Die Besenkammer
Wir legten uns flach auf den Rücksitz von Collettes Auto und versteckten uns unter einer Decke, während sie uns zurück zur Schule fuhr. »Ich glaube, die Luft ist rein«, sagte Collette und zog den Zündschlüssel ab. Sie hatte in einer Gasse ein paar Straßen vom Eingang entfernt geparkt.
Ich schloss die Augen und versuchte, die leere Anwesenheit der Untoten zu erspüren. »Sie sind nah«, sagte ich. »Aber nicht hier.«
Wir nickten Collette noch einmal zu, dann schlüpften Noah und ich aus dem Auto und verschwanden durch die Gasse Richtung St. Clément.
Als wir in den Innenhof kamen, ging in einem Zimmer ein Licht an, in einem anderen ging es aus. In irgendeinem von ihnen musste der erste Teil der Botschaft verborgen sein, das wussten wir – nur in welchem? Die Schule war riesig, voll merkwürdig geschnittener Räume und einem endlosen Labyrinth enger Gänge und dunkler Ecken. Es konnte überall sein.
»Wo hätte sie es wohl versteckt?«, fragte Noah, als wir im Mondschatten eines Gebäudes stehen blieben.
In meiner Tasche spürte ich den Brief, den Collette mir mitgegeben hatte. Ophelia hatte ihr Zuhause verlassen, um am St. Clément zur Schule zu gehen. Sie war mit einem Geheimnis hergeschickt worden, genau wie ich.
Wenn ich Ophelia Hart wäre, wo hätte ich also den ersten Rätselteil untergebracht? Es musste ein privater Ort sein, damit mich beim Verstecken niemand beobachtete, aber auch nicht zu privat, damit es nicht womöglich ewig unauffindbar blieb. Aber vor allem hätte ich mein tiefstes Geheimnis nur an einem Ort verborgen, der in meiner Zeit am St. Clément von besonderer Bedeutung für mich gewesen war.
Wie angewurzelt blieb ich stehen und brachte Noah ins Stolpern, der mir auf den Fersen gefolgt war. »Ihr Zimmer«, sagte ich, während er sich aufrappelte. »Es ist in ihrem alten Wohnheimzimmer.«
Wir nahmen Kurs auf die Bibliothek. Dort durchforsteten wir den Zettelkatalog, bis wir den Standort der alten Schulakten gefunden hatten: oben auf der vierten Galerie in einer finsteren, verstaubten Ecke, in die sich offensichtlich seit Jahrzehnten keiner mehr gewagt hatte.
Ich begann von rechts, Noah von links, und so bewegten wir uns langsam aufeinander zu, während wir alle Bücher durchblätterten. Wir waren auf der Suche nach dem Band mit den alten Quartierlisten. Jeder Band war mehrere Zentimeter stark, voll mit eingehefteten Schuldokumenten, und die Rückenbeschriftung ließ meist schwer zu wünschen übrig. Ich hatte die obere Reihe halb durch, als Noah nach mir rief.
»Ich hab’s!«
Ich stopfte den Band mit alten Aufnahmetests zurück ins Regal, sprang von der Trittleiter und eilte zu ihm. Noah versuchte gerade, einen zwischen den Nachbarbänden eingekeilten Wälzer freizubekommen. Er zog fester daran, stolperte rückwärts und das Buch schlug dumpf auf den Boden auf.
Wir legten den Band auf ein Fensterbrett und blätterten ihn durch. Das Papier war dick und brüchig, randvoll mit Einträgen in einer winzigen, steilen Handschrift. Jede Seite enthielt nichts als endlose Namenslisten und die entsprechenden Zimmernummern. Und so ging es weiter, Hunderte von Seiten lang. Kein Wunder, dass dieser Teil der Bibliothek gemieden wurde wie die Pest.
Und dann entdeckten wir es. Das Jahr 1732, das Jahr, das auch auf dem Brief in meiner Tasche stand. Mit dem Finger fuhr ich die Liste hinab, bis ich sie gefunden hatte: Hart Ophelia. Zimmer 22.
»Zimmer 22. Weißt du, wo das ist?«, fragte Noah.
Es war auf meinem Stockwerk. Ich schloss die Augen und zählte im Geiste die Türen ab, erst die neben der Treppe und dann eins weniger, eins weniger … und dann unterbrach ich. Das konnte nicht sein.
Ich zählte noch einmal, diesmal aufwärts, aber ich hatte mich nicht geirrt. »Ja«, sagte ich und schlug die Augen auf. Noah stand neben mir über das Buch gebeugt, sein Gesicht nur Zentimeter von meinem entfernt.
»Wer hat das Zimmer jetzt?«
»Niemand«, sagte ich, fassungslos, dass mir das vorher nie aufgefallen war. Anyas Zimmer war die Nummer 21. Und Arielles Zimmer war 23. Das Zimmer zwischen den beiden war Ophelias. Immer wieder war ich dieses Jahr an ihm vorbeigekommen, ohne es eines zweiten Blicks zu würdigen. Ohne zu wissen, dass es einmal ein Zimmer gewesen war. »Es ist eine Besenkammer.«
Um ganz sicherzugehen, blätterte ich zum nächsten Jahr vor und fand ihren Namen. Und dann zum übernächsten. Ophelia hatte ihre ganze Zeit am St. Clément hindurch im selben Zimmer gewohnt.
Aber merkwürdigerweise war in allen darauffolgenden Jahren das Zimmer 22 überhaupt nicht aufgeführt.
»Sie hat als Letzte dort gewohnt«, wandte ich mich an Noah. Und als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er leise: »Dann haben wir es gefunden.«
Wir rafften unsere Sachen zusammen und eilten die Treppen hinunter, aus der Doppeltür hinaus in die kalte Februarnacht.
Die warme Beleuchtung und rosa Tapete des Mädchenwohnheims begrüßten uns, als wir durch die Tür hineinpreschten. Eine Mädchengruppe auf dem Flur glotzte uns an, woraufhin wir unser Tempo etwas drosselten. Kaum waren wir oben, spähte ich um die Ecke, um sicherzustellen, dass nicht Clementine oder eine ihrer Freundinnen im Flur herumlungerte. Wir warteten noch ab, bis ein Mädchen in ihrem Zimmer verschwunden war, und dann huschten Noah und ich durch die Gänge, bis wir vor Anyas Zimmer standen, der Nummer 21.
Genau daneben lag die Besenkammer.
Ich hatte recht gehabt. Unter den vielen dicken Farbschichten der Tür konnte ich gerade noch das erhabene Metall der Nummer 22 ausmachen. Noah fuhr mit den Fingern darüber. »Unglaublich«, sagte er. »Nie im Leben wär mir das aufgefallen.«
Die Farbe war so dick, dass sie den Spalt zwischen Tür und Rahmen gefüllt und den Knauf fixiert hatte. Trotzdem versuchte Noah sein Glück und drehte daran. Ich sah zu, wie er es noch ein paarmal probierte und schließlich fest und frustriert dagegenhämmerte. Ich griff nach seinem Arm – so ein Lärm fehlte uns gerade noch.
»Da tut sich nichts«, sagte ich. »Wir müssten die Tür einschlagen, aber das ist wohl ein bisschen auffällig.«
Noah wischte sich die Stirn ab und sah zum ersten Mal an diesem Tag geschlagen aus. »Und was jetzt?«
Ich kaute auf meiner Unterlippe und versuchte, mir irgendwas einfallen zu lassen, doch mein Kreativitätsvorrat war für heute erschöpft. Das Zimmer war offensichtlich mit Bedacht versiegelt worden, damit ja niemand hineinkam.
Irgendwo hinter uns hörte ich plötzlich etwas krachend zu Boden fallen. Noah und ich wechselten einen verwirrten Blick und drehten uns um. Das musste aus Anyas Zimmer gekommen sein. Durch die Wand hörte ich sie auf Russisch fluchen.
Ich ließ die Besenkammer Besenkammer sein und klopfte bei ihr an. Im Zimmer schlurfte es, dann wurde es still. Die Tür öffnete sich einen Spaltbreit und ein großes Auge mit viel Wimperntusche spähte mir entgegen.
»Ach, Renée!«, sagte Anya.
»Dir geht’s gut«, sagte ich erleichtert.
»Ich hab ihnen ihre Namen entlockt und wo sie wohnen«, erklärte Anya stolz. »Ich glaube, einer von ihnen fand mich sogar gut …« – hier entdeckte sie Noah hinter mir und verkniff sich den Rest.
»Können wir reinkommen?«, fragte er. »Wir müssen mal dein Bad benutzen.«
Im Zimmer brannten Dutzende von Kerzen, was eine äußerst schummrige Atmosphäre schuf. Noah stolperte über eine Schachtel Räucherstäbchen und warf ein paar Metallglücksbringer um, bevor er sich am Bettrahmen abfing.
»Was wollt ihr in meinem Bad?«, fragte Anya und raffte einen Stapel Schmutzwäsche zusammen.
»Ophelia Hart hat den ersten Teil des Rätsels in ihrem Wohnheimzimmer ver-«, holte ich aus, als ich Anyas offene Schranktür bemerkte. Ein abgenutzter Holzgriff ragte aus ihren Kleidern heraus.
»Was ist das?« Ich starrte auf den Griff, dann auf Anya.
Sie wurde käsebleich. »Nur ein Besen«, sagte sie hastig und wollte rasch die Tür zuschlagen, aber ich war schneller. Ich schnappte mir den Griff und zog ihn aus dem Schrank, wobei ich noch ein paar Kleiderhaken mitnahm.
»Das ist meine Schaufel«, sagte ich und untersuchte die rostige Spitze. Wie vom Donner gerührt drehte ich mich zu Anya. »Hast du sie aus meinem Zimmer genommen? Hast du meine Sachen durchwühlt?«
Anya wich zurück an die Wand, während ich die Schaufel hochhielt und sie damit bedrohte, ohne es eigentlich zu wollen. »Hast du – hast du diese Pastinake unter meine Heizung gelegt?«
»Das war doch nur zu deinem Besten«, sagte Anya schnell und starrte auf das Schaufelblatt, das direkt vor ihrer Nase schwebte. »Wenn man die unters Fenster legt, soll das die Untoten fernhalten. Beim Rausgehen hab ich aus Versehen deinen Wasserkrug umgeworfen«, gab sie zu. »Und es bringt Unglück, die Schaufel von jemandem zu verwenden, dessen Seele genommen wurde. Ich konnte einfach nicht zulassen, dass du die Schaufel von deiner Mutter nimmst, aber ich hab genau gewusst, wenn ich dir das sage, dann glaubst du mir nicht. Deshalb hab ich sie einfach mitgenommen, als ich schon mal da war.«
Ich spürte, wie mein Mund Worte zu formen versuchte, die ausdrückten, wie erschüttert ich war und zugleich heilfroh, dass Anya der Eindringling gewesen war.
»Du bist sauer«, sagte Anya und zauste das Ende ihres Zopfs. »Ich weiß, ich hätte dich nicht anlü-«
Doch bevor sie aussprechen konnte, sprang ich auf sie zu und zog sie an mich, ihre knochigen Schultern entspannten sich unter meinem Griff. »Danke«, sagte ich und lächelte sie verständnisvoll an, als ich wieder zurücktrat. »Aber bitte tu mir das nie wieder an.«
»Keine Sorge«, sagte Anya. Sie begann, an ihrem Ohrring zu zwirbeln. »Da ist noch etwas.«
Mein Lächeln verschwand.
»Ich hab dir nie erzählt, was Zinya mir vorhergesagt hat.«
Erwartungsvoll ließ ich die Schaufel sinken.
»Über meine Vergangenheit hat sie mir gesagt, dass ich mich immer wertlos gefühlt hätte, weil ich nie das Zeug zum Wächter hatte. Zu meiner Gegenwart meinte sie, dass ich gerade eine neue, seltene Begabung entwickelte, die ein Freund in mir erwecken würde.«
»Du bist ein Flüsterer«, murmelte ich.
Anya nickte, aber sie sah mich nicht an. Ihr Ausdruck wurde düster.
»Und deine Zukunft?«, fragte ich. »Was hat sie dazu gesagt?«
Anya zupfte an ihren Fingernägeln und mied meinen Blick. »Dass ich diesen Freund verlieren würde.«
Ich senkte das Schaufelblatt zu Boden und ihre Worte hingen zwischen uns in der Luft. Ich stand da wie eine Salzsäule, unfähig zu jeder Bewegung. »Hat sie mich gemeint?«
Anyas Lider senkten sich. »Ich hab sonst keine Freunde.«
»Aber das kann es nicht bedeuten«, sagte ich. »Zinya hat gemeint, ich würde am Ende meiner Suche das Leben und den Tod finden.« Und dann dämmerte es mir: Vielleicht würde ich sterben und Dante würde leben. »Vielleicht hat sie auch gemeint, dass ich einfach weggehe«, sagte ich. »Verlieren heißt ja nicht zwangsläufig sterben.«
Anya nickte. »Das stimmt. So ist es wahrscheinlich.«
Doch ich hörte sie kaum. »Warum hast du mir das nicht vorher erzählt?«
»Weil das Unglück bringt. Ich hab gehofft, dass es nicht wahr ist. Dass aus mir kein Flüsterer wird. Dass du die Hinweise zu den Rätseln nicht findest, oder die neunte Schwester. Aber all das ist eingetreten.«
Ich blinzelte.
»Renée!«, rief Noah aus dem Badezimmer. »Ich glaub, ich hab’s!«
Ich lugte über meine Schulter nach Noahs Beinen im Bad.
Anya fing meinen Blick ein. »Wenn Zinya gesehen hätte, dass du stirbst, dann hätte sie dir das gesagt. Stattdessen hat sie Leben und Tod gesagt. Sicher ist da noch gar nichts.«
Ich biss mir auf die Lippe. Schwer einzuschätzen, ob sie das wirklich glaubte oder mich nur aufmuntern wollte. Wie auch immer – jetzt blieb nur noch die Flucht nach vorn. Ich ließ die Schaufel fallen und eilte ins Badezimmer.
Noah stand vor dem Ganzkörperspiegel, der genau dort hing, wo in meinem Badezimmer die Tür zu Clementines Zimmer führte. »Ich glaub, das ist es«, erklärte er meinem Spiegelbild. »Fühl mal.«
Er führte meine Hand an ein winziges Loch in der Spiegelecke. Dann zog er Anyas Badschubladen auf und wühlte darin herum, bis er schließlich eine Pinzette hervorzog. »Such dir auch eine«, trug er mir auf, kniete sich vor den Spiegel und steckte die Pinzette ins Loch. Er drehte sie leicht nach links und sah grinsend zu mir hoch. »Es klappt. Er ist festgeschraubt.«
Während Noah sich am Rand des Spiegels entlangarbeitete, durchforstete ich die übrigen Schubladen.
»Unten links«, sagte Anya aus dem Türrahmen und ich ging ihre Toilettenartikel durch, bis ich eine zweite Pinzette gefunden hatte. Ich spähte in eines der Löcher und begann, den winzigen Bolzen darin aufzuschrauben.
Noah war bereits mit der vorletzten Schraube fertig und legte sie gerade in eine Seifenschale auf dem Waschbecken, als die letzte Schraube im Loch zu wackeln begann. Ich zog die Pinzette heraus und ein Stückchen Metall fiel durch meine Finger auf den Boden.
Der Spiegel begann zu beben.
Noah schnappte meinen Arm und zog mich an sich. Anya kreischte.
Und mit plötzlicher Wucht stürzte der Spiegel zu Boden und zersplitterte auf den Fliesen.
Als alles wieder ruhig war, kauerte Anya bei der Tür und hielt sich die Hände über den Kopf. Noah kniete neben mir und fragte, ob ich verletzt sei. Und wo eben noch der Spiegel gehangen hatte, war nun eine alte Holztür.
»Nichts passiert«, sagte ich und trat über die Scherben, die unter meinen Schuhen knirschten.
Die Tür war dunkelbraun, überzogen mit abblätterndem Lack und verstärkt mit dicken Beschlägen wie auf der Psychiatrie. In der Mitte hatte sich ein Holzwurm ausgetobt.
Ich rüttelte am losen Knauf. Die Tür wackelte in ihrem Rahmen, aber öffnen wollte sie sich nicht.
»Aus der Bahn«, sagte Noah und nahm Anlauf. Mit wild entschlossenem Gesichtsausdruck stürmte er auf die Tür zu, rammte sie mit der Schulter und brach auf die andere Seite durch.
Wir hörten einen lauten Knall und splitterndes Holz, und dann ein Stöhnen.
»Noah?«, rief ich in die Dunkelheit.
Lange Zeit blieb alles stumm. Anya spähte in den Raum hinein. Gerade wollte ich noch mal rufen, als Noahs Stimme von innen erschallte. »Ihr müsst hier reinkommen.«
Ich stolperte über die geborstenen Türreste hinein in ein finsteres, feuchtes Zimmer. Ein langes Lichtrechteck fiel aus dem Bad auf den Boden.
Hinter uns hielt Anya eine Taschenlampe hoch und leuchtete damit im Zimmer umher. In einer langen, fließenden Bewegung ließ sie das Licht über das Innere gleiten, als erforschten wir ein Wrack am Meeresgrund.
Die Fenster waren geschlossen und von einer dicken Schicht aus Staub und schmierigem Schmutz bedeckt. Überall im Zimmer waren Laken über Kerzenleuchter, Bücher- und Wäschestapel ausgebreitet. Das Mobiliar sah uralt aus. Der Sessel stand auf gekrümmten Löwenfüßchen, das Bücherregal war mit Glastüren verschlossen und den Schreibtisch schmückten wunderschöne Einlegearbeiten. Und das Bett – ein Traum von einem Bett, bedeckt mit Zierranken und scheinbar viel zu klein für einen Menschen dieses Jahrhunderts.
Alles war mit Rußflecken geschwärzt, sogar die Wände.
»Hier drinnen hat’s gebrannt«, sagte ich zu Noah und berührte die dunklen Muster an den Wänden. Der Staub biss mich in der Nase. »Das war das Feuer, in dem sie umgekommen ist. Deshalb war das Zimmer versiegelt.«
Ich blickte aus dem Fenster und versuchte mir vorzustellen, wie der Innenhof zu Ophelias Zeiten ausgesehen haben mochte.
Sie musste in meinem Alter gewesen sein, als sie starb. Wenn ich sie wäre und in dieses Zimmer zurückkehren würde, um eine Botschaft zu verstecken – was hätte ich mit ihr gemacht?
Anya hatte die Doppeltüren des Schranks geöffnet und Noah suchte die Wände ab, doch da waren sie auf dem Holzweg. Nie hätte ich eine Botschaft an einem Ort verborgen, wo sie einfach übermalt oder übertapeziert oder weggebrannt werden konnte.
Mit plötzlicher Gewissheit fuhr ich herum. Da, am anderen Ende des Zimmers, war ein massiv gemauerter offener Kamin. Aus dem Ziegelrot war im Feuer ein rauchiger Braunton geworden. Das musste der Brand gewesen sein, von dem Dustin mir damals erzählt hatte: der Grund für das Verbot offener Kamine an der Schule. Der Kamin war der einzige Teil des Raumes, der weder abgerissen noch sonst wie verändert werden würde, solange man nicht das ganze Gebäude abriss.
Ich kniete mich auf den Boden, warf den Mantel ab, krempelte die Ärmel hoch und langte tief in den Kamin. Innen war er ganz weich von Spinnweben und Asche, die ich rasch abwischte. Der Abzug war fest verschlossen und so tastete ich darunter herum, folgte den Ziegelfugen, bis ich etwas Kühles, Glattes spürte. Metall. Ich fuhr wieder darüber, diesmal ganz langsam und bewusst. Es waren Linien eingraviert. Ich war so geschockt, dass ich die Hand zurückzog und mich im Zimmer umsah. Anya und Noah waren noch damit beschäftigt, die Wand am anderen Ende des Raumes zu untersuchen. Als ich wieder hineinlangte, erwartete ich beinahe, dass das Metall verschwunden war, wie eine Ausgeburt meiner Fantasie. Doch stattdessen fühlte es sich noch echter an und unter meinen Fingerspitzen formten sich die Linien zu Buchstaben.
»Ich glaub, ich hab es gefunden«, sagte ich mit brechender Stimme. Aber niemand schien mich zu hören. »Ich hab es«, wiederholte ich energischer. Noah erstarrte, dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus.
»Gibst du mir mal die Taschenlampe?«, bat ich.
Er reichte sie mir und ich duckte mich in den Kamin hinein. Ein Staubregen ging auf mich nieder und unter Gehüstel hielt ich das Licht auf die Innenwand. Und da, säuberlich ins Metall geritzt, stand eine Botschaft.
Suchst du das Kleinod dieser Neun,
vom höchsten Rang zur tiefsten Pein,
schul dich an meines Kummers Macht;
Ich las sie mir dreimal laut vor, bis ich sie sicher auswendig konnte, und kletterte dann hinaus, um mir den Staub aus dem Haar zu schütteln. »Wir haben es.«
»Was soll das heißen, eurer Meinung nach?«, fragte ich, nachdem ich das vollständige Rätsel auf einen Zettel geschrieben und vor uns auf Anyas Zimmerteppich ausgebreitet hatte.
Suchst du das Kleinod dieser Neun,
vom höchsten Rang zur tiefsten Pein,
schul dich an meines Kummers Macht;
lass dich, um ihm nachzuspüren,
von des Bären Nase führen
hinab in feuchte Salzesnacht;
zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt,
denn nur dem Besten unsrer Art
sei es vermacht.
»Der erste Teil verrät gar nichts«, sagte ich und las alles noch einmal, obwohl ich jedes Wort längst auswendig konnte.
»Höchster Rang? Schul dich?«, fragte Noah und fuhr die zweite und dritte Verszeile entlang. »Das Versteck hat ganz klar was mit einer Schule zu tun.«
Ich überlegte. »Aber nicht mit dieser Schule. Ophelia hätte es ganz bestimmt nie am St. Clément versteckt. Sie versteckt doch nicht das Geheimnis am selben Ort wie den ersten Teil des Rätsels. Das würde ja total den Zweck verfehlen.«
Anya pflanzte sich zwischen uns und schob das Rätsel zur Seite. »Ihr geht das völlig falsch an. Ich glaube, die letzten Verse heißen, dass Ophelia diese Rätsel nur an eine ganz bestimmte Sorte Mensch gerichtet hat. Wahrscheinlich an jemanden wie sie. Höchster Rang.«
Noah und Anya drehten sich langsam zu mir um.
»Das Rätsel verrät uns nur die Hälfte«, fuhr sie fort. »Es sagt uns, dass das Geheimnis im Salzwasser liegt, bei einem Bären. Und dass es vielleicht mit einer Schule zusammenhängt. Aber das reicht noch nicht. Meiner Meinung nach müssen wir wie sie denken, um das Geheimnis zu finden.«
Ich schloss die Augen und stellte mir vor, ein so großes Geheimnis zu haben, dass niemand davon erfahren durfte. Das war nicht weiter schwer, ich brauchte nur an Dante zu denken. Wenn ich also die Geschichte unserer Beziehung aufschreiben und verstecken würde, wo würde das sein?
Wo wir uns zum ersten Mal gesehen hatten.
Ich schlug die Augen auf. »An ihrer Stelle hätte ich das Geheimnis dort verborgen, wo ich es zum ersten Mal eingesetzt hätte. Das würde vielleicht Glück bringen. Also lasst uns einfach mal sammeln, was wir wissen.« Ich blickte Anya ins Gesicht. »Ophelia Hart ist hier gestorben, bei einem Brand, in ihrem Wohnheimzimmer am St. Clément. Sie kam ins Royal Victoria und ist dort als Untote wiederauferstanden.«
Noah schob sich gedankenverloren die Brille höher auf die Nase. »Dann hat ihr Arzt sie zu diesem Krankenhaus in den amerikanischen Kolonien mitgenommen.«
»Ans Gottfried«, ergänzte ich nachdenklich. »Und dort hat sie es irgendwie geschafft, von der Patientin zur Krankenschwester und dann zur Rektorin aufzusteigen. Aber als Untote wäre ihr gar nicht genug Zeit geblieben, um auch nur eines davon zu werden. Die haben ja nur einundzwanzig Jahre, um ihre Seele zu finden.« Die Verse auf dem Zettel verschwammen vor meinen Augen ebenso wie die Zeittafel in meinem Kopf. Die Erkenntnis traf mich, bevor ich sie in Worte fassen konnte, und ich gab ein seltsames Quietschen von mir, das Noah und Anya schlagartig verstummen ließ. Ich starrte sie an wie ein Ölgötze. »Was, wenn sie das Geheimnis dort verwendet hat?«
Noah führte nachdenklich einen Finger an die Lippen. »Gibt’s da nicht auch einen See?«
»Einen Salzsee«, murmelte ich und mochte es kaum begreifen. »Und darüber blickt die Statue des großen Bären.«
»Der Bär«, hauchte Anya ehrfürchtig.
»Genau!«, sagte ich mit rasendem Puls, als mir klar wurde, dass der Weg zu meiner Seele, zu Dantes Seele, die ganze Zeit am Gottfried gewartet hatte.
Noah lächelte mich leise an. »Also, wann ist Abfahrt?«