Ein paar Monate später, September 2010
Diese endlose Warterei nervt! Das nennt sich Notfallambulanz! Da ist der Wurm drin. Zwei Anmeldeschalter, doch nur einer ist mit einer sichtlich überforderten Krankenschwester besetzt.
Unruhig wetzt Heinz Kokoschansky auf seinem Sitz hin und her. Bereits seit fünfzig Minuten ist er zum Nichtstun verurteilt. Er ist selbst schuld, er hätte sich mit Lesestoff versorgen können. Dem Fernsehjournalisten ist klar, sein Wehwehchen hat nicht oberste Priorität. Andererseits sieht er nicht ein, warum Leute, die weitaus später als er gekommen sind, den Vorzug erhalten, obwohl sie weder krank, angeschlagen noch verletzt sind. So bleibt dem Riesenlackel nicht anderes übrig, als sich weiterhin in Geduld zu üben. Am liebsten möchte er das Schild ihm gegenüber herunterreißen: Die Patienten werden je nach Dringlichkeit aufgerufen.
Schmerzen verspürt Kokoschansky nicht. Eher ein ständiges Ziehen und Pochen in der Leistengegend. Ausgerechnet dort muss sich dieses verdammte Abszess ausbreiten. Eigentlich hat er heute nichts Besonderes mehr vor, doch den halben Tag untätig im Krankenhaus zu vertrödeln, ist nicht aufbauend. Zu seinem Hausarzt wollte er nicht gehen, da sich dort egal zu welcher Ordinationszeit stets die Patienten im Wartezimmer stapeln. Zum wiederholten Male greift er zu einem der abgegriffenen, zerfledderten Uraltmagazine, die pro Seite mehr Keime und Bakterien beherbergen als jedes Versuchslabor.
Zum Glück erfreut sich Kokoschansky trotz seines fortgeschrittenen Alters bester Gesundheit. Wäre nur jetzt nicht das im Schambereich aufgetretene Furunkel! Er blickt sich gelangweilt um, er hat keinen Grund zur Klage, wenn er sich ein paar Männer seiner Altersklasse ansieht. Das Vibrieren seines Handys reißt ihn aus seinen Gedanken.
»Ja? … Leider bin ich noch zum Warten verdonnert … Ehrlich? … Mach Witze! … Du, ich muss Schluss machen … Jetzt bin ich endlich aufgerufen worden. Bis heute Abend! Bussi!«
Ein breites Grinsen macht sich im Gesicht des Zwei-Meter-Mannes breit. Eine Polizistin als Lebensgefährtin hat schon seine Vorteile. Nie im Leben hätte der Journalist gedacht, dass er sich einmal über ein lästiges Abszess freuen würde.
»Guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?«
Super! Es ist nicht das erste Mal, dass er mit diesem Problem von einer Frau behandelt wird. Trotzdem ist es ihm unangenehm, und inzwischen versteht er, wie eine Frau sich fühlt, wenn sie den Gynäkologen aufsucht. In knappen Sätzen schildert Kokoschansky die Situation, erzählt, dass er damit schon mehrmals konfrontiert war. Darin hat er längst Routine. Inzwischen sieht er in diesem Bereich wie ein Schnittmuster von Burda aus, doch seine Lena findet die Narben sexy.
»Dann mal runter mit der Hose!« Die Ärztin streift sich Handschuhe über. »Legen Sie sich auf den Behandlungstisch.«
Kokoschansky öffnet seine Jeans, schiebt sie zusammen mit der Unterhose runter und macht es sich auf der harten Liege halbwegs bequem. Die Ärztin betastet seinen Schambereich, und jedes Mal kommen ihm dämliche Ärztewitze in den Sinn, wenn eine Frau daran herumdoktert. Absoluter Schwachsinn, von irgendwelchen Gefühlen keinerlei Spur.
»Das lässt sich ambulant behandeln.«
Genau das wollte Kokoschansky hören. Er hatte nicht vor, sich stationär aufnehmen zu lassen.
»Ich werde es aufschneiden müssen, und das wird trotz Betäubungsspritze etwas schmerzhaft werden.«
»Ein bisschen halte ich schon etwas aus«, lächelt der Journalist.
»Zuerst werde ich die wunde Stelle vereisen, danach kommt noch die Spritze.«
»Hoffentlich nicht Propofol. Daran soll ja Michael Jackson draufgegangen sein.«
»Keine Sorge, ich versetze Sie ja nicht in Vollnarkose.«
Zugegeben, der Witz war nicht besonders, aber Frau Doktor scheint in den Keller lachen zu gehen. Dabei ist sie eine sehr hübsche junge Frau, und ein kleines Geplänkel schadet nicht. Aber bei ihr zieht das nicht.
»Danach verschreibe ich Ihnen ein Antibiotikum und eine spezielle Salbe. In den nächsten Tagen müssen Sie beim Duschen aufpassen.«
Ich werde alt, denkt Kokoschansky. Noch vor einem Jahr sagte ihm eine andere Ärztin, in den kommenden Tagen keinen Geschlechtsverkehr und erst danach kam das Duschen. C’est la vie. Hauptsache, er bringt es schnell hinter sich, um rasch wieder abzuhauen. Viel zu sehr beschäftigt ihn die Information, die ihm Lena vorhin zukommen ließ. Das ist der absolute Hammer! Er zuckt leicht zusammen, als der Strahl des Vereisungssprays die lädierte Stelle trifft, und nach ein paar Sekunden spürt er bereits ein taubes Gefühl. Kokoschansky glotzt auf den Plafond und denkt über die brisante Nachricht nach. Das wird und kann er sich nicht entgehen lassen, doch noch muss er sich gedulden. Der Stich der Nadel von der Betäubungsspritze in das Abszess ist um ein Vielfaches unangenehmer als der Spray, und er beißt die Zähne zusammen. Inzwischen ist auch eine Krankenschwester hinzugekommen, um zu assistieren.
»Nur ein kleiner Schnitt«, sagt die Ärztin beruhigend, »aber wie ich sehe, haben Sie schon einiges diesbezüglich hinter sich, Herr Kokoschansky.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Ich hoffe, dass ich wieder längere Zeit Ruhe habe.«
Trotz der lokalen Betäubung spürt Kokoschansky genau, wie die scharfe Klinge in das Fleisch schneidet, doch er lässt sich nichts anmerken, ballt nur die Fäuste. Ein Schwall Blut, gemischt mit Eiter, rinnt über seinen Schenkel und unter seinen Hintern.
»Ich muss jetzt ein paar Mal fest zusammendrücken«, erklärt die Ärztin, »um alles herauszubekommen. Gleich ist es überstanden.«
Mann, dieses zarte Persönchen hat einen Griff wie ein Jahrmarktcatcher! Kokoschansky treibt es das Wasser in die Augen, und er versucht, nicht daran zu denken, wie es da unten jetzt wohl aussieht.
»So, erledigt«, lächelt die Ärztin erstmals. »Sie halten wirklich einiges aus. Ich denke, ich konnte alles herauspressen. Die Schwester wird die Wunde noch desinfizieren. Dann bekommen Sie eine Einlage, bevor Sie verpflastert werden. Morgen Vormittag dann zur Kontrolle in die Ambulanz, aber das Procedere kennen Sie inzwischen.«
»Vielen Dank.«
Während ihm noch ein Rezept für seine Medikamente ausgestellt wird, zieht Kokoschansky sich wieder an und stellt fest, dass er doch etwas wackelig auf den Beinen ist. Jetzt nur nichts anmerken lassen, sonst halten sie ihn wegen der Kreislaufstabilisierung noch länger fest. Noch ist alles taub. Wenigstens ist der unangenehme, schmerzhafte Druck des Furunkels weg.
Kokoschansky schnappt sich seine Jacke, bedankt sich und verschwindet. Glück gehabt, denkt er, als er die vielen Leute sieht, die in der Zwischenzeit die Notfallambulanz aufgesucht haben. Für ein paar Augenblicke hält er sich am Handlauf an der Wand fest. Ihm ist weder schlecht, noch fühlt er sich schwach, doch ganz koscher ist ihm nicht.
Schwere Bauchkrämpfe soll der Typ haben, erzählte Lena ihm.
Wenn dem tatsächlich so ist, werden sie ihn nicht so schnell wieder entlassen. Daher verzieht sich Kokoschansky auf einen Kaffee und eine Zigarettenlänge in die Cafeteria des SMZ Ost, um nachzudenken. Das Sozialmedizinische Zentrum im 22. Bezirk ist ein riesiger Komplex, in dem man sich leicht verlaufen kann. Nach reiflicher Überlegung kommt der Journalist zu dem Schluss, für sein Objekt der Begierde mit diesem Symptom kommen nur zwei Abteilungen infrage: die Chirurgische und eventuell die Urologie.
Kokoschansky bezahlt seine Zeche, besorgt sich im Blumenladen im Foyer ein kleines Sträußchen, um sich als Besucher zu tarnen, und beginnt die Suche. Seine Vermutung mit der Chirurgischen Abteilung trifft genau ins Schwarze. Langsam machen sich erste Anzeichen von Schmerzen bemerkbar, doch er will es unbedingt wissen.
Am Ende des Flurs sieht er vor einem Krankenzimmer einen Polizisten stehen. Fieberhaft sucht Kokoschansky nach einem Vorwand, wie er den Polizisten ablenken könnte, um in das Zimmer zu huschen, doch ihm fällt nichts Plausibles ein. Außerdem wäre es zu riskant. Auf der Station herrscht Hochbetrieb, die Besuchszeit beginnt, und deshalb fällt der Journalist nicht auf. In seinem Kopf spielt er einige Szenarien durch. Er könnte sich irgendwo einen Arztkittel klauen und sich in dieser Verkleidung Zutritt verschaffen. Aber als Zwei-Meter-Mann würde er kaum etwas Passendes finden. Selbstverständlich wäre es illegal, doch investigativer Journalismus verlangt manchmal einen gewagten Schritt über Grenzen.
Während Kokoschansky sich bemüht, so gut wie möglich unauffällig zu bleiben, fallen ihm plötzlich zwei Ärzte auf, die wahrlich nicht aussehen, als hätten sie den Hippokratischen Eid geleistet. Gesichter wie Galgenvögel; massive, gedrungene, durchtrainierte Körper. Wohl verbringen sie die meiste Zeit eher in Fitnesscentern als in OPs und Krankenstationen. Ihre weißen Kittel spannen über Brustkörben und Armen.
Kokoschanskys feine Nase signalisiert ihm, hier ist etwas im Busch und oberfaul. So leicht lässt der Profi sich nicht täuschen. Zielstrebig steuern die beiden vermeintlichen Ärzte direkt auf das bewachte Krankenzimmer zu, selbst auf die um die Hälse hängenden Stethoskope haben sie nicht vergessen. Wieder einmal ist Kokoschanskys Körpergröße von unbezahlbarem Vorteil. Er braucht sich überhaupt nicht anzustrengen, um von seiner Position aus das Geschehen beobachten zu können, ohne sich verdächtig zu machen. Der bewachende Polizist macht bereitwillig Platz, und die Ärzte betreten das Zimmer. Nach ein paar Minuten kommt einer der falschen Ärzte wieder heraus und deutet dem Beamten, den bereitgestellten Rollstuhl hereinzuschieben, was dieser auch prompt erfüllt. Wieder schließt die Türe sich, und nach einer Weile erscheint der andere Doktor und winkt eine Krankenschwester herein. In Kokoschanskys Gehirn läuten sämtliche Alarmglocken. Langsam geht er in Richtung Krankenzimmer, kommt aber nicht weit, da die Türe sich öffnet und die Krankenschwester herauskommt, dicht gefolgt von einem der beiden falschen Ärzte, der sie sichtlich mit einer Waffe, die er unter dem Kittel versteckt hält, bedroht. Dahinter schiebt der zweite Unechte den Rollstuhl mit dem Pseudokranken aus dem Zimmer.
Mit Sicherheit liegt der Polizist niedergeschlagen, mit seinen eigenen Handschellen ans Bett gefesselt im Zimmer, und die Gangster sind nun im Besitz seiner Dienstpistole. Zweifelsfrei läuft hier am helllichten Tag unter den Augen zahlreicher Patienten und Besucher eine Gefangenenbefreiung ab. Die Krankenschwester bemüht sich, ruhig zu bleiben, dennoch ist ihrem Gesicht anzusehen, dass sie Todesängste aussteht. Nur Kokoschansky und einer Kollegin bleibt es nicht verborgen.
»Was ist los, Martina?«
Doch die Geisel winkt nur mit einem gezwungenen Lächeln ab, wie auch die beiden falschen Mediziner mit Gesten andeuten, alles wäre in Ordnung, um nur umso zielstrebiger mit ihrem falschen Patienten in Richtung der Lifte zuzusteuern.
Der Simulant in seinem Rollstuhl hält den Kopf gesenkt und hat sich mit einem Kopfverband getarnt. Über seinen Beinen liegt eine Decke, und Kokoschansky ist überzeugt, dass darunter eine Waffe verborgen ist. Als der Rollstuhl sich für einen Moment mit Kokoschansky auf gleicher Höhe befindet, hebt der kerngesunde Mann für einen Augenblick seinen Kopf und ihre Blicke kreuzen sich. Beide lassen sich nichts anmerken.
Gleichzeitig ist Kokoschansky einem fürchterlichen Gewissenskonflikt ausgesetzt. Schließlich ist er unmittelbarer Tatzeuge einer offensichtlichen Straftat, unternimmt nichts dagegen, lässt als stiller Beobachter den Dingen ihren Lauf. Das hat nichts mit Zivilcourage und noch weniger mit Feigheit zu tun. Wenn er den Helden spielt, gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Blutbad, und zuerst stirbt wahrscheinlich die Krankenschwes-ter.
Hier sind Profis aus der Unterwelt am Werk, die rücksichtslos über Leichen gehen und sich im Ernstfall gnadenlos den Weg freischießen. Ja, beruhigt sich Kokoschansky selbst, ja, er kann es verantworten, indem er tatenlos zusieht, wie Robert Saller freikommt.
Als Kokoschansky von dem schweren Schlag gegen die Wiener Unterwelt, die schon lange nicht mehr in heimischen Händen ist, aus der Zeitung erfuhr, wollte er aus Loyalität Saller in der Zelle besuchen. Immerhin hatte der sich gegenüber dem Journalisten stets fair verhalten, niemals den leisesten Versuch unternommen, ihn zu kaufen oder zu bestechen. Das rechnet Kokoschansky ihm hoch an. Sallers Plus ist seine Intelligenz, die ihn deutlich von anderen Unterweltgrößen, besonders den österreichischen, unterscheidet.
Deshalb verstört seine Flucht, deutet sie doch eher auf das Gegenteil hin, aber Saller wird seine Gründe haben. Die Flucht würde ihm noch ein paar zusätzliche Jahre mehr hinter Gittern bringen, falls er erwischt wird. Wenn Saller solch ein Risiko eingeht, muss einiges im Hintergrund laufen, wovon derzeit noch niemand Ahnung hat.
Die misstrauische Krankenschwester kennt hingegen keine Bedenken. Kurzerhand alarmiert sie den hausinternen Sicherheitsdienst. Doch die herbeigeeilte Security kommt zu spät und sieht das Quartett nur mehr in einem der Krankentransportlifte verschwinden. Hektisch spricht einer der Sicherheitsleute in sein Funkgerät. Kokoschansky beschließt zu verschwinden. In wenigen Minuten wird der Teufel los sein, der Gebäudekomplex von Polizei wimmeln, und für ihn ist es besser, sich in diesem Zusammenhang nicht blicken zu lassen. Er drückt einer älteren, verdutzten Patientin seinen Blumenstrauß in die Hand, wünscht baldige Besserung und macht sich aus dem Staub.
*
Langsam schiebt die Lifttüre sich auseinander, einer von Sallers Komplizen lugt vorsichtig heraus und hält seinen Revolver offen im Anschlag. Robert Saller springt vom Rollstuhl auf, zieht sich eine Kanüle aus einer Vene in seinem linken Unterarm, wirft sie achtlos weg und reißt sich den falschen Verband vom Kopf.
In diesem Raum ist es sehr kühl, und es ist nicht damit zu rechnen, dass hier Gefahren lauern. Eine Reihe verstorbener Patienten, in schwarze Leichensäcke gepackt, liegen auf Bahren in dem Kühlkeller. Vor Angst schlotternd, bangt die Krankenschwester ihrem weiteren Schicksal entgegen. Saller gibt einem seiner Fluchthelfer einen knappen Befehl, der sofort ausgeführt wird. Ein knallharter Faustschlag mitten ins Gesicht setzt die junge Frau außer Gefecht.
Robert Sallers Flucht wurde generalstabsmäßig vorbereitet. Inzwischen haben seine Komplizen sich verwandelt. Unter den weißen Ärztekitteln kommen seriöse dunkle Anzüge, blütenweiße Hemden und schwarze Krawatten zum Vorschein. Jeder würde sie für etwas grobschlächtige Bestatter halten. Nur ihre Latexhandschuhe behalten sie an. Schließlich wollen sie keine unbeabsichtigten Spuren hinterlassen. Einer betätigt das Rolltor, und ein Leichenwagen fährt rückwärts mit geöffneter Heckklappe herein, der von einem dritten Mann, ebenfalls in seriöses Schwarz gekleidet, gesteuert wird. Saller legt sich in den Sarg. Die Ärztekittel verschwinden im Auto. Die Krankenschwester bleibt mit Kiefer- und Schädelbasisbruch liegen. Im angemessenen Tempo fährt das Quartett davon. Wer käme schon auf die Idee, einen Leichenwagen, der ein Krankenhaus verlässt, zu kontrollieren?
*
Kokoschansky verdrückt sich hinter einem Pfeiler im Foyer des SMZ Ost, während die ersten Polizisten und Kriminalbeamten den Komplex betreten. Der Nachteil eines Riesen: Unauffällig abzutauchen, ist nicht immer möglich. Seine kleine Operationswunde macht sich immer heftiger bemerkbar. Ziemlich paradox, ein riesiges Spital zu bauen, doch bei der Planung auf die hauseigene Apotheke zu vergessen. So kann der Journalist nur am Nachhauseweg sein Rezept einlösen und sich auch gleich ein paar Schmerztabletten kaufen.
Jetzt möchte ich nicht in der Haut einiger Verantwortlicher stecken, die Sallers Flucht so leicht ermöglichten, denkt Kokoschansky. Das wird für einen heftigen Medienwirbel sorgen, und die Buhmänner werden Polizei und Innenministerium sein.
»He, Koko, altes Haus! Schon ewig nicht mehr gesehen!«
Koko ist Kokoschanskys Spitzname, und der Mann, der ihn so freudig begrüßt, sitzt hinter dem Lenkrad eines wartenden Taxis auf dem Standplatz vor dem SMZ Ost.
Moses Querantino stammt aus Nigeria, lebt seit vielen Jahren mit seiner Familie, inzwischen längst eingebürgert, in Wien. In seiner Heimat war er ein erfolgreicher Journalist, der in seinen Artikeln vehement gegen die Ölmultis, die sein Land zerstören und ausbeuten, anschrieb. Dafür setzte ihn das Regime unter Druck, er war im Gefängnis, musste mit seiner Familie Repressalien erdulden. Die Flucht gelang, und Österreich gewährte Asyl.
Tief in seinem Inneren fühlt er sich immer noch seinem ehemaligen Beruf verbunden, findet jedoch keine Möglichkeit, in diesem Land wieder Fuß zu fassen. Mit Kokoschansky verbindet ihn eine tiefe Freundschaft, weil er seinem weißen Kumpel in einer gefährlichen Geschichte helfen und Schlimmeres verhüten konnte. Da hatte Querantino endgültig wieder Blut geleckt.
»Mann, gibt es einen plausiblen Grund, warum wir uns immer vor einem Krankenhaus treffen?«, scherzt der Schwarzafrikaner mit den schulterlangen Rastazöpfen, in die bunte Holzperlen eingeflochten sind, in Anspielung auf gemeinsame Erinnerungen.
»Hallo, Freitag«, begrüßt Kokoschansky die Frohnatur und steigt ächzend in das Auto. Querantino hat sich seinen Spitznamen, frei nach Robinson Crusoe von Daniel Defoe, selbst gewählt, da er die Ansicht vertritt, Weißgesichter können oder wollen sich seinen Namen ja doch nicht merken. »Schon ein Weilchen her, dass wir uns gesehen haben. Und wie läuft es?«
»Na ja«, seufzt Freitag, »die Spritpreise fressen mich auf, und die Leute drehen jeden Cent zweimal um, bevor sie sich ins Taxi setzen. Und bei dir?«
»Danke, bin zufrieden.«
»Fein! Hast du jemanden besucht? Oder selbst einen Doc gebraucht? Oder …« Freitags Gesicht nimmt einen pfiffigen Ausdruck an, und er lässt seine pechschwarzen Augen rollen. »Bist du wegen dem Auflauf hier?« Dabei zeigt er auf die immer zahlreicher eintreffenden Polizeimannschaften. Das gesamte Areal soll durchkämmt und durchsucht werden. »Bist du wieder einmal der Konkurrenz um die berühmte Nasenlänge voraus?«
Wie üblich plärrt aus den Lautsprechern in Freitags Taxi Reggaemusik. Kokoschansky dreht ein wenig leiser. Dann erzählt er von seinem kleinen gesundheitlichen Problem.
»Hm, blöde Stelle«, grinst Freitag, »deine Lena wird damit keine Freude haben.«
»Alles noch dran und funktionstüchtig.«
»Dann bin ich beruhigt. Ehrlich, weißt du, weshalb hier so viele Bullen herumschwirren?«
»Was sagt dir der Name Saller?«
»Tja«, Freitag spielt mit seinen Rastalocken, »Saller … Saller … Meinst du den ehemaligen Unterweltboss, der im Frühjahr mit seinen Leuten verhaftet worden ist?«
»Genau den …«
»… und der in den Medien als der Pate von Wien, von Österreich bezeichnet wurde?«
Kokoschansky nickt.
»Der ist doch dein Spezi.«
»So würde ich das nicht bezeichnen. Wir verstanden uns einfach gut. Und ich bin nicht sein Richter.«
»Dann hat also das Bullenaufgebot mit ihm zu tun«, kombiniert Freitag.
Kokoschansky schildert seine Beobachtungen, ohne zu erwähnen, von wem der entscheidende Tipp kam. Nicht aus Misstrauen, sondern rein für Lenas Schutz. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Riskant genug, dass sie ihm das steckte, was sie eigentlich gar nicht darf.
»Das ist ja ein Ding«, pfeift der schwarze Taxifahrer anerkennend durch die blendend weißen, makellosen Zähne, »der Typ simuliert, um aus dem Häfen8 zu türmen. Respekt!«
»Wenn ihm die Flucht gelingt, er sich ins Ausland absetzen kann und von außen wieder die Fäden zu ziehen beginnt«, theoretisiert Kokoschansky, »dann werden sich einige in der Polizei, Politik und Wirtschaft sehr warm anziehen müssen. Saller macht keine halben Sachen, dafür ist er zu clever. Das steckt ein ausgeklügelter Plan dahinter. Das wird sicherlich noch sehr interessant werden.«
»Und Koko ist wieder einmal zur rechten Zeit am richtigen Ort«, meint Freitag anerkennend, »deine Informanten möchte ich auch haben.«
»Ist dir irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nicht, dass ich wüsste. Weißt du was, ich fahre dich nach Hause. Hier gibt es für mich doch keinen Blumentopf mehr zu gewinnen. So können wir noch ein bisschen quatschen, und ich werde dir mein neuestes Projekt zeigen. Du bist eingeladen, ist schließlich ein Krankentransport.«
»Ist ja gut. Weiß ich selbst, dass ich nicht mehr taufrisch bin.«
*
Im kroatischen Rementica-Gefängnis in Zagreb zieht ein hagerer Mann um die fünfzig sich in seiner Zelle seine Zivilklamotten an. Seine wenigen Habseligkeiten hat er bereits in ein kleines Köfferchen gepackt. Jetzt sitzt er auf seiner Pritsche und wartet. Acht Jahre fasste er aus, doch ihm war vom ersten Tag seiner Inhaftierung an klar, hier drin wird er nur so viel Zeit absitzen wie unbedingt nötig. Heute ist es endlich so weit, die Abrechnung kann beginnen. Egal, wie lange es dauern wird, bestimmte Personen, vor allem in Österreich, werden endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Auf seine Leute kann er sich verlassen. Alles ist in die Wege geleitet und vorbereitet. Der Gefängnisdirektor und die Wachen in seinem Block sind mit stattlichen Summen bestochen worden. In wenigen Minuten ist er wieder ein freier Mann. Mit neuen Papieren, neuer Identität kann er von seinem optimal geschützten Versteck aus die Strippen ziehen.
*
Nachdem Freitag noch bei einer Apotheke gestoppt und Kokoschansky sich seine Medikamente besorgt hatte, setzte ihn sein schwarzer Freund vor der Haustür ab und nahm dem Journalisten das Versprechen ab, dass sie sich jetzt wohl wieder öfters sehen und das nicht unbedingt vor einem Krankenhaus. Bevor Kokoschansky ausstieg, drückte ihm Freitag noch einen Zettel mit einer Webadresse in die Hand und sagte mit vielsagendem Gesichtsausdruck, der Journalist möge sich bei Gelegenheit doch diese Seite ansehen.
In der Post ist nichts Wesentliches außer dem Üblichen: Werbung und ein paar Rechnungen, die noch warten können. Kokoschansky macht es sich auf der Couch bequem, nascht ein paar von den in einer Schale herumliegenden Gummibärchen, fährt seinen Laptop hoch und tippt FNews.com ein. Eine sehr gut gestaltete, übersichtliche, professionelle Webseite öffnet sich. Das also ist Freitags Baby, über das er nichts verraten wollte. Das soll eine Art von neuem Blog werden, in dem sich Freitag wieder journalistisch betätigt. Keine schlechte Idee. Wenn er in der heimischen Medienszene trotz seiner Qualifikation unerwünscht ist, bietet das Internet die Chance und gewährleistet von Beginn an Unabhängigkeit.
Blogger gibt es inzwischen wie Sand am Meer, und nur die Besten setzen sich weltweit durch. Sicherlich dauert es seine Zeit, bis eine gewisse Akzeptanz bei den Usern erreicht ist und die Seite regelmäßig besucht wird.
Während er darüber nachdenkt, kündigt ein Piepton das Eintreffen eines neuen Mails an, das vom neugierigen Freitag stammt, der bereits ungeduldig wissen will, ob Kokoschansky sich sein Projekt angesehen hat, und ihm gleichzeitig das Angebot macht, wann immer er will, auf dieser Seite zu publizieren. Keine schlechte Idee! Kokoschansky verfügt zwar über seine eigene Seite, schließlich gilt man in der heutigen Zeit ohne Webauftritt als virtuell obdachlos, aber oft fehlt ihm die Zeit, oder er ist einfach zu faul, ständig im Netz präsent zu sein.
Wer weiß, wie die Geschichte rund um Saller sich noch entwickelt? Ein unabhängiges Medium kann von unbezahlbarem Vorteil sein. Er beschließt, vorerst einmal die Finger von dieser heißen Sache zu lassen, allerdings beobachtend im Hintergrund zu bleiben und im Bedarfsfall zusammen mit Freitag zuzuschlagen. Dann schaltet er den Fernseher ein. Natürlich ist Sallers Flucht der Aufmacher. In der 17-Uhr-Nachrichtensendung Zeit im Bild läuft ein Interview mit einem Polizeisprecher, der sich zu den kritischen Fragen wie ein Aal windet und nur heiße Luft verströmt. Gegen 18 Uhr ist eine Pressekonferenz angesetzt. Kokoschansky überlegt, ob er sich dort blicken lassen soll, verwirft gleich wieder diesen Einfall, macht es sich lieber gemütlich und ist nach wenigen Minuten eingenickt.
*
Der Anruf via Skype erreicht den Beau mit der stets perfekt geföhnten Frisur, die dem aktuellen Trend um einige Jahre nachhinkt, in einem Luxusressort auf der nicht minder mondänen Insel Mustique in der Karibik und zerstört von einer Sekunde auf die andere drei Wochen pure Erholung.
Seine anfänglich durchaus beachtete politische Karriere begann der Schwarm aller Schwiegermütter mit knapp dreißig als jüngster Wirtschaftsminister Österreichs mit der Jahrtausendwende. Die Bevölkerung hatte endgültig genug von den Sozialdemokraten und deren Machenschaften. Bis sie merkte, dass die neue Regierung aus Konservativen und Freiheitlichen, hinter denen sich größtenteils Rechtspopulisten verbargen, um keinen Deut besser war. Durch vorgezogene Nationalratswahlen war diese Regierung nach sechs Jahren bereits wieder Geschichte.
Zurück blieb ein Scherbenhaufen auf nationaler und internationaler Ebene. Im Laufe der Jahre stellte sich heraus, wie schamlos eine Clique rund um diesen ehemaligen Wirtschaftsminister sich durch fragwürdige Transaktionen und windige Geschäfte, an denen sich heute die Staatsanwälte und Ermittlungsbehörden die Zähne ausbeißen, untereinander Aufträge zuschanzte und sich gegenseitig Millionen an Euro in die eigenen Taschen schob.
Lange fühlte sich Dr. Kurt-Friedrich Midas sicher und sah seine Schäfchen im Trocknen. Doch in den letzten Monaten wird dieses beschauliche Leben empfindlich durch die Hartnäckigkeit einiger beherzter Staatsanwälte gestört. Eine Einvernahme hier, eine Aussage dort. Ansonsten keineswegs medienscheu muss Midas nun lästige Journalistenfragen beantworten und in TV-Diskussionsrunden Rede und Antwort stehen.
Endlich ist wieder etwas Ruhe eingekehrt und nun dieser Skype-Anruf, der Midas wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt. Dem ungebetenen Anrufer auf der anderen Seite des Globus zeigt sich auf dem Bildschirm seines Laptops ein braun gebrannter Midas mit nacktem, durchtrainiertem Oberkörper, dessen anfängliche beste Laune sofort in düstere Friedhofsstimmung umschlägt, als er den Grund der Störung erfährt. Sein Gesprächspartner klingt aufgeregt, und sein Gesicht auf dem Computerschirm spiegelt blankes Entsetzen wider.
»Auf deiner schnuckeligen Insel wirst du wohl nicht die österreichischen Nachrichten empfangen haben.«
»Sicher nicht! Da weiß ich mir mit meiner Zeit weitaus Besseres anzufangen.«
»Auch nicht im Internet gestöbert?«
»Nein, habe ich nicht! Du nervst! Sag endlich, warum du mich störst, und dann klink dich wieder aus. Graciella und ich sind heute zu einem tollen Barbecue eingeladen. Angeblich sollen auch Mick Jagger, Eric Clapton, Naomi Campbell und noch einige andere Celebrities antanzen.«
»Ich fürchte, das könnt ihr euch abschminken. Du setzt dich gleich in die nächste Maschine und kommst auf dem schnellsten Weg zurück nach Wien!«
»Bist du jetzt total verrückt geworden?«
»Er ist draußen! Abgehauen! Abgetaucht! Verschwunden!«
»Wer, verdammt noch mal!«
»Saller! Saller hat die Mücke gemacht.«
»Mach Witze …« Der stets auf Haltung bedachte Midas ist in sich zusammengesunken und wirkt auf dem Bildschirm wie ein Häufchen Elend.
»Glaub mir, darüber mache ich keine Späße.«
»Der war doch eingebuchtet!«
»Das war er noch bis gestern. Heute ist er es nicht mehr.«
»Und was machen wir jetzt?«
»Du begibst dich auf dem schnellsten Weg heimwärts. Währenddessen trommle ich unsere Leute für eine geheime Krisensitzung zusammen.«
»Wo?«
»Das erfährst du rechtzeitig per SMS. Und benutze dein sicheres Wertkartenhandy, jenes für Krisenfälle.«
»Klar, mache ich.«
»Wir warten, bis du zurück bist. Danach gehe ich für unbestimmte Zeit auf Tauchstation.«
»Und ich«, brüllt Midas in Richtung Webcam, »kann wohl endgültig abdanken! Die Hexenjagd der letzten Monate reicht mir! Graciella hat deswegen wieder mit dem Saufen begonnen. Mein Soll an Problemen ist erreicht. Mir ist das alles viel zu heiß geworden, ich steige aus!«
»Tja, mein Junge, dafür ist es jetzt zu spät. Das hättest du dir früher überlegen sollen. Du sitzt mit uns in einem Boot. Entweder wir erreichen die Küste oder gehen gemeinsam unter, kapiert?«
Die Verbindung bricht ab. Midas’ Blick schweift hinunter zum Strand, wo seine Frau Graciella oben ohne unter einem riesigen Sonnenschirm liegt, neben sich eine halb volle Flasche Roederer Crystal. Mein Gott, denkt Midas, ihre Titten werden von Tag zu Tag vertrockneter. Vielleicht ist das wirklich der bessere Weg, die Probleme einfach zu ertränken? Und der, der diese Scheiße ausgeheckt, eingefädelt und eingebrockt hat, ist längst zu Staub zerfallen. Den kann kein irdisches Gericht mehr zur Verantwortung ziehen.
*
Mehrere tausend Kilometer von diesem paradiesischen Ort entfernt, nimmt ein übermüdeter, aber sichtlich zufriedener Beamter im BKA Wien seine Kopfhörer ab, reibt sich zuerst die Augen, dann die Ohren und murmelt vor sich hin: »Meine Herren, bald seid ihr geliefert. Noch seid ihr Arschlöcher uns einige Schritte voraus, aber die Entfernung verringert sich zusehends.«
*
Bezirksinspektorin Lena Fautner muss beim Kommandanten in ihrer Dienststelle antreten. Sie kann sich keinen Reim darauf machen, was ihr unmittelbarer Chef von ihr will. Für heute ist ihr Dienst beendet. Eigentlich will sie zu ihrem Spind im Umkleideraum, rasch ihre private Kleidung anziehen und nur noch nach Hause, obwohl es, bis auf Sallers spektakuläre Flucht, kein besonders aufregender oder gar gefährlicher Tagdienst war.
Entschlossen, wie es ihrer Wesensart entspricht, klopft Lena Fautner an.
»Komm rein, Kollegin, setz dich«, begrüßt Clemens Joller sie ernst. »Wir haben ein Problem, schätze ich.«
»Okay«, fällt es Lena augenblicklich ein, sie hebt beschwichtigend die Arme und zeigt dabei die Handflächen, »wenn es sein muss, dann mache ich den Akt noch fertig.«
»Vergiss es. Bei unserem Papierkram macht der auch nicht mehr das Kraut fett. Das ist der Anlass.«
Er schiebt ihr ein Phantombild über den Tisch zu, und die Bezirksinspektorin muss erst einmal kräftig schlucken. Zweifelsfrei zeigt es das Gesicht ihres Kokos.
Seit einigen Jahren lebt Lena mit Kokoschansky zusammen. Sie hatten sich in schweren Zeiten kennen gelernt, waren jeder für sich in einer Lebenskrise, gaben sich, obwohl es ursprünglich, besonders von seiner Seite, sehr konträr war, gegenseitig Halt und zogen sich aneinandergeklammert aus einem imaginären Sumpf. Das verbindet, schweißt zusammen und hält auch ohne Trauschein. Von Lenas Seite war es von Beginn an Zuneigung, aus der rasch Liebe wurde, und die Suche nach der sprichwörtlichen starken Schulter, jedoch niemals die Sehnsucht nach einem Vaterersatz.
Kokoschansky brauchte länger, er war nach zwei gescheiterten Ehen und einem gemeinsamen Sohn mit der zweiten Frau, den er abgöttisch liebt, ein gebranntes Kind. Erst im dritten Anlauf schaffte der Mittfünfziger es, endlich seinen Hafen zu finden. Er hat sich geschworen, seit Lena an seiner Seite ist, künftig kürzerzutreten, nicht mehr Hansdampf in allen Gassen sein zu wollen, sich nicht mehr ungewollt Gefahren und nicht einzuschätzenden Risiken auszusetzen, die auch auf seine Angehörigen übergreifen, doch es blieb nur bei dem frommen Schwur. Einmal Journalist, immer Journalist. Lena ist die erste Frau in seinem Leben, die seinen Job versteht und nachvollziehen kann, wenn er sich in eine Story verbeißt, stur und gegen alle Widerstände seinen Weg zu gehen bereit ist, selbst wenn er mehr als einmal über Prügel, die ihm zwischen die Beine geworfen werden, stolpert, wieder aufsteht und nicht im Traum daran denkt, sich in die Knie zwingen zu lassen oder gar aufzugeben. Lenas Beruf ist seinem in vielen Belangen sehr ähnlich.
Sie unterstützt ihn, wo immer es ihr möglich ist, baut ihn auf, wenn er, selten aber doch, an sich selbst zu zweifeln beginnt, fordert ihn als junge Frau mit ihren Bedürfnissen, stets aufs Neue seinen Mann zu stehen. Im Laufe der Jahre lernten Lena und Kokoschansky, in ihrem Umfeld wegen des großen Altersunterschiedes über den Dingen zu stehen, wobei die Initiative wieder von ihr ausging und das oft dumme Getuschel der Leute sie nur noch mehr in ihrer Entscheidung bestärkt, mit ihm zusammenzubleiben. Natürlich ist ihr bewusst, wenn der biologische Rhythmus intakt bleibt, dass er zuerst die Lebensbühne verlassen wird. Doch für sich selbst hat sie den Entschluss gefasst, jeden Tag mit ihm so gut als möglich voll auszukosten. Auch Kokoschansky kennt die Spielregeln, weiß, dass sein atypischer Lebenswandel nicht unbedingt ein Garant für eine hohe Lebenserwartung ist.
Heute amüsieren sie sich königlich, genießen die Verblüffung, oftmals die Bewunderung und den unverhohlenen Neid, wenn sich herausstellt, doch nicht Tochter und Vater zu sein. Natürlich würde Kokoschansky sich eher die Zunge abbeißen, als vor Lena zuzugeben, nicht doch manchmal still unter den dummen Bemerkungen zu leiden, aber er muss sich langsam damit abfinden, dass auch an ihm die Zeit nicht spurlos vorübergeht.
Viele von Lenas männlichen Kollegen gönnen Kokoschansky diese wunderschöne Frau mit dem makellosen Körper nicht, möchten lieber selbst mit ihr in die Kiste steigen, und es vergeht kaum ein Tag ohne anzügliche Bemerkungen. Doch sie hat gelernt, sich durchzusetzen. Auch unter ihren Kolleginnen ist eine gewisse Stutenbissigkeit nicht zu verleugnen. Einigen Vorgesetzten und höheren Rängen ist ihre Beziehung zu dem Journalisten insofern ein Dorn im Auge, weil sie Lena öfters grundlos und ohne Beweise hinterrücks verdächtigen, Amts- und Dienstgeheimnisse an Kokoschansky weiterzugeben, so dass sie sich wiederholt rechtfertigen muss.
Zum Teil entspricht es auch der Wahrheit, allerdings sind ihre Möglichkeiten als Bezirksinspektorin eingeschränkt. Da verfügt ihr Lebensgefährte oft über weitaus bessere Möglichkeiten. Doch sind einmal gewisse Vorstellungen in Beamtengehirnen festgefahren, bleiben Logik und Vernunft auf der Strecke.
Kokoschansky wiederum zieht Neid und Missgunst an, da einige Journalisten es einfach nicht kapieren wollen, dass er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung sowie gewisser Verbindungen im Vorteil ist, fair arbeitet und dafür respektiert und geachtet wird. Nicht erlernbar ist ein angeborener, exzellenter Riecher für heiße Storys, unabhängig von der Bereitschaft, nicht unbedingt immer den geraden Weg gehen zu wollen oder zu können.
Lena betrachtet ausführlich das Phantombild und erkennt augenblicklich den Zusammenhang, weshalb sie vom Chef zum Rapport bestellt wurde.
»Und?«, fragt sie angriffslustig, »Was hat das zu bedeuten?«
»Das frage ich dich, Lena«, spielt Joller den Ball zurück, »vor uns liegt das Konterfei Kokoschanskys. Darüber brauchen wir wohl nicht zu diskutieren. Findest du es nicht merkwürdig, dass genau zu dem Zeitpunkt, als Saller aus dem SMZ Ost türmt, auch dein Lebensgefährte sich in diesem Krankenhaus aufhält? Sallers Flucht war nur über unseren Funk verbreitet worden, lange bevor die Presse das mitbekam.«
»Aha, daher weht also der Wind«, gibt Lena sich angriffslustig, und ihre Stimme vibriert vor Zorn, »mit anderen Worten unterstellst du mir, ich hätte Kokoschansky etwas gesteckt.«
Clemens Joller ist es sichtlich unangenehm, über diese leidige Angelegenheit zu sprechen. Schließlich zählt Lena mit zahlreichen Belobigungen zu seinen besten Mitarbeiterinnen. »Lena, du kannst es mir ruhig glauben, es geht mir ebenso auf die Nerven wie dir. Doch das BKA hat bereits angeklopft und …«
»Ja, ja, ich weiß«, unterbricht sie ihn mürrisch, »du tust nur deine Pflicht. Alles klar. Alles muss seinen korrekten Dienstweg gehen und darf zumindest bei dir nie einen Millimeter davon abweichen. Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals, seit ich hier meinen Dienst versehe, jemals für einen von uns die Mauer gemacht hättest, wenn der Hut brannte.«
Eigentlich wollte sie ihm das gar nicht an den Kopf werfen, doch sie kann aus ihrem Herzen keine Mördergrube machen, und jetzt ist endlich die Gelegenheit gekommen, ihre lang aufgestaute Wut rauszulassen. Gleichzeitig ist ihr auch bewusst, sich mit ihrer Aussage Joller endgültig zum Feind gemacht zu haben. Er will Karriere machen, das ist ein offenes Geheimnis. Weg von dieser Polizeiinspektion, hinein in die Bundespolizeidirektion und Sprosse für Sprosse die Leiter so weit wie möglich hochklettern.
»Wenn du das so siehst, Lena«, bemüht Joller sich um einen neutralen Tonfall, »das deine Meinung über mich ist, kann ich es nicht ändern. Trotzdem wirst du erklären müssen, und nicht nur mir, sondern vor allem dem BKA, weshalb dein Lebensgefährte ausgerechnet zur gleichen Zeit wie Saller in der Chirurgischen Abteilung war, in der gleichen Station, auf dem gleichen Flur.«
»Kennst du das SMZ Ost?«
»Klar.«
»Dann ist dir bekannt, wie groß dieser Komplex ist und dass sich darin täglich tausende Leute tummeln.«
»Aber nicht in diesem heiklen Zusammenhang.«
»Sag mal, Clemens, willst du mir mit Gewalt etwas anhängen? Bringt dir das etwas für deine weitere Karriere? Ist dir und dem BKA vielleicht auch in den Sinn gekommen, dass Kokoschansky sich heute dort behandeln ließ?«
»Ist er krank?« Eine gewisse Süffisanz Jollers ist unüberhörbar.
»Nicht in dem Sinne, sondern nur ein Riesending von Furunkel in der Gegend der Eier, wenn du es genau wissen willst.«
»Das überzeugt mich nicht«, bleibt Joller weiter misstrauisch. »Die Ambulanzen sind im Erdgeschoss. Dort ist weit und breit keine Chirurgische Abteilung.«
»Weiß ich, ob er nicht stationär aufgenommen wurde? Vielleicht war dieses verdammte Abszess bereits zu groß, um es ambulant zu behandeln. Er hat mich noch nicht angerufen und ich ihn auch nicht.« Entspricht zwar nicht ganz der Wahrheit, und sollte es hart auf hart gehen, ihr Handy überprüft werden, dann gab es zwar einen Anruf von ihr an Kokoschansky, und alles, was danach passierte, lässt sich anhand der medizinischen Unterlagen überprüfen. »Woher stammt eigentlich dieses Scheißphantombild?«
»Das wurde aufgrund einer Zeugenaussage angefertigt.«
»Toll! Und deshalb wird er gleich zu einem Fluchthelfer Sallers abgestempelt?«
»Dein Kokoschansky ist kein x-beliebiger Journalist. Der Mann hat einen Namen, und sein Naheverhältnis zu Saller ist bekannt.«
»Na und? Reicht das, um ihn sofort in den Kreis der Verdächtigen aufzunehmen? Lass mich mit dem Scheiß in Ruhe, fragt ihn doch selbst! Warum hakt ihr denn nicht bei unserer Justizministerin nach? Immerhin ist sie mit einem Kriminalbeamten verheiratet.«
»Solltest du Kokoschansky einen Zund9 gegeben haben, Lena, werden dir Suspendierung, Disziplinarverfahren, vielleicht auch eine Anklage wegen Amtsmissbrauch nicht erspart bleiben. Ich betone ausdrücklich, wenn es so der Fall sein sollte. Und ich wäre von dir zutiefst menschlich enttäuscht. Robert Saller ist kein unbedeutender, dahergelaufener Hühnerdieb …«
*
Das Abreißen eines Coladosenverschlusses weckt Kokoschansky. Verschlafen dreht er sich auf der Couch um und blickt in Lenas Gesicht, in dem sich eine Mischung aus Wut und Traurigkeit widerspiegelt. Sie gibt ihm nur einen flüchtigen Kuss auf die Wange, um anschließend die Cola beinahe in einem Zug auszutrinken.
»Servus, Schatz«, Kokoschansky rappelt sich hoch, »seit wann bist du denn hier?«
»Während du hier pennst«, sie geht erst gar nicht näher auf seine Frage ein, »ist draußen der Teufel los, und es gärt gewaltig im Untergrund. Man will uns ans Leder.«
»Wer will was von uns? Was redest du da?«
Wortlos reicht Lena ihm die Abendausgabe der Kronen-Zeitung, und ihm fallen beinahe die Augen aus dem Kopf.
UNTERWELTBOSS ROBERT SALLER AUS KRANKENHAUS ENTFLOHEN!
IST DIESER UNBEKANNTE MANN SEIN FLUCHTHELFER?
Unter der Schlagzeile dieses vermaledeite Phantombild, daneben ein Polizeifoto Sallers. Selbstverständlich erkennt Kokoschansky sich. Kurz geschorenes Haar, markante Geheimratsecken; die Gesichtszüge beinahe perfekt getroffen und die randlose Brille. Darunter der Text, der mehr als eindeutig ist: »Bei dem Unbekannten könnte es sich um den bekannten Journalisten Heinz K. handeln, der ein Naheverhältnis zu dem ehemaligen Paten von Wien pflegt …«
»Scheißkerle!«, flucht Kokoschansky und pfeffert die Zeitung in eine Ecke. »Da rotzen sich jetzt ein paar liebe Kollegen gründlich aus. Von mir aus. Mich können diese Idioten kreuzweise. Und im Fernsehen werden sie mich wohl auch bereits rauf- und runterspielen.«
»Davon kannst du ausgehen«, gibt Lena ihm recht, »und das BKA wird uns wohl auch früher oder später seine Aufwartung machen.«
»Und? Mit wem ich verkehre, ist immer noch meine Sache. Auch in diesem Land. Macht man dir Schwierigkeiten?«
»Joller kann sich wieder einmal auf meine Kosten profilieren«, sagt Lena und nimmt sich eine von Kokoschanskys Zigaretten.
»Das hätte ich mir denken können. Nach oben buckeln, nach unten treten.«
»Er hat mich in sein Büro zitiert und mir ziemlich offen unterstellt, dass ich dich über Sallers Aufenthalt im Spital informiert habe, was letztendlich auch stimmt.«
»Und du aber nicht zugegeben hast.«
»Ich bin doch nicht blöd! Im Regelfall wäre diese Informationsweitergabe nicht einmal einen Furz wert, um sich darüber so offensichtlich aufzuregen. Passiert doch täglich, dass Bullen Journalisten etwas stecken. Und einige lassen sich diese Insiderinformationen auch dementsprechend honorieren. Allerdings machen sie bei mir aus einer Mücke einen Elefanten, weil sie damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe treffen können. Wenn die Geschichte zwischen Saller und dir gehörig aufgebauscht wird, können sie dich für eine ganze Weile ziemlich mundtot machen und auf das Abstellgleis schieben. Mich können sie ebenso unterbuttern, weil ich längst einigen zu einem Stachel im Fleisch geworden bin. Ich halte mich aus allem raus, versuche nur, meinen Dienst bestmöglich zu verrichten. Ich bin in dem Sinne mit niemandem verhabert10, nehme nicht an privaten Treffen teil, gehe mit niemandem einen heben. Das passt vielen nicht. Das widerspricht dem Korpsgeist.«
»Ich weiß, Schatz«, pflichtet Kokoschansky ihr bei, »trotzdem sollten wir erst einmal abwarten und nicht sofort schwarzsehen.«
»Das sagst ausgerechnet du«, tadelt sie ihn, »du nimmst doch meist immer das Schlimmste an.« Sie trinkt den letzten Rest Cola aus, quetscht die Dose zusammen und stellt sich vor, ihrem Kommandanten den Hals umzudrehen. »Entschuldige, ich habe dich noch gar nicht gefragt, wie es dir im Krankenhaus ergangen ist.«
»Das ist schon in Ordnung.« Kokoschansky nimmt sie an der Hand. »Aufgeschnitten, die Soße raus, Salbe und Pflaster drauf. Alles wieder okay, und er hängt noch dran.«
»Dann bin ich beruhigt«, lächelt Lena zum ersten Mal, seitdem sie zu Hause ist, um im gleichen Augenblick wieder nachdenklich zu werden. »Hast du eine Ahnung, wie dieses Phantombild zustande gekommen ist?«
»Na ja«, Kokoschansky zupft an seinem T-Shirt herum, »entweder haben mich die Krankenschwestern so erstklassig beschrieben, oder es war diese alte Frau. Ich tippe eher auf die Alte, die Schwestern waren zu sehr beschäftigt.«
»Alte Frau?«
»Ja, da war eine Patientin auf dem Flur, und der habe ich, nachdem Saller mit seinen Leuten an mir vorüber war, einen Blumenstrauß geschenkt, bevor ich mich dünnemachte, um euch nicht in die Arme zu laufen.«
»Moment mal, Klartext.«
»Nachdem ich verarztet worden war, machte ich mich auf die Socken, um Saller zu finden. Dafür kaufte ich rasch ein paar Blumen, um mich als Besucher zu tarnen.«
»Aha, jetzt habe ich es kapiert. Sehr raffiniert.«
»Ich mache meinen Job ja auch nicht erst seit gestern.«
»Hör zu, Koko«, Lena streicht sich durch ihr volles, geschmeidiges Haar, »ich bin schon ein Weilchen hier gesessen, während du geschlafen hast, und habe nachgedacht. Mein Entschluss steht fest. Ich steige aus.«
»Wie, du steigst aus?«
Manchmal wird Lena das Gefühl nicht los, ob Kokoschansky nur geistesabwesend ist oder doch sein Alter bereits erste Spuren hinterlässt. Doch sie wird sich hüten, sich den Mund zu verbrennen. Nach ein paar Augenblicken Schweigen und einigen Zügen an einer neu angezündeten Zigarette spricht sie weiter, während Kokoschansky gebannt an ihren Lippen hängt.
»Ich kündige. Ich hänge die Uniform an den Nagel. Mir reicht es. Ich will nicht mehr. Jollers Scheißauftritt war nur mehr das Tüpfelchen auf dem i.«
Kokoschansky ist kurz sprachlos. »Ist das dein voller Ernst? Wenn du jetzt alles hinwirfst, ist es doch nur Wasser auf die Mühlen deiner Gegner. Darauf warten sie doch nur!«
»Es macht keinen Unterschied mehr, ob ich noch länger bleibe oder gleich gehe. Sie suchen schon seit geraumer Zeit nach Läusen, und heute haben sie endlich eine gefunden. Sie werden mich ziemlich genau durchleuchten und durch die Mangel drehen.«
»Das ist doch Schwachsinn!«, ereifert sich Kokoschansky. »Die können es drehen und wenden, wie sie wollen, und nichts wird dabei herauskommen. Das hält doch vor keinem Staatsanwalt, sollte es jemals so weit kommen.«
»Dabei übersiehst du drei Dinge, mein Schatz«, belehrt Lena ihn. »Wie wir beide wissen, haben wir seit einigen Jahren in diesem Staat eine äußerst – na, sagen wir – merkwürdige Justiz. Wenn ein Staatsanwalt, vielleicht auf Anordnung von ganz oben, etwas drehen soll, bist du chancenlos. Du kennst die BBE-Leute11, du hast selbst schon mit ihnen Bekanntschaft gemacht, und sie können sehr unangenehm werden. Und ich unterstehe dem österreichischen Beamtendienstrecht. Ich kann sogar nach meiner Pensionierung belangt werden, sofern ich Mist baue.«
»Weiß ich doch alles!« Kokoschansky gibt sich damit nicht zufrieden. »Ich finde es einfach nicht gut, jetzt aufzuhören, weil du ihnen doch nur in die Hände spielst.«
»Es kocht doch schon länger in mir«, nimmt Lena neuerlich Anlauf, ihn zu überzeugen. »Im Grunde hat der heutige Vorfall gar nichts damit zu tun. Der Job wird von Tag zu Tag gefährlicher, die Gewaltbereitschaft der Kriminellen steigt und steigt. Für viele ist die Uniform das absolute Feindbild, und dieses muss mit allen Mitteln bekämpft und am besten vernichtet werden. Brauche ich dir aber nicht wirklich zu erzählen. Vorige Woche sah ich ein Graffiti an einer Hausmauer – Brenn Bulle Brenn! Das sagt doch einiges aus. Das Ansehen der Polizei sinkt ständig und die Achtung gleich mit dazu. Vor ein paar Tagen sagte mir so ein Rotzlöffel, vielleicht dreizehn, in Beisein eines Kollegen, während wir auf Streife waren, dass er gerne mal eine geile Polizistin ficken würde, bevor er davonrannte. Ein Trickdieb lachte mir bei der Einvernahme frech ins Gesicht, sagte, dass er bald wieder draußen sein wird und dann käme er wieder, um mir die Titten abzuschneiden. Ich könnte etliche Beispiele aufzählen. Das ist der Alltag. So habe ich mir diesen – für mich – Traumberuf seinerzeit wirklich nicht vorgestellt. Ich mag nicht mehr. Komm in die Küche, ich habe einen Mordshunger.«
Kokoschansky setzt sich auf die Kante des Küchentisches und sieht Lena zu, wie sie Spiegeleier und Würstchen brät.
»Es ist deine Entscheidung, mein Mädchen, ich kann dich verstehen. Ich habe auch immer gesagt, mir würde jeden Tag tausendmal der Geduldsfaden reißen bei dem, was ihr euch bieten lassen müsst. Doch was willst du danach machen?«
»Hm, wie wäre es mit weiblicher Nick Knatterton?« Sie lacht und hebt die Eier aus der Pfanne.
»Detektivin?« Kokoschansky kann sich mit dieser Idee absolut nicht anfreunden.
»Warum denn nicht? Was spricht dagegen?«
»Das ist doch nicht deins, öde Beziehungskisten zu observieren. Stundenlang vor zwielichtigen Stundenhotels abzuhängen, um irgendwann irgendwen in flagranti zu erwischen. Noch dazu lausig bezahlt und mit den Auftraggebern um jeden Cent Spesen bei den Abrechnungen streiten müssen.«
»Na, mieser als die Polizei wird es wohl auch nicht bezahlt sein.«
»Ich bin skeptisch«, bleibt er bei seiner Meinung, »das Büro im Auto, sich dabei mit Fastfood die Figur versauen und endlich nach ein paar Tagen auf der Lauer ein paar Fotos schießen und Videos drehen, auf denen dann der Ehebrecher mit seiner jungen Freundin oder eine frustrierte Ehefrau mit ihrem neuen Lover zu sehen sind, wobei es gar nicht einmal sicher ist, dass der Auftraggeber vor Gericht erfolgreich sein wird.«
»Das kann mir egal sein, mein Auftrag wurde erfüllt.«
Kokoschansky schiebt seinen Teller beiseite. »Ich kenne genug Kiberer, die nach ihrer Pensionierung nicht aufhören können und glauben, ohne sie würde die Kriminalität noch maßloser ausufern. Daher verdingen sie sich als Privatschnüffler. Mit dem Resultat, dass ein paar lausige Aufträge nur sehr spärlich tröpfeln und sie die meiste Zeit mit ihren ehemaligen Kollegen in Lokalen herumhocken und in den alten Zeiten schwelgen.«
»So stelle ich mir das auch nicht vor, mein lieber Koko.« Lena zieht sich einen Stuhl herbei und lagert ihre Beine hoch.
»Wie dann?«
»Hast du mir nicht einmal von einem sehr guten Bekannten, einem ehemaligen Kriminalbeamten von der Wirtschaftskriminalität, erzählt, der sich eine florierende Detektei aufbauen konnte und seine Arbeit nahtlos fortsetzt? Allerdings zu weitaus besseren Bedingungen.«
»Ja, das ist wahr«, bestätigt Kokoschansky und fühlt sich gleichzeitig ein bisschen überrumpelt, »einer der wenigen, die es tatsächlich geschafft haben.«
»Und was hindert dich daran, bei passender Gelegenheit bei ihm für mich ein gutes Wort einzulegen?«
»Was habe ich doch für eine kluge Frau an meiner Seite«, lächelt Kokoschansky und massiert ihre Füße, »selbstverständlich mache ich das. Ich habe ihn zwar schon länger nicht gesehen, doch so viel ich weiß, ist er tatsächlich nur an den großen Fischen interessiert, und bei unserem letzten Treffen sagte er mir, zum Glück brauche er sich über eine mangelnde Auftragslage nicht zu beklagen.«
»Siehst du. Und genau bei ihm will ich anheuern. Ich bleibe bei meiner Entscheidung, ich schmeiße den Krempel hin. Und du«, Lena winkt ihn mit dem Zeigefinger her und lächelt dabei sehr maliziös, wobei sich in ihren Augen dieses besondere Glitzern widerspiegelt, wenn sie Lust verspürt, »komm doch mal her. Ich will mich selbst überzeugen, dass sie im Krankenhaus nicht an dir herumgepfuscht haben und wirklich noch alles dran ist. Nach diesem Scheißtag brauche ich meine Streicheleinheiten.« Mit einem Ruck zieht sie ihm die Jogginghose samt Unterwäsche herunter.
Doch das sich anbahnende Liebesspiel wird jäh durch das Läuten der Türklingel unterbrochen.
*
Der gestohlene Leichenwagen wurde in einem nicht einsehbaren Waldstück im Süden Wiens, das nur über einen selten befahrenen Feldweg erreichbar ist, abgestellt. Robert Saller hievte sich lässig aus dem Sarg.
Ebenso wie seine Fluchthelfer schlüpfte er in bereitgestellte, unauffällige Freizeitkleidung. Zwei weitere PKWs, in Wien vor einigen Stunden gestohlen und mit falschen Kennzeichen ausgestattet, warteten bereits. Die alten Klamotten wurden in den Leichenwagen geworfen, reichlich Benzin verschüttet und alles in Brand gesteckt.
Einer der Fluchthelfer
blieb bei Saller, während die Komplizen sich absetzten. Der
ehemalige Pate von Wien wurde zum Sportflugplatz Bad
Vöslau gebracht. Dort stieg er in ein viersitziges, voll getanktes
Motorflugzeug des Typs Robin DR 500 President um. Offiziell wurde
als Flugziel Mailand genannt. Doch das war nur für den Tower und
die Flugaufsicht bestimmt. Später wird der Mann hinter dem
Steuerknüppel den Kurs ändern. Für den ehemaligen Militärpiloten
aus dem Jugoslawienkrieg überhaupt kein Problem, das Radar zu
unterfliegen.
*
Sauer zieht sich Kokoschansky wieder an. Schließlich ist Sex mit seiner Lena immer etwas Besonderes und obwohl sie doch bereits seit einigen Jahren zusammen sind, noch nie langweilig geworden. Wenn es die Zeit erlaubt, dann vergeht kaum ein Tag, an dem sie es nicht treiben. Beide wissen ihr Liebesleben ständig neu und spannend zu gestalten. Und Kokoschansky weiß, das Eisen muss geschmiedet werden, solange es heiß ist. Die Uhr tickt, noch braucht er keine pharmazeutischen Helfer, und Lena weiß nur zu gut, wie sie ihren Koko auf Touren bringt.
Missmutig latscht er zur Tür und lugt durch den Spion. Zwei Männer mittleren Alters und in dunklen Anzügen mit korrekt gebundenen Krawattenknoten warten. Natürlich kann Kokoschansky sich ausrechnen, wer die ungebetenen Besucher sind. Ruckartig öffnet er die Türe und lässt eine Tirade vom Stapel.
»Ich habe bereits Telekabel und Breitbandinternet zu einem äußerst günstigen Tarif. Auch habe ich keine Lust, einen Persönlichkeitstest auszufüllen, weil ich Scientologen hasse. Ebenso möchte ich nicht über die Bibel sprechen, da mir die Zeugen Jehovas und die Mormonen ebenfalls schwer auf den Geist gehen. War’s das?«
»Sehr witzig«, sagt der Ältere der beiden, während sich der andere nur mühsam ein Lächeln verkneifen kann. »Guten Abend. BKA … Bundeskriminalamt. Lackner mein Name und mein Kollege Erharter. Wir müssen Ihnen, Herr Kokoschansky … Heinz Kokoschansky … und Ihrer Lebensgefährtin Lena Fautner ein paar Fragen stellen.« Dabei halten beide dem Journalisten ihre Dienstausweise unter die Nase.
Kokoschansky reagiert mit einer lässigen, einladenden Handbewegung, die vermitteln soll, wenn es denn sein muss, tretet ein, Bullen. Er dreht sich um, geht Richtung Wohnzimmer. Lackner und Erharter sind ausgesprochen höflich, geben sich gleichzeitig auch sehr bestimmend, was weder Kokoschansky noch Lena beeindruckt. Der Journalist denkt nicht daran, ihnen Platz oder etwas zu trinken anzubieten, geht vielmehr neuerlich zum Angriff über.
»Meine Herren, stellen Sie sich vor, der auf dem Phantombild bin tatsächlich ich. Und wirklich unglaublich, ich war ausgerechnet zur gleichen Zeit im SMZ Ost und auf der gleichen Station, als Saller sich aus dem Staub machte.«
»Dann wissen Sie also bereits, warum wir gekommen sind«, antwortet Lackner, der von den beiden der Ranghöhere und daher Wortführer ist, ungerührt. Sein Kollege hält sich dezent im Hintergrund, lässt aber dafür umso emsiger seine Augen herumschweifen. »Ich behaupte aber, Sie wussten, dass Saller sich dort aufhält und sind schnurstracks dorthin gefahren. Schließlich sind Sie Journalist.«
»Wissen Sie was …«
Lena möchte ihn stoppen, hat aber keine Möglichkeit. Sie weiß nur zu gut, wie Kokoschansky aufbrausend werden kann, und befürchtet, dass er den BKA-Leuten das Götz-Zitat ins Gesicht schleudern wird.
»Wissen Sie was«, wiederholt Kokoschansky und zieht seine Hosen herunter »glauben Sie wirklich, ich trage diesen Scheißverband aus Spaß mit mir herum? Darunter war ein höllisch schmerzendes Abszess, das ich mir aufschneiden ließ. Wollen Sie die Wunde auch sehen? Soll ich den Verband lösen? Zufrieden?«
Betreten blicken die Beamten zu Boden, während Kokoschansky wütend die Hände in die Hüften stemmt und Lena sich das Lachen nur mühsam verkneifen kann.
»Bitte, Herr Kokoschansky«, sagt Lackner, den Blick noch immer nach unten gerichtet, »ziehen Sie sich wieder an. Aber …«
»… aber was?«, knurrt der Journalist, zieht seine Hosen wieder hoch und bemüht sich gar nicht, seine Wut zu unterdrücken. Diese Eierköpfe sollen nur merken, wie sehr er kocht.
»Sie müssen doch zugeben«, mischt Erharter sich nun erstmalig ins Gespräch, »Saller liegt im Krankenhaus und simuliert. Plötzlich tauchen Sie auf, und er haut ab. Würden Sie da nicht auch ins Grübeln kommen und einen Zusammenhang vermuten? Schließlich sind Sie und Saller sich nicht fremd.«
»Worüber Sie sich die Köpfe zerbrechen und Vermutungen anstellen, geht mir, ehrlich gesagt, ziemlich am Arsch vorbei.«
»Wir haben uns im SMZ Ost erkundigt«, bohrt nun wieder Lackner weiter. »Ambulante Eingriffe finden stets, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in den Ambulanzen im Erdgeschoss statt, und Sie waren keine Ausnahme, Herr Kokoschansky. Warum hielten Sie sich ausgerechnet in der Chirurgischen Abteilung auf, wo auch Saller war?«
»Gut, ertappt. Ich gebe es zu, meine Herren, und es ist mir äußerst peinlich.« Kokoschansky macht eine Kunstpause, um danach umso feister zu grinsen. »Ich bin ein wenig pervers, ich stehe auf Krankenhausluft. Ich bin süchtig danach. Ich weiß auch nicht, warum, doch ich kann nie genug davon bekommen. Wann immer ich ein Spital sehe, muss ich rein, egal, ob ich selbst etwas brauche oder nur zufällig in der Nähe bin. Dann stehe ich unter einem inneren Zwang, muss unbedingt durch sämtliche Abteilungen gehen und immer nur tief einatmen.«
»Und dafür brauchen Sie Blumen?« Weder Lackner noch Erharter lassen sich anmerken, dass sie Kokoschansky am liebsten auf der Stelle festnehmen möchten. Leider gibt es kein Gesetz gegen Verarschung.
»Ich muss mich doch tarnen!« Kokoschansky zieht weiter seine Nummer durch. »Das brauche ich Ihnen wohl nicht zu erzählen, wie raffiniert Süchtige sein können. Mit einem Strauß in der Hand falle ich nicht auf und gehe als Besucher durch, wenn ich mir meine Dosis hole. Das leuchtet doch ein, oder?«
»Und dann schenken Sie die Blumen einer alten Frau«, bleibt Lackner weiterhin ruhig.
»Entschuldigung«, bittet nun sein Kollege Kokoschansky, »dürfte ich kurz Ihre Toilette benutzen? Leider habe ich eine leichte Magenverstimmung. Dieser verdammte Kantinenfraß.«
»Klar doch. Links im Flur. Das Licht ist außen«, weist Lena ihn ein, und Erharter bedankt sich artig, bevor er verschwindet.
»Dann hat mich also die Oma erkannt«, bleibt Kokoschansky weiterhin hartnäckig. »Kompliment! Fantastisches Gedächtnis.«
»Genug des Geplänkels«, bestimmt Lackner. »Sie haben Ihren Spaß gehabt, Herr Kokoschansky, und nun beginnt unserer. Wir können ganz anders, wenn wir wollen. Das wissen Sie genau.«
»Eine Drohung? Soll ich mich nun zu fürchten beginnen?« Kokoschansky lässt sich keine Sekunde einschüchtern. »Wenn Sie uns noch länger blöd kommen, hänge ich Ihnen eine Dienstaufsichtsbeschwerde an, die Sie sich garantiert nicht hinter den Spiegel stecken. Ein Anruf von mir, beispielsweise bei der Kronen-Zeitung oder bei einem unserer Fernsehsender, und morgen habt ihr beide eure Ärsche offen bis zu den Halswirbeln.«
»Tun Sie, was Sie nicht lassen können.« Auch Lackner ist ein ebenso harter Knochen wie der Journalist. Inzwischen ist Erharter wieder ins Wohnzimmer zurückgekehrt. »Wer hat Ihnen den entscheidenden Tipp gegeben?«
»Und wenn es so gewesen wäre, geht es Sie einen Scheißdreck an, weil es unter Redaktionsgeheimnis und Informantenschutz fällt.«
»Sie haben heute«, nun macht sich Erharter wieder wichtig, »um 13.40 Uhr von Ihrer Lebensgefährtin Lena Fautner einen Anruf auf Ihrem Handy erhalten. Zu diesem Zeitpunkt waren Sie im SMZ Ost. Und auch Robert Saller.«
Kokoschansky muss sich zügeln, um den beiden nicht sofort an die Gurgeln zu springen. Bestimmt haben diese BKA-Leute eigenmächtig gehandelt. Aber warum? Was steckt dahinter?
»Sie checken unsere Telefonate? Hören Sie uns auch ab? Haben Sie für diese ungeheuerliche Vorgangsweise die nötige Deckung? Einen richterlichen Beschluss?«
»Wenn Gefahr in Verzug ist …«, weicht Lackner kryptisch aus.
»Raus, meine Herren, raus! Sofort!«
Mit einer Armbewegung weist Kokoschansky ihnen die Richtung zur Tür.
»Gut, Herr Kokoschansky«, fügt Lackner sich, »doch wir sehen uns sehr bald wieder. Sehr bald.« Dann wendet er sich Lena zu. »Sie müssen damit rechnen, demnächst vom BBE vorgeladen zu werden. Ein schönen Abend noch.« Sie machen auf dem Absatz kehrt und verlassen die Wohnung.
Kaum sind sie draußen, verriegelt Kokoschansky die Türe, lehnt sich dagegen und schnauft.
»War ich jetzt in einem schlechten Film? Was sollte dieser Spuk?«
Lena kommt in den Flur, hält ihm eine bereits angezündete Zigarette hin.
»Verstehst du mich jetzt?«
»Ich glaube das einfach nicht! Und der Typ verscheißt auch noch unser Klo! Mann, muss ich pinkeln!« Er klemmt sich die Zigarette zwischen die Lippen, lässt es sprudeln. Komisch, von dem BKA-Mann ist kein übler Geruch zurückgeblieben. Er misst diesem Umstand keinerlei weitere Bedeutung zu, richtet seine Hose, als sein Blick auf den Spülkasten fällt. Die Abdeckung sitzt nicht mehr gerade auf, ist auf der linken Seite ein paar Zentimeter angehoben und daher schief. Kokoschansky kann sich nicht erinnern, jemals an diesem Ding herumgefingert zu haben. Sofort überfällt ihn eine böse Ahnung.
»Lena! Bring mir Gummihandschuhe!«
»Was ist? Hat er unser Häusl12 verstopft?«
»Frag jetzt nicht! Ich brauche die Handschuhe!«
Hastig streift Kokoschansky die giftgrünen Dinger über, während Lena an ihm vorbeizugucken versucht.
»Hoffentlich irre ich mich«, murmelt er und hebt den Deckel ab. Für einen Moment beginnt das Plastikteil vor seinen Augen zu tanzen. »Nein, ich habe mich nicht getäuscht.«
Dann dreht er sich zu Lena um und zeigt ihr seine Entdeckung.
»Weißt du, was das ist?«
»Ich kann es mir denken«, flüstert sie, und ihre Augen füllen sich mit Tränen, »diese gottverdammten Schweine …«
Mit einem Streifen grauem Lassoband ist ein durchsichtiges Säckchen an der Unterseite des Deckels festgeklebt, und der Inhalt sind rund dreißig Gramm hochwertiges Kokain.
»Was läuft da bloß? Verfluchte Scheiße!«, tobt Kokoschansky. »Ich brauche eine Plastiktüte. Der Dreck muss sofort außer Haus. Und so weit weg wie möglich. Jetzt können sie jeden Moment wieder klingeln und ohne Hausdurchsuchungsbefehl die Bude auseinandernehmen. Weil Gefahr in Verzug ist …«
»Mir brauchst du das nicht zu erklären«, sagt Lena mit kalkweißem Gesicht, reicht ihm die Plastiktüte. Mit spitzen Fingern steckt Kokoschansky den Koks hinein und den Deckel des Spülkastens gleich dazu.
»Glaubst du wirklich, der Scheißkerl war so dämlich, dir ohne Handschuhe das Kokain unterzujubeln?«
»Ich habe keine Ahnung, ich will nur auf Nummer sicher gehen.«
»Wenn du recht haben solltest«, ergreift Lena die Initiative, »dann reichen seine Fingerabdrücke auf dem Paket. Findest du nicht?«
»Und es gibt die DNA«, gibt Kokoschansky ihr recht, »dann setze ich den Deckel wieder so drauf, als wäre nichts gewesen. Das Zeug muss schleunigst raus.«
»Hast du schon eine Idee, wohin damit? Ich hoffe, du denkst nicht an Freitag?«
»Sicher nicht! Der hat Familie, und außerdem ist er ein Schwarzer. In dieser Stadt, in diesem Land wird doch jeder Schwarzafrikaner pauschal als Dealer verdächtigt. Du bleibst vorerst hier, Lena. Auf keinen Fall darf die Wohnung unbeaufsichtigt sein, wenn die Bande einreitet. Und du bist immer noch Polizistin und weißt dich zu wehren, wenn sie dir blöd kommen.«
»Wohin bringst du den Stoff?«
»Mir ist da etwas eingefallen. Lass mich mal machen. Hoffentlich klappt es. Diese beiden Arschlöcher mache ich fertig.«
»Tu jetzt bloß nichts Unüberlegtes, Koko. Wenn ich nur wüsste, weshalb sie das inszeniert haben? Du bist derzeit an keiner großen Geschichte dran, also warum? Deine Bekanntschaft mit Saller kann doch nicht dafür ausschlaggebend gewesen sein. Auf jeden Fall will man dich aus dem Verkehr ziehen, und zwar endgültig, wie wir es gerade erleben. Doch weshalb?«
»Keine Ahnung. Aber das werden wir herausfinden.«
Kokoschansky steckt das Kokainpaket in die Innenseite seiner Jeansjacke, verabschiedet sich kurz und steuert mit schnellen Schritten sein Auto an. Inzwischen ist es Nacht geworden. Soweit er feststellen kann, scheint alles ruhig zu sein. In der Straße, wo Lena und er wohnen, ist um diese Zeit nicht viel los. Trotzdem blickt er immer in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass er nicht verfolgt wird. Fataler, als ihn jetzt mit Kokain in der Jacke zu stellen, könnte es nicht kommen. Dann wäre er auf jeden Fall erledigt. Sie – wer immer hinter diesen mysteriösen sie steckt – wollen ihn mit seiner Vergangenheit packen, und aus noch nicht nachvollziehbaren Gründen spielt das BKA mit.
Noch vor einigen Jahren war Kokoschansky wegen massiver Probleme schwer alkoholkrank und drogenabhängig geworden, wobei er meist Koks konsumierte. Dementsprechend war er fertig und hatte sich bereits aufgegeben, als eine junge Polizistin, die ihn während ihres Dienstes zusammengebrochen fand, sich um ihn kümmerte.
Lena wollte mehr über diesen Mann wissen, sorgte sich auch trotz seines anfänglichen Widerstands außerhalb ihrer Dienstzeit um ihn, bis er schließlich nachgab und sich ganz in ihre Obhut begab. Mit durchschlagendem Erfolg. Beinahe hatte Kokoschansky auf diese dunklen Schatten in seiner Biografie vergessen. Nun kommen diese beiden BKA-Kerle und wollen ihn auf diese hinterhältige Weise linken.
Kokoschansky erreicht ein riesiges Industriegebiet im Süden Wiens, direkt an der Stadtgrenze. Bisher ist alles gut gegangen. Niemand scheint sich an seine Fersen geheftet zu haben. Suchend kurvt er herum. Kokoschansky hält nach einem Lagerhauskomplex Ausschau, und in einem Teil davon hofft er zu finden, wonach er sucht. Es gibt keine Adresse und auch keine offizielle Telefonnummer.
Der Geheimnisvolle, nachdem der Journalist fieberhaft sucht, wechselt ständig seine Handynummern, und nur ein kleiner, eingeweihter Kreis wird über den neuesten Stand informiert. Kokoschansky gehört nicht dazu. Zumindest hat er seit mehr als einem Jahr nichts mehr gehört oder eine Nachricht erhalten.
Nach einiger Zeit erkennt er das Gebäude wieder. Kokoschansky durchquert die Einfahrt und erinnert sich nun wieder genau. Dieser verfallene Teil der Lagerhäuser ist sein Ziel. Erleichtert stellt er den Motor ab, steigt aus, vergewissert sich nochmals, ob er tatsächlich alleine ist.
*
»Diese Fotzerle aus dem Osten sind lei tatsächlich die geilsten und heißesten Weiberle, die es auf diesem Planeten gibt«, dröhnt Ährenbach in seinem unverkennbaren Kärntner Dialekt und kneift einem der zahlreichen nackten Mädchen, die sich hier tummeln, grob in die Brüste. »Die lassen lei Sacherle mit sich anstellen, von denen unsere Mädele nicht einmal zu träumen wagen! Schauts euch do lei diese strammen Dutterle13 an!«
Er packt eine der sichtlich eingeschüchterten und unter Drogen stehenden Frauen an den schulterlangen, schwarzen Haaren, reißt ihren Kopf brutal in den Nacken, flößt ihr, unter dem Gejohle der völlig durchgeknallten Runde Champagner aus einer halb vollen Flasche ein. Der Alkohol fließt aus ihrem Mund über ihren Körper, sie verschluckt sich, hustet, was ihr sofort eine schallende Ohrfeige einbringt.
»Ich habe das Mauserle schon lei ordentlich eingeritten«, brüllt Ährenbach völlig außer Rand und Band, enthemmt von zu viel Alkohol und aufgeputscht durch Kokain, »jetzt gehört das Schlamperle euch! Und ich garantiere euch, ihr werdet es lei nicht bereuen!«
Er wirft die Flasche einfach gegen die nächste Wand, wo sie mit lautem Knall zerbricht. Niemand kümmert sich darum. Der unnatürlich gebräunte Gilbert Ährenbach scheint im Solarium zu schlafen, zerrt wieder das Mädchen zu sich, reißt ihre Beine auseinander, präsentiert triumphierend ihre Blößen wie ein Jäger seine Beute, bevor er sie wie lästigen Abfall mit einem Fußtritt von sich stößt. Zwei ältere Männer zerren sie an den Armen hoch und schleifen sie in eines der zahlreichen Zimmer. Nach einem harten Arbeitstag in der Oberstaatsanwaltschaft und in der Parteizentrale genau der richtige Ausgleich. Wer hart arbeitet, darf auch hin und wieder ausgiebig feiern.
Die prachtvolle Gründerzeitvilla in einer der nobelsten Wiener Wohngegenden in Grinzing im 19. Bezirk ist der ideale Ort für orgiastische Ausschweifungen. Wenn Nazeem al-Qatr eine Party schmeißt, geht es immer hoch her, sofern man zu seinen auserwählten Freunden zählt. Dafür werden gerne Termine verschoben, so wichtig können diese gar nicht sein. Wer eine der heiß begehrten Einladungen bekommt, schätzt sich glücklich. Diskretion und Verschwiegenheit sind garantiert.
Nazeem al-Qatr ist der älteste Sohn eines der letzten Diktatoren auf dieser Welt, und seine Heimat liegt in Nordafrika.
Offiziell gibt sich sein Sohn Nazeem al-Qatr in Österreich als Politologiestudent aus. In Wahrheit führt er das Leben eines verwöhnten, arroganten, superreichen und sich unwiderstehlich haltenden Playboys. Stehen schriftliche Prüfungen an, werden die erforderlichen Arbeiten von hoch bezahlten Ghostwritern verfasst. Soll das bisher vorhandene Wissen mündlich abgefragt werden, gelangt der eine oder andere Professor in den Besitz unterschiedlicher Luxusgüter, darf seine Ferien in einem Nobelurlaubsort verbringen oder sich mit jungen Mädchen verlustieren. Alle halten dicht, niemand wagt, sich mit dem Al-Qatr-Clan anzulegen.
Nazeem al-Qatr spielt für seinen Vater den Statthalter in Europa mit dem Headquarter in Österreich, vorzugsweise in Wien und Kärnten. Jene, die mit den Al-Qatrs Geschäfte machen, sind sehr gut beraten, diskret und verschwiegen zu sein. Immerhin verdienen sie illegal Vermögen in den unterschiedlichsten Bereichen, die sie an der Steuer vorbei in verschachtelten, komplizierten, kaum zu entwirrenden Firmengeflechten im kleinen Fürstentum Liechtenstein, in Briefkastenfirmen auf Zypern oder in der Karibik parken können.
Einer dieser Nutznießer und Schlüsselfiguren ist KFM – Kurt-Friedrich Midas. Nun sitzt er im Flugzeug auf dem Weg nach Wien, nachdem Gilbert Ährenbach das dolce vita in seinem Feriendomizil störte und ihn über Robert Sallers Flucht informierte.
»He, du verficktes Dreckstück!«, flucht Oberstaatsanwalt Lukas Bortner und zieht seinen schlaffen Penis aus dem Mund der russischen Nutte, die vor ihm kniet und die er an ihren Haaren festhält. »Verdammt, du Kanaille, du sollst blasen!«
In seiner unersättlichen Gier merkt Bortner nicht, dass ihre Augen verdreht sind und ihr lebloser Körper nur durch seinen harten Griff halbwegs aufrecht gehalten wird.
»Die ist hinüber«, stellt der Parteisekretär Sigmund Sauslinger lakonisch aus seinem Lederfauteuil fest, von wo er den beiden zugesehen hatte. Langsam erhebt er sich und betrachtet dieses unwürdige Bild genauer. »Lass sie mal los, du geiler Bock.« Das Mädchen schlägt hart am Parkett auf. Sauslinger hat weniger Hemmungen als Bortner, der sich entsetzt die Hände vor den Mund presst. Er fühlt zuerst den Puls, danach legt er zwei Finger an die Halsschlagader. »Hin«, sagt er abermals trocken und emotionslos, »die hat einen Abgang gemacht. Du hast sie mit deinem Ding schlichtweg erstickt.«
»Oh, mein Gott! Wenn das publik wird, bin ich erledigt!«
Bortner sinkt in dem Fauteuil wie ein Häufchen Elend in sich zusammen, was Sauslinger, ohne es sich anmerken zu lassen, wohlwollend registriert.
»Was soll ich jetzt bloß tun?«, jammert der sonst so gestrenge Gesetzeshüter.
Ein erbärmliches Bild, das diese beiden nach außen hin so mächtigen, älteren, nackten Männer mit ihren Schwabbelbäuchen, ihrer faltigen, blassen Haut bieten und bei dessen Anblick jede Frau sofort zum eigenen Geschlecht wechseln muss. Leider ahnen sie nicht, dass Nazeem al-Qatr in jedem Raum dieser Villa versteckte Kameras und Mikros installiert hat, um für seine Geschäfte Druckmittel in der Hand zu haben, und die Bänder, fein säuberlich archiviert, in seinem Tresor hortet.
»Du machst gar nichts«, ordnet Sauslinger an, »außer die Schnauze zu halten.«
»Wenn Nazeem das erfährt …«, stottert Bortner vor sich hin, »… und das wird ihm nicht verborgen bleiben …«
»Jetzt zieh dich mal an, Lukas, und dann fährst du nach Hause. Es ist nur eine illegale russische Hure. Ich regle das. Es wird der Tag kommen, an dem du dich wirst revanchieren können.«
»Das werde ich dir nie vergessen.«
Der Parteisekretär nickt nur.
*
Kokoschansky bleibt noch in seinem Auto sitzen, blättert im Adressbuch seines Handys und erinnert sich wieder an den Code. Anrufen, fünfmal klingeln lassen, auflegen und nochmals anrufen.
Kokoschansky versucht sein Glück, und tatsächlich ist ihm Fortuna hold. Kaum eine Minute später öffnet sich wie von Geisterhand ein über und über mit Graffitis beschmiertes, verrostetes Eisentor, und ein kurzer, betonierter, hell erleuchteter Flur zeigt sich dem Besucher. Videokameras überwachen jeden Zentimeter. Eine weitere schwere Stahltüre gibt mit leisem Summton den Weg frei, und im Türrahmen lehnt ein junger Typ, ungefähr dreißig mit extrem kurzen Haaren. Aus dem Innern heraus wummern Bässe und der Sound von Drums.
»He, wo sind deine Federn14 geblieben?« Als Kokoschansky ihn zuletzt gesehen hatte, trug er lange Dreadlocks bis fast an die Hüften.
»Tja, Koko, langsam werde ich auch seriös, und meine Kunden wünschen sich ein unauffälliges Erscheinungsbild.«
»Dein Musikgeschmack hat sich nicht verändert.« Kokoschansky greift sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Ohren.
»Ja, ja, hab schon verstanden.« Der junge Mann schnappt sich eine Fernbedienung und fährt die Lautstärke der hochwertigen Stereoanlage auf ein Minimum herunter. »Passt es so für deine Altherrenohren?«
»Drecksack«, grinst Kokoschansky. »Und wie läuft das Geschäft?«
»Kann nicht klagen«, antwortet Mitnick, »sieh dich um. Das Feinste vom Feinen.«
Mitnick ist sein selbst gewähltes Pseudonym, und nur die wenigsten Leute kennen seine richtige Identität. Er hat diesen Namen ausgesucht, um seinem großen Idol, dem amerikanischen Hackerkönig Kevin Mitnick, Reverenz zu erweisen.
Der österreichische Mitnick, versteckt arbeitend auf dem abgelegenen Industriegelände am Wiener Stadtrand in seinem High-Tech-Studio, ausgerüstet mit sündteuren Gerätschaften der neuesten Generationen, ist mit Computern und allerlei Elektronik aufgewachsen, kennt nichts anderes. Schon als Schüler unternahm er seine ersten Hackergehversuche, brach in damals noch völlig ungeschützte Firmendatenbanken ein, machte sich einen Spaß daraus.
Nach der Matura begann er ein Informatikstudium, lebte gleichsam vor und mit dem PC und interessierte sich für größere Projekte, indem er virtuell Banken knackte, sich in den Computern diverser Ministerien und Ämter herumtrieb, sich jedoch nie bereicherte oder jemanden betrog. Es war für ihn ein Kick, um sich selbst zu beweisen: So abschotten könnt ihr eure Daten gar nicht, dass ich nicht eure Codes knacke.
Bis ihm eine große Bank auf die Schliche kam, aber auf eine Anzeige verzichtete, da das Institut viel zu große Angst hatte, Kunden zu verlieren, sollten die mangelhaften Sicherheitsvorkehrungen publik werden. Daher schlug man ihm einen Deal vor. Ab sofort nicht mehr im Verborgenen, sondern offiziell und noch dazu sehr gut dotiert als IT-Sicherheitsberater zu arbeiten, um die Systeme zu warten und laufend zu verbessern. Für Mitnick die Basis seiner weiteren Karriere.
»Na, was ist es diesmal?«, feixt Mitnick. »Eine vorsintflutliche Festplatte, die ich wiederherstellen soll oder etwas Ähnliches in der Art?«
Wortlos fischt Kokoschansky das Kokainpaket unter seiner Jacke hervor und legt es auf einen mit Kabeln und Steckverbindungen überfüllten Tisch. Mitnick ist nicht besonders beeindruckt.
»Die Fronten gewechselt? Kleiner Nebenverdienst? Danke, ich habe mit dem Zeug schon lange nichts mehr am Hut.«
»Blödsinn!«, fährt der Journalist ihn in einem etwas raueren Ton an. »Kannst du den Dreck eine Zeit lang für mich aufbewahren? Der Scheiß wurde mir untergejubelt.«
Mitnick kratzt sich am Kopf und zieht eine verdrießliche Miene.
»Und werde ich da in etwas reingezogen?«
»Nein! Kein Schwein weiß doch, wo du logierst.«
»Das hatten wir doch schon mal, und dann war der Teufel los.« Wieder eine Nachdenkpause. »Klar mache ich das, weil ich eben verrückt bin und die Gefahr liebe.«
»Ich brauche den Koks als Beweismittel, wenn es so weit ist.«
»Wenn was so weit ist …«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Klingt spannend. Und du weißt, für dich ist immer die Tür offen, wenn die Kacke wieder einmal am Dampfen ist.«