Ein Grabstein ohne Namen

 
 

Es regnete die ganzen nächsten Wochen hindurch und der September verschwamm unmerklich mit dem Oktober. Ich hätte mich über meine Entdeckung im Krankenhaus freuen sollen, aber ich fühlte mich einfach nur stumpf und trübsinnig. Ohne Dante schien die Zeit um mich zum Erliegen zu kommen; die Morgen waren ebenso wolkenverhangen und düster wie die Abende, als könnte sich die Sonne nicht zum Aufgehen entschließen. Selbst der Wind war verschwunden: Die Welt schien mit mir den Atem anzuhalten und auf seine Rückkehr zu harren.

Anya und ich verbrachten die ersten Oktobertage in der Bibliothek und versuchten, das Rätsel zu knacken. Immer wieder schlug ich das Kanarienwappen nach, glich die Fotos in den Büchern mit meinem Durchrieb ab, nur um ganz sicher zu sein. So grobkörnig der Grafit auch war, die Gemeinsamkeiten waren nicht zu übersehen. Es war dasselbe Wappen. Da bekam ich zum ersten Mal das prickelnde Gefühl, vielleicht doch auf der richtigen Spur zu sein: Das Geheimnis der Neun Schwestern war nicht tot. Es schlummerte verborgen in einem Rätsel.

Aber was sollte es bedeuten? Ich hatte schon alle Register nach Meeren, Bären, Nasen oder irgendwelchen Kombinationen davon abgesucht, doch die Ergebnisse waren so vage, dass sich daraus rein gar nichts schließen ließ. Je öfter ich mir den Durchrieb vornahm, desto sicherer war ich, dass die Zeilen nur Bruchstücke eines größeren Rätsels darstellten. Und um sie zu entschlüsseln, musste ich die anderen Teile finden.

»Aber wie?«, fragte Anya und klimperte mit ihren Armbändern. Wir waren auf dem Weg zu »Strategie und Prognose«, ein Fach, das auch außerhalb des Schulgeländes unterrichtet wurde.

»Vielleicht sehe ich es ja noch in einer Vision«, sagte ich. »So wie zuletzt.«

Neben dem Pförtnerhäuschen parkte ein dunkelgrüner Bus, dessen Heckklappe ganz diskret das Wappen von St. Clément trug.

Rektor LaGuerre kam in einem hellbraunen Anzug den Weg hinabgeschlendert. Als er uns sah, lächelte er und angelte in seinen Taschen nach dem Autoschlüssel.

Ich setzte mich in die letzte Reihe, zwischen Anya und einen Jungen mit sommersprossigem Mondgesicht, der Harrison hieß. Vor mir saßen Noah und Clementine; ihre Köpfe tanzten im Rhythmus des Kopfsteinpflasters, als wir zum alten Hafen hinunterrollten. Ich beobachtete, wie sie mit seinen Locken herumspielte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Er lachte und ich musste den Blick abwenden, um mir nicht einzugestehen, dass sich irgendwo in mir die Eifersucht meldete.

»Wie Sie wahrscheinlich schon bei Ihrem Einstufungstest gemerkt haben, sind einige tote Tiere leichter zu erspüren als andere«, sagte Rektor LaGuerre und warf uns über den Rückspiegel einen Blick zu. »Die Wächter verwenden dafür den französischen Ausdruck force majeure oder höhere Gewalt, größere Kraft. Manche tote Tiere haben stärkere Kraft als andere, wodurch wir sie leichter orten können.

Zum Beispiel ist, abgesehen vom Menschen, die Katze das Lebewesen mit der schwersten Seele und daher auch das mit der größten Kraft. Deshalb ist sie auch unser Schulmaskottchen. Die Katze ist einem Wächter gar nicht unähnlich, denn sie kann den Tod genauso erspüren wie wir.«

Ich musste an Rektorin van Laarks Siamkatzen denken, die immer ihre Krallen an Dante und Gideon gewetzt hatten.

»Auch bei uns Menschen finden sich diese Kraftabstufungen. Das Merkmal eines hellsichtigen Wächters ist es, diese Gewichtsunterschiede zu erkennen. Der Tod ist überall. Um unserer Aufgabe nachzukommen, müssen wir fähig sein, zwischen toten Tieren, toten Menschen und den Untoten zu unterscheiden. Und danach müssen wir unter den Untoten die Gefährlichen ausmachen und die zur Ruhe bringen.«

»Und wer hat uns zu dieser Aufgabe bestimmt?«, fragte ich, in Gedanken bei Dante. »Warum dürfen wir entscheiden, wer lebt und wer stirbt?«

Als ich das sagte, fühlte ich ein Augenpaar auf mir. Clementine, dachte ich. Doch als ich aufblickte, sah ich Noah ins Gesicht.

Der Rektor nickte nachdenklich. »Weil die Welt ohne Ordnung zum Untergang verdammt ist. Wir sind die Einzigen mit der Fähigkeit, die Untoten zu erspüren. Gerecht ist das wohl nicht, aber es ist nicht unsere Aufgabe, die Rätsel der Natur zu lösen.«

Der Bus fuhr weiter den Sankt-Lorenz-Strom entlang bis zu einem heruntergekommenen Industriegebiet Montreals. Rektor LaGuerre warf einen Blick über die Schulter, als er durchs Hafengebiet kurvte. »Aber Wasser«, sagte er. »Wasser macht die Sache schwierig.«

Wir folgten dem Rektor aus dem Bus und gingen hinunter zum Dock. Riesige, fensterlose Fabrikhallen säumten das Ufer und spuckten unablässig schwarze Dunstwolken in die Luft. Rostende Rohre und zerfressene Stahlträger ragten aus dem Fluss wie die Überbleibsel eines versunkenen Waldes. Das Aroma von Salz und Abwasserkanälen hing in der Luft und zum ersten Mal war ich froh, dass mein Geruchssinn so gelitten hatte.

»Es ist unglaublich schwer, ein totes Lebewesen zu erspüren, wenn es von Wasser umgeben ist«, erklärte der Rektor und blieb am Ende des Docks stehen. Hinter ihm tanzten zahlreiche Ruderboote auf den Wellen. »Und je tiefer das Wasser, desto größer die Herausforderung. Und genau deshalb sind wir hier. Um an unserer Intuition zu arbeiten.«

Mir schauderte, während ich das Treibgut am Flussufer betrachtete: Bierdosen, leere Plastikverpackungen und Zigarettenstummel.

»Hier laden die Leute ab, was nicht gefunden werden soll. Waffen, Kleider, Leichen … Der Tod wohnt oft an unbequemen Orten und als Wächter dieser Welt werden Orte wie diese zu Ihrem Arbeitsplatz werden. Viele der Fälle, mit denen Sie in Berührung kommen werden, betreffen ertrunkene Kinder – und nach dem Cartesischen Eid werden Sie sie finden und begraben müssen, bevor sie an die Oberfläche kommen und auferstehen.«

Der Geräuschpegel unter den Schülern schwoll an.

Rektor LaGuerre blickte auf das trübe Wasser hinaus. »Da draußen habe ich ein totes Tier versteckt«, sagte er. »Ihre Aufgabe wird es sein, es zu finden, zu identifizieren und, wenn möglich, seine Tiefe zu bestimmen.«

Jeder suchte sich einen Partner. Noahs war Clementine. Ich arbeitete mit Anya, die auf wackligen Plateauschuhen ins Ruderboot kletterte.

Nachdem ich mich hineingesetzt hatte, reichte sie mir die Ruder. »Du ruderst«, sagte sie. »Ich sag dir die Richtung.«

»Warum bestimmst du die Richtung?«, fragte ich.

»Weil ich schwache Arme habe«, sagte sie. »Sport ist nichts für mich.«

»Aber ich bin besser darin, die Toten zu finden.«

Sie schien von meiner Bemerkung beleidigt, schluckte es aber rasch runter. »Ein Grund mehr für mich zu üben.«

»Okay.«

»Okay.«

Wir ruderten los, während der Rektor an der Anlegestelle stand und uns Tipps zum Erspüren der Toten unter Wasser nachrief. Ich versuchte zuzuhören, doch Anya wechselte immer wieder die Richtung. »Mehr nach links. Nein, jetzt nach rechts. ’tschuldigung, ach egal, wieder zurück nach links.«

Frustriert drehte ich mich um. »Kannst du dich nicht einfach für eine Richtung entscheiden und dann dabei bleiben?« Am Rand nahm ich wahr, wie Noah eines seiner Ruder sinken ließ.

Anya deutete nach links. »Mehr da entlang.«

»Das ist falsch«, sagte ich. »Das fühle ich.«

»Ich auch«, sagte Anya. »Nur weil du die Rangerste bist, heißt das noch lange nicht, dass du partout recht haben musst.«

»Aber diesmal schon«, beharrte ich, doch ein lautes Platschen lenkte mich ab.

Clementine und Noah waren knapp hinter uns; ihr Boot schwankte: Noah hatte ein Netz aus dem Fluss gefischt und alberte vor Clementine damit herum.

»Hör auf!« Lachend bedeckte Clementine den Kopf mit den Händen. »Du kippst das ganze Boot.«

Platschend fiel das Ruder in den Fluss und spritzte ihr Wasser in die Augen. Kreischend zuckte sie zusammen.

»Okay!« Sie fuhr sich über das Gesicht. »Zurück an die Arbeit.«

»Du arbeitest zu viel«, sagte Noah und schüttelte sich das Wasser von den Händen.

»Alle suchen schon nach dem Vieh, wir werden noch die Letzten.«

»Ach, komm schon«, sagte Noah. »Das ist Unterricht, sonst nichts. Außerdem, wie schwer kann das schon sein?«

Clementine richtete sich die Haarspange. »Alles, was sich lohnt, ist schwer«, sagte sie und schnappte sich ein Ruder.

Noah seufzte und ließ seinen Blick über den Fluss gleiten, während sie zurückruderte. Ich spürte, wie seine Augen an mir hängen blieben.

Clementine musste ihn beim Starren erwischt haben, denn ihr Mund verzog sich. Ich sah schnell weg und flüchtete unter Anyas Anweisungen im Zickzack, bis wir so nahe beim Rektor gelandet waren, dass wir sein Gespräch mit einem anderen Boot weiter vorn mithören konnten.

»Stopp«, sagte Anya. »Ich glaube, es ist genau unter uns.«

Ich spürte gar nichts und wusste, dass sie falschlag. Aber ich ließ mir nichts anmerken. Ich legte die Ruder ab, beugte mich nach vorn und starrte ins Wasser hinab, wo ich das Spiegelbild des neben zwei Mädchen entlangrudernden Rektors sehen konnte.

Ich beobachtete seine Lippenbewegungen. »Der Tradition nach werden Wächter auf See bestattet – dort können ihre Leichen nicht gefunden werden, noch nicht mal von ihren Wächterkollegen. Nur wenige Wächter wünschen sich eine Erdbestattung. Die werden dann in der Wächterabteilung des Friedhofs Mont-Royal beigesetzt.«

Friedhof Mont-Royal. Ich betrachtete das gespiegelte Gesicht des Rektors. Plötzlich fühlte ich mich ausgelaugt und elend, als hätte ich nach etwas gesucht, es jedoch nicht gefunden.

Friedhof Mont-Royal. Mir war schwummerig. Ich hasste mich. Hasste es, versagt zu haben.

Erst kam der Würg-, dann der Hustenreiz. Wie in Zeitlupe spürte ich, dass ich vornüberkippte. Ein Platschen. Und dann wurde alles kalt.

Als ich wieder auftauchte, war ich trocken und stand inmitten einer Baumgruppe am Berghang. In einer Hand hielt ich eine Taschenlampe. Die Stadt unter mir war nur noch ein Gewirr winziger Lichterketten und dahinter konnte ich den Sankt-Lorenz-Strom sehen, seine mondlichtglitzernden Wellen.

Ich marschierte los. Ein paar Hundert Meter weiter gab es einen von Straßenlaternen beleuchteten Pfad für Jogger, der sich den Berg hinaufwand. Ich mied ihn. Ich wollte nicht gesehen werden und schlängelte mich zwischen den Bäumen durch, bis ich auf der anderen Seite des Bergs Mont Royal angekommen war.

Zwei Jugendliche standen bei einem Trinkbrunnen und hielten Händchen. Gegen meinen Willen hielt ich an und sah ihnen zu, wie sie miteinander flüsterten und lachten. Sie schienen so sorglos, als wäre Zeit für sie nur ein Wort. Der Junge spielte mit dem Haar des Mädchens, berührte ihren Hals und ich lehnte mich gegen einen Baumstamm ganz in ihrer Nähe. Meine Augen waren so trocken, dass es wehtat. Als das Mädchen sich vorbeugte, um dem Jungen einen zarten Kuss aufzuhauchen, musste ich wegschauen.

Da verriet mich das laute Knacken eines Asts, das sich in die Stille schnitt. Das Pärchen erstarrte und drehte sich in meine Richtung. Auf keinen Fall durften sie mich sehen; ich ging in die Hocke und schloss die Augen. Ich wollte nicht über mich selbst nachdenken, darüber, dass ich hier war und in ihre Intimsphäre eindrang. Langsam zog ich mich ins Gehölz zurück, und als ich außer Sichtweite war, rannte ich auf der anderen Bergflanke wieder abwärts. So sehr ich es mir auch anders wünschen mochte: Immer würde ich diejenige bleiben, die zwischen den Bäumen versteckt zum Zuschauen verdammt war, denn das, was sie hatten, würde ich nie besitzen.

Als ich auf der anderen Seite des Mont Royal herabstieg, fand ich mich vor den hohen schwarzen Toren eines Friedhofs wieder. Der bloße Anblick der schmiedeeisernen Ranken entspannte mich. Als ich hineinschlüpfte, schien die Luft ganz ruhig und leise zu werden, die Motorengeräusche der Straße sich im Nichts aufzulösen.

Ich drehte meine Taschenlampe auf. Der Friedhof hatte überwältigende Ausmaße; ein Ende der Grabsteinreihen war gar nicht erkennbar. Eingeschüchtert steuerte ich einen Plan an, der so kompliziert und verzweigt aussah wie ein Nervensystem. Ich überflog das Verzeichnis, fand den gesuchten Abschnitt und legte meinen Finger darauf, bevor ich den Weg von meinem Standpunkt bis zu dem winzigen Areal im hinteren Geländebereich nachspurte.

Ich brach auf. Der Himmel war so weit, dass es sich anfühlte wie auf dem offenen Meer. Als ich an eine kleine, von einer eisernen Kette umgebene Rasenfläche kam, wusste ich, dass ich mein Ziel erreicht hatte. Die Grabsteine hier waren kleiner als die, an denen ich vorbeigekommen war, und weitaus weniger aufwendig – meist einfach nur rechteckige, überwucherte Steine.

Ich sprang über die Kette und richtete den Lichtkegel auf jeden einzelnen Grabstein, um die Inschriften zu entziffern. Es mochten gerade zwei Dutzend sein und alle waren sie knapp, nur Namen und Lebensdaten, die die letzten zweihundert Jahre abdeckten. Keiner der Namen kam mir bekannt vor und ich spürte, wie Ungeduld in mir hochstieg.

Als ich mich dem letzten Stein näherte, stieg Panik in mir hoch. Es musste hier sein. Gerade als ich mich umdrehte, stieß mein Fuß gegen etwas Hartes; ich stolperte und landete im Gras. Der steinige Erdboden stach mir in die Handflächen und ich konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Gerade wollte ich mich aufrappeln, als ich den Grabstein entdeckte, der mir den Weg verstellt hatte.

Er ragte kaum über den Boden hinaus, war flach und so bewachsen, dass ich ihn anders gar nicht bemerkt hätte. Hingekauert fegte ich das Unkraut beiseite und leuchtete auf die Oberfläche. Kein Name, kein Datum. Nur das Wort SŒUR und die folgende Inschrift:

 

zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt,

denn nur dem Besten unsrer Art

sei es vermacht.

 

Unter die Worte war das Wappenbild eines Vögelchens gemeißelt.

Wieder las ich die Inschrift und blieb an der ersten Zeile hängen. Ich spürte, wie mir das Herz zum Hals schlug, unregelmäßig, hastig, wie das Gepolter, mit dem jemand die Treppe hinunterfällt. Ich musste eine Schaufel finden.

Auf dem Hinweg war ich an einem Arbeitsfahrzeug mit offener Ladefläche vorbeigekommen. Möglich, dass es darauf eine Schaufel gab. Ich erhob mich und ging den gleichen Weg zurück.

Der kleine Laster war nicht weit. Daneben standen die verschiedensten Mülltonnen sowie eine Mistgabel, ein Rechen und ein Spaten.

Ich zögerte, bevor ich den Spatengriff berührte. Ich verabscheute ihn. Ich wollte ihn nicht anfassen. Doch heute Nacht blieb mir keine Wahl. Das Holz war rau, abgesplittert, und ich fuhr mit der Hand daran entlang, machte mich mit dem Gefühl vertraut. Dann legte ich mir den Spaten über die Schulter und trug ihn zurück zum namenlosen Grabstein.

 

zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt,

 

Ich war ganz auf diese Worte konzentriert, als ich den Spaten tief in die Erde rammte und zu graben begann. Der Mond senkte sich tiefer am Nachthimmel. Ich wischte mir die Stirn und trat einen Schritt zurück, um mein Werk in Augenschein zu nehmen. Das Loch war jetzt ein paar Fuß tief. Wollte ich tiefer graben, würde ich selbst hineinsteigen müssen.

Ich begann, ums Loch herumzustreifen. Probieren konnte ich es. Einen Fuß hineinstecken und sehen, was passierte. Es war ja noch nicht mal ansatzweise sechs Fuß tief, wo die Sache langsam gefährlich wurde … Langsam senkte ich einen Fuß ins Loch. Als er unter der Erdoberfläche verschwand, schoss ein Kribbeln durch meinen Körper. Rasch verschärfte es sich zu einem Stechen. Meine Zehen krümmten sich in den Schuhen und die Muskeln krampften, bevor sie jedes Gefühl verloren. Rasch zog ich das Bein heraus und brach auf dem Gras zusammen. Es ging nicht. Unmöglich. Mein Körper erlaubte es mir nicht, ins Loch zu steigen. Mein Blick jagte auf dem Friedhof hin und her, auf der Suche nach irgendeiner anderen Möglichkeit. Alles umsonst. Warum hatte ich das nicht vorhergesehen? Warum traf es mich so unvorbereitet? Mein Griff um den Spaten lockerte sich und leise fiel er neben mir zu Boden.

 

Als ich erwachte, fand ich mich zwischen den mahagonigetäfelten Bürowänden von Dr. Neuhaus wieder. Ich lag auf dem Sofa, in eine kratzige Wolldecke gewickelt. Ich rieb mir die Augen, warf die Decke ab und richtete mich auf. Meine Haare waren immer noch feucht vom Flusswasser.

Dr. Neuhaus stand am anderen Ende des Raumes, mit dem Rücken zu mir, und blickte aus dem Fenster. Als er mich hörte, wandte er sich um. Über Hemd und Krawatte trug er eine kastanienbraune Weste.

»Miss Winters«, sagte er und legte die Fingerspitzen aufeinander. »Zurück aus der Unterwelt. Wie fühlen Sie sich?«

»Etwas erledigt.«

Bevor ich wusste, wie mir geschah, hatte ich schon ein Fieberthermometer im Mund, eine Blutdruckmanschette am Arm und das kalte Stethoskop auf meinem Rücken.

»Immer noch unregelmäßig«, sagte der Arzt, als er meinen Herzschlag mit seiner Armbanduhr abzählte. »Aber ansonsten scheint alles normal.« Mit knackenden Kniegelenken erhob er sich und holte mir ein Handtuch aus einem Vorratsschrank. »Was soll ich nur mit Ihnen anfangen?«

Ich bedankte mich und trocknete mir das Gesicht ab. Dr. Neuhaus zog sich die Brille von der Nase. »Können Sie mir schildern, was genau geschehen ist?«

Ich berichtete ihm von Strategie und Prognose, von dem Boot und davon, wie ich ohnmächtig geworden und ins Wasser gestürzt war, als der Rektor den Friedhof Mont-Royal erwähnt hatte.

»Können Sie sich danach noch an irgendwas erinnern?«

»Ich hatte wieder eine Vision«, sagte ich. »Ich habe bei irgendeinem Grab geschaufelt, aber mittendrin aufgehört.«

Dr. Neuhaus’ Augen wurden schmal. »Wessen Grab war denn das?«

SŒUR, dachte ich, doch ich antwortete: »Es stand kein Name drauf.«

Er grunzte. »Anscheinend werden Ihre Visionen von visueller oder akustischer Stimulation ausgelöst. Ein Foto, eine bestimmte sprachliche Wendung …«

Ich sagte nichts. Da lag er schon teilweise richtig, aber ich wusste, dass mehr dran war. Es war ein Gefühl, ein starkes Gefühl der Angst, des Grauens, des Hasses, der Enttäuschung.

»Konnten Sie irgendeine weitere Verbindung entdecken zwischen dieser Vision und der von neulich?«

Ich zögerte. Da wäre der zweite Teil des Rätsels, über den ich mich eigentlich hätte freuen sollen. Doch etwas anderes nahm meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Warum hatte ich nicht ins Loch springen können? Warum hatte mein Fuß so seltsam reagiert? Warum hatte ich den Spaten nicht berühren wollen?

»Renée?«, fragte Dr. Neuhaus und suchte meinen Blick. »Irgendwelche Verbindungen zwischen Ihren Visionen?«

»Äh – nein«, antwortete ich mit schlagartig ausgedörrtem Mund. Nur aus einem einzigen Grund hätte ich nicht ins Loch springen können: wenn ich untot gewesen wäre. Aber ich war nicht untot. Ich konnte unter die Erde gehen, ich war in den Tunneln von Montreal gewesen.

Der Doktor notierte sich irgendetwas auf seinem Block und ich fragte mich, was.

»Haben Sie die Medikamente genommen, die ich Ihnen verschrieben habe?«

Ich blickte auf den Teppich und brachte seine Fransen mit meiner Zehe in Reih und Glied. »Nein.«

»Warum nicht?«, fragte er mit missbilligendem Unterton.

»Hab ich – vergessen.«

»Verstehe. Nun ja, ich rate Ihnen immer noch sehr zur Einnahme.« Dr. Neuhaus verschränkte die Arme. »Haben Sie über mein Angebot nachgedacht?«

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, worauf er hinauswollte.

»Mich regelmäßig aufzusuchen.«

»Ach, äh, nein danke. Ich glaube, jetzt geht’s mir besser.«

Dr. Neuhaus schien nicht im Mindesten überzeugt, doch er ging nicht weiter darauf ein. »Bitte sehr, das ist Ihre Entscheidung. Aber legen Sie den Gedanken nicht zu den Akten.« Er stand auf und fuhr fort. »Nun, dann will ich mal Ihren jungen Mann nicht weiter warten lassen. Er hat ziemlich viel Geduld bewiesen.«

Ich erstarrte. »Junger Mann?«

Der Arzt nickte und begleitete mich zur Tür. »Er wartet draußen auf Sie.«

Dante. Wie konnte er hier am St. Clément sein? Das war zu gefährlich. Auf einmal wurde mir bewusst, dass mein Haar nass war und meine Kleider wahrscheinlich genauso rochen wie der Fluss. Ich warf mir meine Tasche über die Schulter, bedankte mich bei Dr. Neuhaus und schlüpfte aus der Tür.

Doch als ich auf den Flur trat, war es nicht Dante, der da auf der Bank saß und las.

»Noah?«

Ich musste ihn erschreckt haben, denn er fuhr zusammen und ließ sein Buch fallen.

»Renée«, sagte er und musterte mich durch seine Brille. »Lautlos wie eine Katze.«

Lächelnd bückte ich mich und hob sein Buch auf. Auf den Seiten schlugen sich farbenfrohe Helden und Schurken die Köpfe ein. Ganz auf Französisch.

»Comics?«, musste ich grinsen und reichte es ihm zurück.

»Höre ich da eine gewisse Verachtung heraus?«, fragte er.

Ich lachte. »Worum geht’s?«

»Superhelden, die in den Napoleonischen Kriegen mitkämpfen. Aber eigentlich geht’s um viel mehr. Das Leben, den Tod, Gewalt, Liebe, Unsterblichkeit. Die Bedeutung unserer Existenz auf Erden.« Sein Tonfall war ernst, doch in seinen Augen tanzte der Schalk. »Wär sicher was für dich.«

»Warum glaubst du das?«

»Hast du nicht auch Superkräfte?«

Ich zuckte die Achseln. »Tja, aber bei Französisch setzt’s bei mir aus. So viel also dazu.«

»Und damit wäre ihr wunder Punkt endlich enthüllt«, scherzte er und stand auf.

»Warst du die ganze Zeit hier?«

Er zuckte abwehrend die Schultern. »Ich wollte nur sichergehen, dass alles in Ordnung ist.«

Ich zupfte an einem Schlammbröckchen, das an meiner Bluse klebte. Diesen peinlichen Vorfall wollte ich lieber komplett aus meinem Gedächtnis streichen. »Danke.«

Es war schon Abend, als wir das Gebäude verließen und über den Hof zu den Wohnheimen marschierten. Gerade wollte ich Noah noch mal danken und zu meinem Zimmer hochgehen, da wandte er sich mir zu.

»Hey«, sagte er, »hast du Hunger? Ich kenn einen wirklich guten französischen Imbiss.«

»Was ist mit Clementine?«

Noahs Miene fiel leicht in sich zusammen. »Oh, ich glaub, sie hat heute Abend zu tun. Aber das macht ihr sicher nichts aus.«

Ich konnte nicht anders, ich musste einfach lachen. Natürlich würde es ihr etwas ausmachen.

Noah fand das allerdings weniger komisch. »Was ist daran so lustig?«

»Nichts«, murmelte ich.

»Also, was meinst du?« Er legte seinen Kopf schief, um meinen Blick einzufangen. »Wenn du kein französisches Essen magst, können wir auch woanders hingehen.«

Ich kaute auf meiner Lippe und merkte, wie mich das schlechte Gewissen einholte. »Ich kann nicht.«

Noah trat einen Schritt zurück. »Oh, okay.«

»Tut mir leid. Ich hab einfach –«

»Nein, schon okay. Du musst dich nicht rechtfertigen.«

Ich nickte dankbar und wollte mich gerade wegdrehen, als er sagte: »Wegen eines Jungen, oder?«

»Bitte?«

»Ich erkenn’s an deinem Gesichtsausdruck.«

Ich schob mir die Ponyfransen aus dem Gesicht. »Keine Ahnung, wovon du redest.«

»Ich wusste, dass du das sagen würdest«, zwinkerte er mir zu. »Aber fragen kostet ja nichts.«

Er hielt mir die Tür auf und mit einem letzten Winken schlüpfte ich hinein. Im Flur kam ich an Clementine vorbei und hörte, wie sie sich bei einer ihrer Freundinnen nach deren Abendessenplänen erkundigte. Ich musste ein bisschen zu offensichtlich herumgetrödelt haben, denn Clementine warf mir einen vernichtenden Blick zu und fragte mich, was es zu glotzen gebe. Ohne zu antworten, drückte ich mich an ihnen vorbei. Warum hatte Noah mir weismachen wollen, dass Clementine heute Abend schon verplant war?

Auf meinem Zimmer duschte ich mir das Flusswasser aus den Haaren, durchwühlte meinen Kleiderschrank nach trockenen Klamotten und machte mich auf den Weg. Ich schlich mich am Schultor vorbei durch die Stadt, bis ich den langen, gewundenen Pfad erreicht hatte, der mich an den Fuß des Mont Royal brachte. Ich wickelte mich fester in meinen Mantel und begann den Aufstieg, vorbei an der Stelle, wo ich den Jungen und das Mädchen am Brunnen beim Küssen beobachtet hatte. Ich sah noch genau vor mir, wie sie sich gehalten und dann geküsst hatten, als hätte es sie plötzlich überwältigt.

Gerade wollte ich weitergehen, als ich hinter mir Blättergeraschel hörte. Ich erstarrte. Ein Stein kam den Hügel herabgepurzelt. Einen Moment lang dachte ich, es wäre schon wieder das Pärchen, doch ich sah nur eine Motte, die an einer Laterne flatterte. Ansonsten blieb alles ruhig.

Ich ging weiter, bis ich mich an den verschlungenen Gittertoren des Friedhofs Mont-Royal wiederfand. Ich blieb davor stehen und ließ die Hand über die kalten Stäbe gleiten. Dahinter lagen die geschwungenen Reihen der Grabsteine, die sich nach hinten erstreckten, so weit der Blick reichte. Müde Laternen erhellten den Pfad.

Auf meinen Druck hin öffnete sich das quietschende Tor gerade weit genug, dass ich mich hindurchzwängen konnte. Innen war der Friedhof genauso wie in meiner Vision.

Das Gras war voller Raureif und wirkte wie an Ort und Stelle festgefroren, doch als ich es betrat, schien sich plötzlich einer der Grabsteine zu bewegen.

Ich japste und suchte den Schutz eines Baumes, als das Eis an meinen Füßen und Beinen zu kristallisieren begann. Dante war hier.

Er stand neben einem schwarzen Marmorgrabmal, das die Form einer griechischen Säule hatte. Das einzig Erkennbare waren die Kanten seines Gesichts, die sich elfenbeinfarben von den Schatten abhoben wie die Flächen einer Statue.

»Renée?« War es der Wind, der seine Stimme verzerrte? Als er meinen Namen rief, wusste ich, dass er von meinem Anblick ebenso überrascht war wie ich von seinem.

Bevor unsere Arme sich fanden, zögerte ich. Es war so merkwürdig, ihn hier zu finden, unmittelbar nach meiner Vision.

»Ist alles okay?« Er sah mich eindringlich an.

»Du hast mich erschreckt«, sagte ich.

»Ich war mir nicht sicher, ob du kommst. Dieser Friedhof ist so weit weg vom St. Clément, ich hab schon befürchtet, dass du mich nicht wahrnimmst. Aber du hast es getan.«

Ich nickte, als er seine Arme um mich schlang, bis nichts mehr zwischen uns passte. Meine Visionen konnten nicht die seinen gewesen sein, dachte ich und vergrub mein Gesicht in seiner Brust. Jetzt fühlte sich alles richtig an, dort, wo es hingehörte. Nur, dass ich ihn nicht erspürt hatte. Ich war zu sehr auf den Friedhof konzentriert gewesen, um seine Anwesenheit zu bemerken.

Dante löste sich aus der Umarmung, trat einen Schritt zurück und musterte mich aus dunklen, wie wolkenverhangenen Augen. Vielleicht war es meine eigene Nervosität oder die Tatsache, dass wir uns auf einem Friedhof befanden, oder die Tatsache, dass er niemals blinzelte, aber irgendetwas an seinem Starren fühlte sich falsch an. Ich versuchte, auf ihn zuzugehen, doch er hielt mich zurück.

»Lass mich schauen«, sagte er leise. »Bitte.«

Meine Stimme brach. »Was schauen?«

Seine Antwort ließ lange auf sich warten. »Manchmal hab ich Angst, dass ich es vergesse.«

Neben uns landete eine Krähe auf einem Grabstein. Durch meinen offenen Mantel pfiff eine eisige Brise unter meine Kleider, aber das war mir egal. »Was vergessen?«

Dantes Augen glitten an mir auf und ab, doch sein Geist schien weit weg zu sein.

»Was vergessen?«, wiederholte ich, während Panik in mir aufstieg. »Mich? Uns?«

Er rückte ein bisschen näher an mich heran. »Nein, nicht uns. Aber das hier. Das Gefühl, mit dir zusammen zu sein.«

»Warum solltest du das vergessen?«, fragte ich mit wachsendem Unbehagen.

Er ließ seine Hand auf meinen Arm fallen, was mir einen Schauer über die Haut jagte. »Ich weiß es nicht.«

Was redete er da? Ich berührte einen der Grabsteine neben uns. Der Marmor war kalt, schwarz. »Warum hast du ausgerechnet diesen Friedhof ausgesucht?«

Dante sah sich kurz um. »Er ist der größte von Montreal. Ich dachte, hier ist es am sichersten.«

»Warst du vorher schon mal hier?«

Dantes Lider zuckten. »Nein.«

Ich glaubte ihm. Er hatte es verdient, dass ich ihm vertraute, obwohl irgendetwas an seiner ausweichenden Art mich misstrauisch machte. »Gibt’s auf diesem Friedhof nicht einen Bereich, in dem Wächter begraben sind?«

»Wächter?« So sehr er seine Anspannung zu verbergen suchte, ich spürte sie sehr wohl. »Ich weiß es nicht.«

»Ich hab nur gedacht, dass hier vielleicht die Neun Schwestern begraben liegen könnten. Ich weiß, dass du nicht so recht dran glaubst, aber nachschauen schadet ja nichts.«

Dante zögerte. »Wär das nicht ein bisschen einfach?«

»Ich will ja nur nachschauen«, beharrte ich. »Begleitest du mich?«

In der Ferne passierte ein Auto das Friedhofstor; seine Scheinwerfer glitten über die Grabsteine. Dante nahm meine Hand und ließ sie in seine Manteltasche gleiten.

Gemeinsam spazierten wir zur Weggabelung und blieben beim Plan stehen – demselben, den ich in meiner Vision gesehen hatte. Ohne sich mit Suchen aufzuhalten, legte Dante seinen Finger auf das kleine grüne Gebiet am Ende des Geländes. »Hier ist es.«

Ich wurde stocksteif. »Woher weißt du, dass das der richtige Abschnitt ist?«

»Weil es hier steht.«

Er deutete auf eine winzige Zeile im Gräberverzeichnis, in der Gründer stand. Ich nahm an, dass damit die Gründer von Montreal gemeint waren.

Als wir im Laternenlicht zum hinteren Bereich des Friedhofs gingen, beobachtete ich, wie die Schatten sein Gesicht veränderten, es verdunkelten und verzerrten, bis er mir richtig fremd war.

»Was ist?« Dante wirkte verwirrt.

»Nichts«, antwortete ich schnell und sah stur geradeaus, bis ich vor demselben kreisförmigen Fleckchen Erde stand, das ich am Vormittag schon gesehen hatte. Kahle Bäume umrahmten es; eine Kette trennte es vom Pfad.

Dante hielt an und ließ den Blick suchend über das gefrorene Gestrüpp zu unseren Füßen gleiten. »Hier irgendwo müssen sie sein«, sagte er. Hinter uns lag derselbe enge Gang, den ich in meiner Vision entlanggeschritten war. Ich wartete darauf, dass Dante mich diese Grabsteinreihe hinunterführte, doch er zog mich in die gegenüberliegende Richtung. »Hier lang vielleicht?«, schlug er vor und beugte sich im Weitergehen prüfend zu den Grabsteinen hinab.

Ich seufzte auf vor Erleichterung. Er war das erste Mal hier. Das alles waren nur Hirngespinste. Ich kuschelte mich an ihn und drückte den Kopf gegen seine Schulter, leistete innerlich Abbitte, weil ich an ihm gezweifelt hatte. So gingen wir eine ganze Weile, strichen durch Reihe um Reihe. Dante wischte den Frost von den Inschriften, damit ich die Namen und Daten lesen konnte. Ich sah alle nur flüchtig an und schüttelte dann den Kopf. Fast waren wir schon alle Reihen abgegangen, als ich mich zu ihm umdrehte. »Ich glaube nicht, dass es hier ist. Wenn du möchtest, können wir gehen.«

»Sicher?«

Ich nickte.

Und so machten wir uns auf den Rückweg, indem wir uns wie in einem finsteren Walzer zwischen den Grabreihen entlangschlängelten. Lachend übersprang ich eine überwucherte Reihe, ein paar Schritte vor Dante. Fast hatte ich die Kette schon erreicht, als er mir etwas zurief.

»Pass auf, wo du hintrittst.«

Seine Worte fuhren mir durch Mark und Bein, wischten mir das Lächeln vom Gesicht. Langsam blickte ich hinab. Im Gestrüpp verborgen lag der namenlose Grabstein, derselbe, über den ich in meiner Vision gestolpert war. Das Wort SŒUR lugte knapp über das Gras hinaus.

Plötzlich war mir ganz elend. Meine Hand flog zum Kopf; meine Knie wurden butterweich.

»Renée?«, rief Dante, als ich fiel.

Ich landete auf der gefrorenen Erde, direkt neben dem schiefen Stein. Unter dem Frost war seine Inschrift kaum zu erkennen.

»Bist du okay?«, fragte Dante über mir und beugte sich herab, um mir aufzuhelfen. Aber ich brachte es nicht über mich, ihn anzusehen. Hatte er mich angelogen?

Ich rollte mich zur Seite, stand auf und klopfte meine Klamotten ab.

»Stimmt was nicht?« Er musterte mich. »Du siehst krank aus.«

Ich trat einen Schritt nach hinten, weg von ihm. »Hast du den Grabstein da gesehen?«

»Na klar. Deshalb hab ich ja gemeint, du sollst aufpassen.«

Ich hielt inne und versuchte, mir einen Reim darauf zu machen. »Aber es ist so dunkel. Wie konntest du das von ganz da hinten erkennen?«

Dante warf mir einen fragenden Blick zu. »Ich war direkt hinter dir.«

War er das gewesen? Ich wusste es einfach nicht.

»Was ist eigentlich los?«, fragte er und ich hörte die Angst in seiner Stimme.

»Ich hatte wieder eine Vision. Ich bin auf diesen Friedhof gegangen, hab ein Grab gesucht, aber während der Suche bin ich über einen Grabstein gestolpert. Denselben Grabstein, vor dem du mich gerade gewarnt hast.«

»Was willst du damit sagen?«

»Dass meine Visionen deine sind. Dass ich irgendwie sehen kann, was du tust.« Ich schluckte. »Dass du mich deswegen angelogen hast.«

Dante schien fassungslos. »Dich angelogen? Weswegen? Was soll ich deiner Meinung nach denn so Schreckliches tun?«

»Keine Ahnung.« Ich schüttelte den Kopf. »Das Grab ausheben. Nach dem Geheimnis der Neun Schwestern suchen.« Aber je weiter ich ausholte, desto absurder klang alles. Würde er nach dem Geheimnis der Neun Schwestern suchen, hätte er mir davon erzählt.

»Ist es denn wirklich so schwer zu glauben, dass ich den Grabstein gerade noch gesehen habe, bevor du gestürzt bist?«

»Ich – ich weiß nicht«, sagte ich und sah zu ihm auf in der Hoffnung, ihm stünde die Wahrheit irgendwie ins Gesicht geschrieben. »Sag mir, was du die ganze Zeit über treibst. Mir ist, als würde ich total im Dunkeln tappen.«

»Ich bin untergetaucht«, sagte er. »Immer in Bewegung, damit mich die Wächter nicht finden können. Das weißt du.«

»Aber warum verrätst du mir nichts Genaueres?«

»Ich will dich nicht in Gefahr bringen. Wenn dich die Wächter hier ausfragen, will ich nicht, dass du lügen musst. Es ist besser, wenn du nicht weißt, wo ich stecke.«

»Dann frag mich, ob ich mit dir weglaufe«, sagte ich. »Ich würde Ja sagen. Du musst mich nur fragen.« Mein Rücken verkrampfte sich, als ich mich gegen einen Baumstamm lehnte und darauf wartete, dass er sie aussprach, die Worte: Komm mit mir.

Doch es war vergebens.

»Das kann ich nicht.«

Ich spürte, wie tief in mir drinnen etwas verwelkte. Es war viel zu dunkel, als dass ich Dantes Gesicht hätte erkennen können, und ich war froh darüber. Ich wollte nicht wissen, wie er aussah, wenn er mich fortstieß. »Wieso?«, fragte ich mit staubtrockenem Mund.

»Wenn wir zusammen irgendwo hingehen, werde ich trotzdem in fünf Jahren tot sein. Und du musst das St. Clément besuchen. Du musst deine Ausbildung beenden, damit du dich schützen kannst.«

»Mich vor wem schützen?«, fragte ich mit wackeliger Stimme. »Vor den Untoten? Ich kann –«

»Vor mir.«

»Aber – aber du würdest mir nichts antun.« Die Worte blieben mir im Hals stecken.

»Jetzt nicht, doch was, wenn ich mich verändere?« Über uns brauste der Wind in den Zweigen und ich wartete auf mehr. »Jeder weiß, dass die Untoten in den letzten Stadien ihres Daseins eine ungewöhnliche Aggressivität entwickeln. Vielleicht aus Verzweiflung, aber vielleicht ist es auch etwas, das nicht so einfach zu kontrollieren ist. Keine Ahnung. Du musst in jedem Fall vorbereitet sein.«

Mit flatternden Haaren stand ich da, völlig sprachlos. Meine einzige Sicherheit im Leben war die Gewissheit gewesen, dass Dante mir nie wehtun würde. Das war das Einzige, was mir in den letzten Monaten Hoffnung geschenkt hatte. Hoffnung darauf, dass wir es schaffen würden; darauf, dass wir eine Lösung finden und so lange zusammenbleiben würden, wie es die Zeit uns gestattete. Doch ich hatte mich getäuscht, denn eben jetzt tat er mir weh.

»Und ich muss hierbleiben«, flüsterte Dante. »Ich muss hierbleiben und weiter nach einer Lösung suchen.«

»Aber ich hab schon eine gefunden«, rief ich aus und senkte dann die Stimme. »Ich glaube, du weißt schon, welche.«

Dante legte den Kopf schief, als wollte er mir etwas mitteilen. »Ich …« Er ließ den Wind seine Worte verschlucken.

Ich wünschte mir, dass er weitersprach, doch das tat er nicht. Der Wind legte sich, bis alles ganz ruhig wurde. In der Stille hörte ich, wie etwas den Pfad entlangraschelte, als ob jemand auf trockenes Laub trat. Ich legte einen Finger auf Dantes Lippen.

»Spürst du das?«, hörte ich eine Mädchenstimme. Es war dieselbe Stimme, die ich jede Nacht vor dem Einschlafen durch die Zimmerwand hörte. Clementine. War sie mir gefolgt?

»Was denn?«, fragte ein anderes Mädchen. Es war Arielle.

»Ein Untoter«, sagte Clementine.

»Wir sind hier auf dem Friedhof«, sagte ein weiteres Mädchen. »Hier ist alles t-«

Clementine schnitt ihr das Wort ab. »Nein, das hier ist stärker. Von da drüben kommt es. Wo die Stimmen waren.«

Da wurde mir klar, dass sie von Dante sprach. Ich ließ mich zu Boden fallen und zog Dante mit mir hinter einen großen Grabstein. Verschwinde, bewegte ich stumm meine Lippen und hoffte, er würde kapieren, dass er den größtmöglichen Abstand zwischen sich und Clementine bringen musste.

Bevor ich noch irgendetwas sagen konnte, war er verschwunden und die Schatten um ihn herum zitterten, als er sich lautlos durch die Nacht davonmachte.

Clementines Schritte kamen näher. »Hör auf, dir in die Hose zu machen«, sagte sie zu einer ihrer Freundinnen, die anscheinend zögerte. »Wir sind Wächter. Wir haben das im Griff.«

»Aber ich hab noch nie einen Untoten gesehen.« Ich erkannte Josies Stimme.

Der Rest ging im Windgetöse unter. Ich hörte, wie Clementine irgendetwas Unverständliches zu den Mädchen sagte. Irgendwer antwortete. Ein kurzer Streit entspann sich. Und dann herrschte auf einmal Stille.

Eben begann ich zu hoffen, dass sie abgezogen waren, als mir ohne Vorwarnung etwas Spitzes in die Seite gejagt wurde.

»Autsch«, jaulte ich.

»Aufstehen«, befahl Clementine über mir. »Ganz langsam.« Sie drückte mir eine Schaufel in den Nacken, die metallene Kante lag kalt auf meiner Haut.

»Und jetzt umdrehen«, sagte sie. »Und die Hände zur Seite, damit ich sie sehen kann.«

Ich schloss die Augen, fühlte, wie Dante in der Entfernung verschwand, und drehte mich um.

»Wer war bei dir?«, drang Clementines Stimme fordernd aus dem Schatten ihrer Kapuze. Hinter ihr standen einige Mädchen.

»Niemand«, sagte ich rasch. »Ich bin allein.«

»Das ist gelogen. Wir haben Stimmen gehört.«

»Ist hier vielleicht noch irgendjemand außer mir? Ich bin allein.«

Clementine sah mich durchdringend an. »Ich hab eine Jungenstimme gehört. Du warst mit einem Jungen hier. Einem Untoten.« Ihre Augen wanderten zu dem Punkt in der Ferne, wo Dante verschwunden war.

»Das war ich. Ich hab versucht, mit den Toten zu sprechen«, beharrte ich. Ich musste sie ablenken. »Das hier ist die Wächterabteilung. Ich dachte, ich könnte mit einem von ihnen Kontakt aufnehmen, um sie nach den Neun Schwestern zu fragen. Niemand ist hier außer mir.«

»Warum hab ich dich dann erspürt? Warum hast du dich angefühlt wie ein Untoter?«

»Weil ich schon einmal gestorben bin, falls du dich erinnerst?«

Clementine rang mit sich, ob sie mir glauben sollte. Ich sah, dass sie wankte, und bevor sie reagieren konnte, schnappte ich mir die Schaufel und entwand sie ihr. Souveräner als erwartet drehte ich sie um und richtete sie auf sie.

Ihre Freundinnen schienen ihr beispringen zu wollen, aber sie hatten viel zu viel Angst vor mir, um näher zu kommen. Ich hatte sie in der Hand.

Ich presste die Schaufelkante gegen Clementines Hals. »Warum bist du mir gefolgt?«, fragte ich.

Sie versuchte, ihr Gesicht zu wahren, und hob eine Augenbraue. »Weil ich mir sicher war, dass du was vorhast. Und ich hab richtiggelegen.«

»Willst du wirklich wissen, was ich getan hab?«, fragte ich.

Clementine reckte das Kinn vor, sagte jedoch nichts.

»Okay, ich erzähl’s dir. Oder wie wär’s damit: Ich zeig’s dir einfach.«

»Gut.« Ich spürte genau, dass sie mir nicht traute.

»Beug dich vor«, sagte ich.

Sie folgte meiner Aufforderung.

»Wisch die Frostschicht von dem Grabstein weg.«

Ich sah, wie sich ihre Halsmuskeln anspannten, während sie ihren Handballen über das Kanarienvogelwappen rieb. Als sie über ihre Schulter zu mir aufblickte, spiegelte sich Mondlicht in ihren Augen. »Soll das ein Witz sein?«

Ich drehte die Schaufel um und reichte ihr den Griff. »Keineswegs. Genau danach hab ich heute Abend gesucht.«

Vorsichtig nahm sie mir den Spaten ab und wir traten ein paar Schritte auseinander. Sie ließ den Blick sinken, kniete nieder und las die Inschrift.

»›Zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt‹«, las sie und drehte sich zu mir um. »Hier soll das Geheimnis der Neun Schwestern begraben sein?«, fragte sie ungläubig.

Das Grab vor ihr war höher aufgeschüttet als die übrigen, die Erde locker und im Gras verstreut, als sei es ganz frisch. Oder erst kürzlich wieder aufgegraben? Ich hatte keine Ahnung, ob dort das Geheimnis lag oder nicht, aber etwas anderes wusste ich jetzt sicher: Meine Visionen waren viel mehr als reine Fantastereien.

»Weiß ich nicht«, sagte ich. Wer auch immer ich in meiner Vision gewesen sein mochte – Dante oder sonst wer –, auf den Grund des Grabes hatte er es nie geschafft.

»Du weißt es echt nicht«, murmelte Clementine und musterte mich, bevor sie den Mädchen befahl zu graben.

Ich wollte flüchten, überall sein, nur nicht hier. Die Grabsteine, die Schaufeln, die Mädchen, die sich Erde über die Schultern schleuderten, das alles machte mich schwindelig. Was hatte Dante mir sagen wollen? War er vorher schon hier gewesen oder drehte ich völlig am Rad?

Aber ich konnte hier nicht weg. Clementine hatte ihn erspürt. Das merkte ich an der Art, wie ihre Augen immer wieder zu den Bäumen wanderten, wie auf der Suche nach ihm. Wenn ich ging, würde sie ihm vielleicht folgen und ihn finden. Also blieb ich. Und während die Erde an mir vorbeiflog und das Loch immer breiter und tiefer wurde, nahm ich mir innerlich immer wieder das ganze Friedhofsgelände vor, bis ich erleichtert aufseufzen konnte. Ich fühlte Dante nirgendwo.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
titlepage.xhtml
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_000.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_001.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_002.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_003.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_004.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_005.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_006.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_007.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_008.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_009.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_010.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_011.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_012.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_013.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_014.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_015.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_016.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_017.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_018.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_019.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_020.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_021.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_022.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_023.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_024.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_025.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_026.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_027.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_028.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_029.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_030.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_031.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_032.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_033.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_034.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_035.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_036.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_037.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_038.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_039.html
CR!HFB5548A2S40N9DW5A63AZRWJ0JN_split_040.html