.«
Einige Minuten bleiben sie schweigend sitzen, bis Lena plötzlich aufsteht, nach seiner Jeans greift, die er achtlos fallen gelassen hat, und den dicken, schwarzen Ledergürtel aus den Schlaufen zieht.
»Ja, das gute Stück gehört wirklich in die Wäsche«, bemerkt Kokoschansky, »es starrt förmlich vor Dreck.« Er merkt nicht, dass er mit dieser Bemerkung völlig falsch liegt. Lena hat anderes im Sinn und hält ihm entschlossen den Gürtel hin. »Schlag mich …«
»Äh, was?« Er reißt die Augen auf und fragt sich, ob Lena jetzt auch übergeschnappt ist. »Was soll ich?«
»Du hast dich nicht verhört. Ich will bestraft werden. Ich habe es mehr als verdient. Ab sofort bist du nicht mehr nur mein Mann, sondern auch mein Herr. Du verstehst, was ich meine.«
»Sag mal, Lena«, Kokoschansky kratzt sich am Kopf. Obwohl sie sich dermaßen gut kennen und keinerlei Geheimnisse voreinander haben, ist ihm diese neue, völlig unerwartete wie ungewohnte Situation extrem peinlich und überfordert ihn. »Wirfst du dir heimlich etwas ein, wovon ich nichts weiß?«
»Deine Frau, Freundin, Geliebte, Partnerin, vielleicht auch Muse war ich bisher«, sie wirft ihm den Gürtel in den Schoß, und in Sekundenschnelle steht sie splitterfasernackt vor ihm, »in Zukunft will ich auch deine Hure, Sklavin, Dienerin und Sextoy sein. Nimm mich, benutze mich, wann immer dir danach ist.« Kurz entschlossen dreht sie sich um, reckt ihm ihr wohlgeformtes Hinterteil zu, an dem er sich nie wird satt sehen können.
»Na los, schlag endlich zu!«, fordert sie ihn auf und reizt ihn mit eindeutigen Bewegungen.
Das Mysterium Frau! Wie ticken diese Geschöpfe bloß? Ein ewiges Rätsel. Kokoschansky und Lena praktizieren selten Blümchensex, was darunter allgemein verstanden wird, doch dass sie plötzlich auf Hardcore steht und ihr Faible für BDSM zur Schau stellt, ist eine völlig neue Facette an ihr.
»Verdammt noch mal! Worauf wartest du noch?«, stößt sie mit heiserer, erregter Stimme hervor.
Gut, dann sollst du es haben! Kurzerhand springt Kokoschansky auf, umfasst den Gürtel mit festem Griff und zögerlich erfolgt der erste Streich.
»Nicht kitzeln, nicht streicheln! Schlagen! Du sollst mich richtig schlagen! Ich will, dass du mich quälst! Ich will Striemen, Schmerzen spüren!«
In Kokoschanskys Innerem legt sich ein Schalter um. Mit jedem neuen Schlag findet er mehr Spaß daran, wird selbst mehr und mehr erregt. Lenas Backen sind inzwischen stark gerötet, und erste Striemen zeichnen sich ab. Es macht ihn rasend geil, wie seine Lena gleichzeitig aus purer Lust schreit und stöhnt. Jetzt zählt nur noch absolute Hemmungslosigkeit. In jeden neuen Schlag packt Kokoschansky seine grenzenlose Wut auf Sonja, auf Madeo, auf Saller, auf diese Idioten im BKA, auf die verdammte Scheiße, die er hautnah in Montenegro miterlebte.
Lenas Ausbrüche werden immer extremer, ihre Ekstase steigert sich ins Grenzenlose. Verlangt, dass er ihre Brüste brutal kneten und quetschen soll, will auf ihrem gesamten Körper den Gürtel spüren, bettelt um Ohrfeigen, und er fackelt nicht lange, langt ohne schlechtes Gewissen zu.
Wäre Charlotte Roche Voyeurin dieses außer Rand und Band geratenen Treibens, ihr nächstes einschlägiges Buch bräche alle Verkaufsrekorde.