Ophelia Hart
Eis, verhieß die Tankstelle in großen Neonlettern.
Eine Stunde waren wir durch Wald und Tiefschnee gestapft, um hierherzukommen, und jetzt waren unsere Beine taub und schneeverkrustet.
»Da war kein Rätsel versteckt«, sagte Noah und schnappte nach Luft. »Was war das da drinnen?«
»Weiß ich nicht.« Ich beugte mich vornüber, völlig am Ende. »Ein Ort, wo die Untoten wohnen. In der Hand des Liberum.« Ich sah zu ihm auf. »Sie suchen auch nach dem Rätsel. Sie versuchen, das Geheimnis zu finden.«
»Haben sie das gesagt?«
Ich schüttelte den Kopf. Meine Augen wollten nicht aufhören zu tränen. »Nein. Ich spüre es einfach.« Warum hatte ich nicht schon früher nach dem letzten Rätselstück gesucht? Was, wenn das Liberum es vor uns entdeckte?
»Warum solltest du so was in einer Vision sehen?«, fragte er ungläubig. »Warum sollte uns dein Traum raten, dorthin zu gehen?«
»Ich kann doch nichts dafür«, rief ich entschuldigend und verbarg mein Gesicht in den Händen.
»Das hab ich auch nie gesagt«, entgegnete er und hielt mir die Tankstellentür auf.
»Ich weiß.« Ich trat ein ins Licht der Neonröhren.
Noah nickte dem Kassierer zu, einem schmierigen, Kaffee süffelnden Kerl. »Glaubst du, sie kommen uns nach?« Er linste aus dem Fenster Richtung Wald.
Ich schloss die Augen und dachte an den großen, dunklen Jungen, der bei unserer Flucht hinter den Kindern gestanden hatte. »Ich kann sie nirgends fühlen.«
Während Noah den Tankwart nach einem Taxi fragte, streunte ich durch die Regale, um meine Nerven zu beruhigen. Aber als ich eine Flasche Wasser aus dem Kühlregal zog, konnte ich nur an Dante denken, der in meiner Vision das Gleiche getan hatte.
War die dunkle Gestalt bei den Bäumen ein Bruder des Liberum gewesen? Hatte Dante mit ihnen zusammengearbeitet, um an das Geheimnis der Neun Schwestern zu kommen? War er deshalb zu dem Gehöft gegangen, hatte er deshalb Cindy Bells Namen aus dem Briefkasten gezogen?
»Renée?«, fragte Noah. »Bist du okay? Du siehst ganz grün aus.«
Ich schluckte und merkte, dass ich mich vor Magenkrämpfen über den Tresen krümmte. Beim Aufrichten fegte ich ein paar Plastikdeckel zu Boden. »Tut mir leid, geht schon wieder«, sagte ich und bückte mich danach.
»Lass mich mal«, sprang mir Noah bei. »Der Kassierer meint, es gibt eine Abendfähre, aber vielleicht haben wir die schon verpasst. Er sagt, er kann uns ein Taxi rufen, falls wir versuchen wollen, sie zu erwischen. Was meinst du?«
Ich nickte. Ich wollte Noah alles über mich und Dante erzählen, doch mir war klar, dass ich das nicht konnte. Wie sollte ich erklären, dass ich mich in den Menschen verliebt hatte, der vielleicht Miss LaBarge und Cindy Bell auf dem Gewissen hatte, den Menschen, der meine Eltern ermordet haben könnte? Ich verstand ihn einfach nicht. Hatte er gelogen, als er gesagt hatte, dass er mich liebte? Bedeutete ihm das, was zwischen uns geschehen war, denn gar nichts?
Ich lauschte, wie der Tankstellenkaffee durch den Filter in die Kanne tröpfelte, während wir auf das Taxi warteten. Noah tigerte beim Backwarenregal auf und ab, den Blick aus dem Fenster gerichtet. Ich wusste, dass wir davongekommen waren, dass die Kinder vom Hof auf Befehl der langen Vogelscheuche die Jagd eingestellt hatten. Doch aus unerfindlichen Gründen wurde ich das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet wurden.
Eine halbe Stunde später holte uns ein blaues Auto ab. Unter dem Gequietsche der Scheibenwischer, die gegen den Schnee ankämpften, zuckelten wir über die vereisten Straßen. Von der Fährstation drang schwaches Licht herüber, aber nachdem wir den Fahrer bezahlt hatten und hineingegangen waren, fanden wir sie verlassen vor. Der Ticketschalter war geschlossen und mit einem Metallgitter verrammelt. Ich folgte Noah in den dunklen Warteraum. Billige Plastiksitze und Metallmülleimer säumten die Wände.
Er las einen Aushang an der Wand. »Die letzte Fähre ist wegen Schlechtwetter gestrichen worden«, sagte er. »Die nächste kommt erst morgen früh.«
»Und jetzt?«
»Jetzt warten wir hier, denk ich.«
»Was, wenn sie uns nachkommen?«, fragte ich und starrte durch die Glastür nach draußen.
Noah sah sich prüfend im Raum um, griff sich einen Wischmopp aus der Ecke und verbarrikadierte die Tür. Ich kam ihm zu Hilfe und gemeinsam schoben wir zwei Mülleimer vor den Hintereingang und verschlossen dann alle Fenster. »So hören wir sie wenigstens«, meinte Noah und setzte sich ganz in die Ecke.
Ich faltete meinen Schal zu einem Kissen und legte mich auf die Sessel gegenüber.
»Jetzt ist alles anders«, sagte Noah und starrte auf die Rohre an der Decke. Sein Blick war melancholisch. »Wir sind anders.«
»Nein, sind wir nicht«, sagte ich, aber es klang falsch. Hätte ich ihn im Haus an mich ziehen sollen? Hätte ich ihn zurückküssen sollen? Ein Teil von mir hatte es gewollt, doch der Rest von mir hatte Nein! gebrüllt, als würde ich damit etwas verraten, was ganz tief in mir verborgen lag.
»Wer ist er?«, fragte Noah. »Was ist so toll an ihm?«
Ich spürte seinen Blick auf mir, seinen flehenden Wunsch, dass ich ihm irgendetwas erzählte. Aber was konnte ich sagen? Ich wusste nicht, wo die Liebe herkam, warum sie sich an manche Menschen heftete und an manche nicht. Trotz allem, was mit Dante passiert war, schaffte ich es nicht, mich von ihm zu trennen.
»Glaubst du an Seelenverwandtschaft?«
»Meinst du einen lebendigen Menschen, der die Seele eines Untoten hat?«
»Nein. An Seelenverwandtschaft allgemein. Dass es auf dieser Welt nur einen Menschen gibt, der wirklich richtig für einen ist.«
Ich hörte Noahs Atem, während er nachdachte. »Nein.«
»Warum?«
»Weil uns das keine Wahl lässt. Das hieße ja, dass irgendeine kosmische Kraft schon die eine Person ausgesucht hat, die ich lieben soll. Aber so funktioniert es nicht. Ich möchte nicht mit jemandem zusammen sein, der meine Seele komplett macht, ich möchte jemanden, der sie mir öffnet. Ich möchte mich selbst entscheiden können.«
Ich schloss die Augen. »Was, wenn die Entscheidung nicht so einfach ist?«
»Entscheidungen sind immer einfach«, sagte Noah mit einem Anflug von Bosheit in der Stimme. »Nur unsere Köpfe, die lassen sich so leicht verwirren.«
»Was soll das heißen?«
Er beugte sich nach vorn, langte in die Tasche und zog einen Penny heraus. »Bei Kopf ist er dein Seelengefährte.« Bei den letzten Worten wurde seine Stimme ganz harsch. »Und bei Zahl existiert Seelenverwandtschaft einfach nicht.« Er sah mir direkt in die Augen. »Okay?«
Verwirrt schüttelte ich den Kopf. »Das funktioniert so nicht –«
»Gib mir eine Chance«, sagte er und schaute dann verlegen zur Seite. Bevor ich weiterreden konnte, warf er die Münze in die Luft. Sie schlug auf dem Boden auf und klimperte dreimal. Noah bückte sich und hob sie auf.
Dann öffnete er die Hand. Als er »Kopf« sagte, spürte ich die Tränen hinter meinen Augen stechen.
»Jetzt mal ehrlich«, sagte er. »Wünschst du dir, dass sie anders gefallen wäre? Hätte ja auch passieren können.«
Ich zögerte.
»Siehst du?«, sagte Noah und sah mich aus schwerer werdenden Lidern an. »Du hast deine Entscheidung schon längst getroffen. Du hast sie nur noch nicht akzeptiert.«
In dieser Nacht kam ich nicht zur Ruhe. Ich hatte Albträume von Fingern, die an Fenstern kratzten, von einem langen Schattenriss, der sein Gesicht auf meines senkte, von Haut mit einem Spinnennetz aus Adern und von eisigem Atem, der gegen meine Lippen schwappte.
Am nächsten Morgen weckte uns der Leiter der Fährstation durch heftiges Wummern an die Tür. Ich wälzte mich von den Plastikstühlen und machte ihm auf. Draußen war der Winterhimmel weiß und strahlend. Ich starrte auf die verlassenen Straßen und konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Untoten uns fest im Blick hatten.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu Noah, als wir darauf warteten, dass das Boot ablegte.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, sagte er und lächelte mich halbherzig an. Er tat, als wäre für ihn alles halb so wild, obwohl ich genau wusste, dass er mir etwas vormachte.
Als wir auf dem Campus ankamen, traten wir als echte Wächter durchs Schultor. Wir hatten im Eishof einen Untoten umgebracht. Ich hatte ihm dabei zugesehen, wie er sich auf dem Kellerboden gewunden hatte. Aber als ich neben Noah den verschneiten Pfad entlangging, kam es mir vor wie ein Rückschritt. Je mehr ich über mich herausfand und über die Menschen, die ich liebte, desto stärker änderte sich mein Blick zurück, auf meine Vergangenheit. Seit wann lief alles so falsch?
»Wo gehst du hin?«, fragte Noah, als ich bei der Weggabelung auf das Mädchenwohnheim zusteuerte.
»Zurück in mein Zimmer.«
»Wir müssen zum Rektor. Wir müssen ihm erzählen, dass wir ein ganzes Haus voller Untote gefunden haben und vielleicht einen Bruder des Liberum.«
»Nein«, sagte ich schnell. »Das können wir nicht.«
»Was? Wieso nicht?«
»Weil sie uns dann fragen, wie wir das Haus entdeckt haben, und dann muss ich ihnen von meinen Visionen erzählen und dann …«
Noah wartete darauf, dass ich weiterredete. »Und dann was?«
»Und dann …« Aber je länger ich nach einer Antwort suchte, desto deutlicher wurde mir, dass ich gar keine hatte. Meine Arme sackten schlaff herunter. »Keine Ahnung.«
»Du kannst ja nichts für diese Visionen. Der Rektor sollte dir dankbar sein. Wenn du nicht wärst, hätten wir die Untoten ja gar nicht entdeckt.«
Das streute eher Salz in die Wunden, doch ich nickte.
Aus den Fenstern des Rektorats leuchtete es warm heraus, als wir uns näherten. Das Kopfsteinpflaster lag tief verschneit.
Eine ältere Dame in Wollpulli und Brosche öffnete die Tür. Seine Sekretärin. Der traurige Zustand unserer schmutzigen Kleidung entging ihr nicht. »Nachtschicht eingelegt?«
»Wir müssen mit Rektor LaGuerre sprechen«, sagte Noah.
»Ich fürchte, er ist noch nicht aus den Winterferien zurück. Ist alles in Ordnung?«
Noah warf mir einen Blick zu. »Wissen Sie, wann er kommt?«
»Morgen früh wird er wieder im Büro sein. Möchten Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?«, fragte sie und zückte einen Füller.
»Nein«, sagte ich bestimmt. »Wir kommen morgen wieder.«
Nachdem wir uns für den nächsten Morgen vor dem Unterricht verabredet hatten, begleitete mich Noah zurück zum Wohnheim. Auf dem Treppenabsatz blieb ich stehen. Die Schneeflocken verfingen sich in meinen Wimpern.
»Danke«, sagte ich.
»Sag das bitte nicht«, erwiderte er leise, aber mit angespanntem Unterton. »Sonst frag ich mich nur, ob ich dich hätte überzeugen können.«
Ich schob mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Nein – ich –«
Aber Noah war schon die Stufen hinunter. »Pass auf dich auf, Renée.«
Als ich mein Zimmer erreichte, war ich innerlich so betäubt, dass mir die offene Schranktür erst gar nicht auffiel. »Komisch«, meinte ich, knipste das Licht an und sah hinein. Alles beim Alten. Doch als ich zu meinem Schreibtisch ging, knirschte etwas unter meinen Füßen. Ein paar Glasscherben lagen neben meinem Bett verstreut – die Überbleibsel des Wasserkrugs auf meinem Nachttisch. Ich bückte mich nach einer Scherbe und sah dann in den Mülleimer, wo das übrige Glas lag. Jemand war hier drinnen gewesen.
Ich ließ alles stehen und liegen, stürzte durch die Badezimmertür und hämmerte an Clementines Tür.
Zu meiner Überraschung war es der Rektor, der aufmachte.
»Renée«, sagte er und setzte eine von Clementines Taschen ab. Er trug Mantel und Hut, beide schneebestäubt. Hinter ihm stand Clementine in hohen Pelzstiefeln und Ohrschützern.
»Rektor LaGuerre«, sagte ich verwirrt, »Sie sind schon da.«
Er lächelte mich verwundert an. »Ja, bin ich. Wollten Sie Clementine Hallo sagen?«
Clementine grinste höhnisch.
»Äh – ja. Ich komm später wieder. Ich wollte nicht stören.«
»Wegen mir müssen Sie nicht gehen«, sagte er. »Ich bin gleich wieder weg, wenn ich Clementines Sachen reingetragen habe.«
»Wolltest du mich was fragen?«, sagte sie und zog die Handschuhe aus. »Kannst du ruhig. Keine falsche Schüchternheit.«
Mein Blick wanderte von ihr zu ihrem Vater. Er blinzelte erwartungsvoll. »Ich – hab nur gerade was in meinem Zimmer entdeckt. Einen zerbrochenen Wasserkrug. Und die Schranktür stand offen, obwohl ich sie bestimmt zugemacht habe, bevor ich weg bin. Jetzt frag ich mich, ob du vielleicht jemand gesehen hast, der in meiner Abwesenheit in mein Zimmer rein ist?«
Clementine hob eine zarte Augenbraue. »Aber ich komm doch gerade erst zurück. Woher soll ich das wissen?«
Das Gepäck zu ihren Füßen troff vor geschmolzenem Schnee. Vielleicht sagte sie die Wahrheit. Doch wer war dann in meinem Zimmer gewesen?
Ich verbrachte die Nacht auf Anyas Sofa, unter einer kratzigen selbst genähten Patchworkdecke ihrer Großmutter, auf die das Zeichen der Katze als Glücksbringer eingestickt war. Anya zündete im ganzen Zimmer Kerzen an und ich erzählte ihr von dem Gehöft und der dunklen Gestalt, die bei unserer Flucht in den Wald hinter den Kindern gestanden hatte. Noch als sie längst eingeschlafen war, lag ich wach, während um mich herum die Kerzen flackerten. Die umwölkten Augen des Jungen, den ich in seiner Todesqual auf dem Kellerboden zurückgelassen hatte, verschwommen mit denen von Dante und verfolgten mich in meine Träume.
Am nächsten Morgen rüttelte Anya mich wach. Die Kerzen waren alle heruntergebrannt und durch die Vorhänge lugte der Januartag hinein. »Wir haben Strategie und Prognose verpennt«, sagte sie und warf sich Kleider über. Unser Unterricht hätte irgendwo außerhalb der Stadt stattfinden sollen. Als wir es schließlich aus der Tür geschafft hatten, war die Stunde schon vorbei und der Kleinbus wieder beim Schultor geparkt. Ich entdeckte Noah auf dem Gehsteig, die Ausrüstung in der Hand.
»Was war los?«, fragte er. »Wir wollten heute Morgen zum Rektor.«
»Entschuldigung«, sagte ich mit gedämpfter Stimme, weil Clementine uns beobachtete. »Ich hab verschlafen.«
Noah musterte mich, schien herausfinden zu wollen, ob ich ihm etwas vormachte. »Also war’s nicht, weil du –«
»Natürlich nicht«, sagte ich, bevor er es aussprechen konnte.
Der Rektor schleppte gerade die letzten Unterrichtsmaterialien aus dem Bus, als wir auf ihn zutraten.
»Rektor LaGuerre?«, sagte ich und tippte ihm auf die Schulter.
Er fuhr zusammen. »Oh, Renée. Und Noah. Was kann ich für Sie tun?«
»Wir müssen mit Ihnen reden«, sagte ich. »Unter sechs Augen.«
Er schloss die Tür und rieb sich die Hände in der Kälte. »Ist alles in Ordnung?«
Ich nickte. »Es geht um das Liberum.«
Das wischte ihm das Lächeln vom Gesicht. »Pardon?«, fragte er und kam näher.
Unten am Weg stand Clementine und ließ uns nicht aus den Augen.
»Wir wissen, wo sie sind«, sagte Noah. »Wir haben sie gesehen.«
Der Rektor schaute sich in alle Richtungen um und knöpfte sich den Mantel zu. »Folgen Sie mir.«
In seinem Büro grub er unter den Papierstapeln zwei Stühle aus und wies sie uns zu. Dann ließ er sich hinter seinem Schreibtisch nieder und verschränkte die Hände. »Dann legen Sie mal los.«
»Es hat alles mit einer Vision von einem Bauernhaus begonnen«, sagte ich und berichtete ihm von unserer Fahrt, dem albtraumhaften Haus und von dem, was ich durch die Heizungsrohre belauscht hatte. Noah beendete die Geschichte, während ich auf die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett starrte und versuchte, den Jungen im Keller aus meinem Kopf zu verbannen.
»Sie sind sicher, dass die Person, die Sie gesehen haben, ein Bruder des Liberum war?«, fragte der Rektor.
Ich zögerte. »Nicht sicher, aber ich habe ihn mit den Kindern Latein sprechen gehört.«
»Sie haben das schon letzten Abend gewusst und mir kein Wort davon erzählt?«, sagte er und durchbohrte mich mit Blicken.
»Wir waren in Ihrem Büro, aber Sie waren nicht da«, erklärte Noah, der nicht wusste, wovon der Rektor sprach.
»Haben die Sie gesehen?«
»Ja«, sagte ich.
»Aber die meisten von ihnen waren blind«, warf Noah ein.
Die Schultern des Rektors sackten ab vor Erleichterung. »Und sie hätten Sie unmöglich identifizieren können?«
»Nein«, sagte Noah, gerade als ich mit einem »Vielleicht« herausplatzte.
Die geweiteten Augen des Rektors wanderten zwischen uns hin und her, während er auf eine eindeutige Antwort wartete. »Ist man Ihnen gefolgt?«
Ich schluckte, als sein Blick von Noah zu mir schwenkte. Jemand war in mein Zimmer eingedrungen und Clementine war es nicht gewesen. Konnte es ein Bruder des Liberum gewesen sein? »Vielleicht.«
Das Gesicht des Rektors wurde kreidebleich. Seine Augen schossen zum Fenster und ohne Vorwarnung sprang er auf und zerrte das Rollo hinunter. »Dann müssen Sie sich wappnen.«
Nur wie?
Ich beschloss, den restlichen Tag blauzumachen, und rannte zum Flussufer. Der Wind peitschte mir ins Gesicht, als ich am Sankt-Lorenz-Strom anhielt und auf das eisige Wasser hinausstarrte. Am Ufer gegenüber erhoben sich die Kuppeln der Getreidesilos aus dem Schneetreiben wie Berggipfel. Ich ging auf sie zu und hinterließ frische Fußspuren im Schnee, als ich ans Geländer trat.
Der Wind pfiff hindurch und trieb mir die Tränen in die Augen. Ich beugte mich vor und sprach zu Dante. »Falls ich dich nicht wiedersehe«, sagte ich mit einem Schlucken, »ist das jetzt der Abschied.«
»Abschied Abschied Abschied Abschied …« Das Echo jagte mir einen eisigen Schauer durch die Knochen.
Ich trocknete mir die Wange und wollte mich gerade abwenden, als ich unter all den Kritzeleien auf dem Metallgeländer eine eingeritzte Botschaft entdeckte. Nur war sie auf Latein. »Ich komme zu dir«, stand dort, als hätte er mich gehört und mir geantwortet.
»Vorsicht allein reicht nicht«, sagte ich am Ende der Woche beim Abendessen zu Anya. Vier Wachen standen an den Türen zum Speisesaal, aber ansonsten schien alles seinen gewöhnlichen Gang zu gehen. Keiner außer uns ahnte etwas von der Bedrohung durch das Liberum.
»Willst du damit sagen, wir sollen rausgehen und das Liberum finden, bevor sie dich finden? Da denk ich ja nicht im Traum dran.« Anya rutschte tiefer in ihren Stuhl und nippte an ihrer Milch. Noah schien von der Bildfläche verschwunden. Nach unserem Treffen mit dem Rektor hatte er kaum ein Wort mit mir gewechselt und nach dem Unterricht hatte er sich immer einfach verdrückt.
Ich senkte die Stimme. »Natürlich nicht. Das Liberum sucht nach dem Geheimnis der Neun Schwestern. Der letzte Teil des Rätsels – dahinter sind sie doch eigentlich her, oder? Aber das dürfen sie nie in die Hände bekommen. Du hättest den sehen sollen …« Ich dachte an die dunkle, dürre Gestalt mit dem merkwürdig eingesunkenen Körper.
Der Tisch hinter uns brach in Gelächter aus. Wahrscheinlich über irgendeinen dämlichen Witz.
»Wir müssen das Rätsel finden«, sagte ich. »Wir müssen es finden, bevor sie es tun.«
Anya sah sich rasch um. »Aber wie?«
Ich kaute an meinem Strohhalm. »Keine Ahnung.«
Und da hörte ich hinter meinem Rücken die Stimme einer Freundin von Clementine. »Die sollten das Gottfried einfach dichtmachen. Da züchten die nur Untote.«
»Da liegt ein Fluch drauf«, sagte eine andere.
»Gottfried«, wiederholte ich. »Fluch.«
Der Gottfried-Fluch. Den hatte ich völlig vergessen. Ich schob meinen Teller zur Seite und wandte mich an Anya, ganz kribbelig vor Aufregung. »Hast du das gehört?«
»Was gehört?«, fragte sie.
»Ich muss los«, sagte ich und stand auf.
»Warte!«, rief sie mir nach. »Wo willst du hin?«
»Erzähl ich dir später.« Und weg war ich.
Zurück auf meinem Zimmer stocherte ich unter meinem Bett nach dem Buch, das ich letztes Jahr beim Wandertag gekauft hatte, unserem Schulausflug ins Städtchen Attica Falls. Sein abgegriffener elfenbeinfarbener Einband trug den Titel Attica Falls. Ich wischte ihn mit der Hand ab und musste niesen von all dem Staub. Ich blätterte den Band durch, bis ich auf den Artikel stieß, den ich letztes Jahr gelesen hatte: »Der Gottfried-Fluch«.
Ich überflog die Seiten. Seit seiner Gründung im Jahre 1735 wurde das Gottfried-Institut von einer ganzen Serie ebenso schrecklicher wie unerklärlicher Tragödien heimgesucht, von Seuchen über Naturkatastrophen bis hin zu einer Reihe hoch bizarrer, unnatürlicher Todesfälle …
Ich blätterte vor, überflog die Abschnitte darüber, wie das Gottfried erst als Krankenhaus für die Untoten gegründet worden war, bis der Oberarzt, Bertrand Gottfried, starb und die Schule ihre Tore schloss. Und dann fand ich, wonach ich gesucht hatte.
Doch so plötzlich, wie man die Anstalt geschlossen hatte, wurde sie wieder eröffnet – diesmal als Schule. Die damalige Oberschwester, Ophelia Hart, stieg zur ersten Rektorin auf. Sie nannte das Haus nach seinem Gründer »Gottfried-Institut«.
Ophelia Hart. Oder Ophelia Cœur? Cœur war das französische Wort für Herz, heart. Konnte es sich um ein und dieselbe Frau handeln? Deshalb also war mir ihr Name so bekannt vorgekommen. Ophelia war die erste Rektorin des Gottfried-Instituts gewesen. Sie war die Krankenschwester, die aus dem Gottfried eine Schule gemacht und es anscheinend geleitet hatte, während sich all die merkwürdigen Unglücke ereigneten. Und dann, 1789, hatten all diese Tragödien ein ebenso rätselhaftes Ende gefunden. Vielleicht hatte Ophelia die Schule verlassen? War das der Grund? Ich blätterte vor, fand jedoch keine Hinweise.
Also sank ich auf den Teppich zurück und dachte genau nach. Ophelia konnte ihren Namen in »Cœur« geändert haben, um ihre wahre Identität zu verschleiern. Aber es schien ein so durchsichtiges Manöver. Warum war in der ganzen Literatur zu ihren wissenschaftlichen Errungenschaften nichts dergleichen erwähnt? Warum hatte Noahs Vater, ein gefeierter Historiker, nicht einmal in Erwägung gezogen, dass Ophelia Cœur die erste Rektorin gewesen sein könnte? Die Namen schienen viel zu ähnlich, um an einen Zufall zu glauben. Aber in diese Richtung schien er nicht einmal gedacht zu haben.
Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die Ophelia, von der uns Noahs Vater erzählt hatte, hatte ihre ganze Gewässerforscherei um 1900 herum betrieben.
Und die Ophelia im Buch vor mir, die erste Rektorin des Gottfried, hatte Mitte des achtzehnten Jahrhunderts gelebt, zu der Zeit, als die Neun Schwestern ermordet worden waren.
Es schien unmöglich, dass es zwei Ophelias in der Wächterwelt gab und dass beide eine Variante von »Herz« im Nachnamen trugen. Aber bedeutete das, dass diese beiden Ophelias – die erste eine Krankenschwester des achtzehnten Jahrhunderts, die andere eine Krankenschwester und Wissenschaftlerin des frühen zwanzigsten Jahrhunderts – identisch waren?
Wir haben doch recht gehabt damals, dachte ich und setzte alles in meinem Kopf zusammen. Ophelia war die neunte Schwester. Das war die einzige Erklärung dafür, wie eine Frau zweihundert Jahre überleben konnte, vielleicht sogar mehr. Sie hatte tatsächlich das Geheimnis der Neun Schwestern benutzt, um unsterblich zu werden.
»Es ist wahr«, rief ich aus, auch wenn niemand im Zimmer war, der mich hören konnte. Ich starrte auf ihren Namen im Buch und konnte nicht fassen, dass ich zu Ende führte, was meine Eltern begonnen hatten. Ich war einen Schritt näher daran, das Geheimnis des ewigen Lebens zu finden, das Geheimnis, hinter dem alle her waren. Aber als ich das O ihres Namens nachfuhr, wich die Aufregung nackter Angst: Mir wurde bewusst, dass ich jetzt genau das besaß, was das Liberum wollte. Bald würde ich mich ihnen gegenübersehen. Leben und Tod, das hatte mir Zinya prophezeit. Auch dem war ich jetzt einen Schritt näher gekommen.