Das Liberum

 
 

Der Winter hielt zwei Monate zu früh Einzug in Montreal oder vielleicht sollte ich sagen, zwei Monate zu früh in mir. Ende Oktober hatte ich mich gerade dazu durchgerungen, meinen Wintermantel hervorzukramen, als die Schule schon begann, uns jeden Morgen ein Bündel Holz für die Kanonenöfen vor die Zimmertür zu legen. Aber so nah ich auch ans Feuer rücken mochte, die kalte Leere in mir wollte nicht weichen.

Und so beschloss ich, mich mit ihr zu arrangieren, und machte mich auf in die frostige Luft Kanadas, bis ich mich an der Stadtgrenze wiederfand. Hier spazierte ich am Wasser entlang, wo ich fast fühlen konnte, wie Dante mich von der anderen Seite des Flusses aus beobachtete. Fast jeden Abend wanderte ich den Stadtrand von Montreal ab und wartete darauf, dass er zu mir kam.

Das gegenüberliegende Ufer war von leer stehenden Getreidesilos gesäumt, einsame braune Zylinder, die sich hinter dem Wasser erhoben. Von einem bestimmten Punkt des Hafens aus konnte man über den Fluss rufen und das Echo der eigenen Stimme von den Silos zurückprallen hören. Bei Einbruch der Dunkelheit, als alle nach Hause gegangen waren, trat ich vor bis ans Wasser und lehnte mich gegen das Geländer.

Die eingeritzten Botschaften im Metall zeigten Initialen von Liebenden, Herzchen. Als der Wind sich legte, stellte ich meine Frage.

»Hast du gelogen?« Die Worte zitterten.

Als sie zurückkamen, hallte meine Stimme leise und rund und immer wieder und wieder: logen logen logen logen.

»Nein«, sagte ich dazwischen und stellte mir vor, das Echo sei Dante: Nein. Nein. Nein. Nein. Nein.

Danach zog es mich immer wieder ans Wasser, wo ich durch die Silos mit mir selbst sprach. Ich war so darauf versessen, Dante zu finden, dass ich kaum noch über das Rätsel auf dem Grabstein nachdachte. Und zu meiner Überraschung ließ mich auch Clementine damit in Ruhe, obwohl ich wusste, dass sie nach unserer Begegnung auf dem Friedhof genauso enttäuscht gewesen war wie ich.

In jener Nacht hatten die Mädchen gegraben und gegraben, aber unter dem anonymen Stein war einfach nichts gewesen, noch nicht mal ein Sarg. Auf dem Rückweg zum Wohnheim, schmutzig und erdverschmiert wie wir waren, hatte Clementine kein Wort verloren. Danach war sie ruhiger geworden; nie mehr hatte sie mich im Flur abgepasst oder versucht, mich vor ihren Freundinnen bloßzustellen. Zuerst glaubte ich an eine Art Waffenstillstand, doch dann begriff ich, dass sie auf der Lauer lag, mich genauer beobachtete denn je. Herausfinden wollte, was ich wusste und wer bei mir gewesen war in jener Nacht.

Anya verschwieg ich die Geschehnisse zunächst, in erster Linie, weil sie mich selbst so verwirrt hatten. Aber nach einer Woche gab ich es auf und erzählte ihr alles.

»Du bist ohne mich auf den Friedhof?«, fragte Anya. Wir saßen im Lateinzimmer und warteten auf die anderen.

»Ich hatte es eilig. Es ging alles so schnell.«

Sie drehte an ihrem Ohrstecker. »Was bedeutet es, glaubst du?«

»Was?«

»Das Rätsel natürlich«, sagte sie ungläubig.

»Ach, keinen Schimmer.«

Sie lehnte sich zurück und starrte mich an.

»Was ist los?«, fragte ich. »Warum glotzt du mich so an?«

»Seit Tagen isst du praktisch nichts«, sagte sie. »Du scherst dich nicht um das Rätsel, obwohl du mich noch vor ein paar Wochen zum Krankenhaus mitgeschleift hast. Was soll das alles?«

Die Tür öffnete sich und Clementine samt ihren Freundinnen trat ein, gefolgt von Monsieur Orneaux. Ich senkte die Stimme. »Tut mir leid«, sagte ich. »Aber ich kann nicht darüber reden.«

Anya kaute an ihrem Fingernagel. »Männerprobleme«, sagte sie mit Kennerblick. »So ist’s mir auch schon gegangen. Deshalb stech ich mir Ohrlöcher, wenn ich mich aufrege. Lenkt mich ab von dem Zeug, über das ich nicht nachdenken will.«

»Ich glaub, das ist nichts für mich.«

»Na klar«, grinste sie und zwickte mich in mein jungfräuliches Ohrläppchen, während sich der Lehrer am Kopf des Tisches niederließ und seine Unterlagen hervorzog. »Aber vielleicht lenkt dich das Rätselknacken von deinem Herzschmerz ab?«

»Im Grab war aber nichts«, flüsterte ich ins Geräusper von Monsieur Orneaux hinein. »Und die Friedhofskarte hab ich schon überprüft – ein salziges Gewässer gibt’s da nirgendwo in der Nähe. Und sollte wirklich auf irgendeinem der Grabsteine ein Bär sein, dann bräuchten wir Jahre, um den zu finden. Der Friedhof ist riesig.«

»Schon okay«, wisperte Anya. »Kein Grund, sich aufzuregen.«

Clementine hob die Hand. Monsieur Orneaux versuchte, sie zu ignorieren, und spulte seinen Seneca weiter ab. Aber nach ein paar Minuten fragte sie einfach heraus.

»Wer hat die Neun Schwestern ermordet?«

Das riss alle aus dem Tiefschlaf.

Monsieur Orneaux’ Augen verengten sich zu Schlitzen, wodurch er noch ausgemergelter aussah. »Darüber weiß ich nichts. Ich unterrichte Latein.«

»Warum hat Madame Goût dann gesagt, der Mord an den Schwestern falle in Ihren Kompetenzbereich?«, hakte Clementine nach.

Ich legte meinen Bleistift ab. Zum ersten Mal wusste ich Clementines Aufdringlichkeit zu schätzen.

Monsieur Orneaux’ Miene verfinsterte sich; er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und stemmte die Fingerspitzen gegeneinander. »Madame Goût. Das hätte ich mir denken können.« Und ohne ein weiteres Wort stand er auf und schrieb etwas an die Tafel.

 

Liberum

 

»Die Gruppe, die im Allgemeinen für den Mord an den Neun Schwestern verantwortlich gemacht wird, nennt sich selbst das Liberum.« Er tippte mit seiner Kreide gegen die Tafel, direkt über den Buchstaben i. »Was bedeutet der Stamm des Worts?«

Ohne uns Zeit zum Antworten zu geben, unterstrich er den Wortanfang. »Liber heißt Kind.« Er sah uns eindringlich an. »Wie Sie wissen, sind nur Menschen bis zum Alter von einundzwanzig Jahren potenzielle Untote. Ganz offensichtlich hat das Liberum deshalb dieses Wort gewählt.«

»Es kann aber auch Freiheit bedeuten«, schnitt meine Stimme durchs Zimmer. Ich spürte ein Augenpaar auf mir, hob das Kinn und traf Noahs Blick. Er benutzte sein Ohr als Bleistifthalter. Clementine beugte sich zu ihm hinüber und flüsterte ihm etwas zu.

Monsieur Orneaux überging mich geflissentlich. Er wiederholte: »Es kann aber auch Freiheit bedeuten.«

»Wer sind sie?«, fragte Noah.

»Eine Bruderschaft der Untoten«, sagte der Lehrer und setzte sich wieder. »Eine geheime Bruderschaft. Obwohl wir von ihrer Existenz wissen – wir haben den Namen in mehreren ihrer ehemaligen Versammlungsorte an die Wände gekritzelt vorgefunden –, hat kein Wächter jemals einen von ihnen erwischt.«

Eine Bruderschaft, dachte ich. Eine Bruderschaft gegen eine Schwesternschaft.

»Wie das?«, forschte Clementine.

»Sie sind namenlos. Gesichtslos. Gefährlich«, sagte Monsieur Orneaux mit getragener Miene. »Und wild entschlossen. In größerem Maße, als man sich das vorstellen kann.«

Einige Schüler begannen, auf ihren Sitzen herumzurutschen. »Was?«, hörte ich jemanden murmeln.

»Jeder Untote kann wahllos Seelen nehmen, um seinen Tod ein wenig hinauszuzögern«, erklärte der Lehrer. »Aber die Bruderschaft hat es auf die Spitze getrieben. Wir glauben, dass sie schon genug Seelen geraubt haben, um ihre natürliche Existenzspanne von einundzwanzig Jahren deutlich zu erweitern. Dass sie sogar über Jahrhunderte hinweg überlebt haben. Sie töten, um zu leben. Das Ergebnis ist, dass sie bloße Hüllen sind, menschlich nur noch vom Aussehen her.«

»Wie viele gibt es?«, fragte Clementine.

»Wir glauben, dass es neun sind.«

Genau wie die Schwestern, dachte ich.

»Aber sie sind nicht sesshaft«, erklärte Monsieur Orneaux. »Wir wissen nicht, wo sie sind. Wir wissen nicht, wer sie sind. Doch was sie wollen, das wissen wir.«

»Und das wäre?«, fragte Noah.

Bei seiner Antwort richtete Monsieur Orneaux den Blick auf mich. »Freiheit. Sie wollen wieder menschlich sein. Sie wollen ihre Seelen zurück. Nicht nur vorübergehend, sondern für immer. Sie wollen die Unsterblichkeit und sie werden alles tun, um sie zu erlangen. Deshalb haben sie Les Neuf Sœurs ermordet. Um an ihr Geheimnis zu kommen.«

»Bitte?«, rief ich. »Aber warum sollten sie jemanden umbringen, wenn sie Informationen wollten?«

»Bei jeder der acht Schwestern, die man tot auffand, war der Mund mit Mull ausgestopft.«

In der Klasse erhob sich ein Raunen. »Mull?«, hörte ich jemanden fragen. »Wieso Mull?«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich. Meine Eltern waren so gestorben und Miss LaBarge. »Ist es nicht eine ganz normale Praktik von Wächtern, sich zum Schutz vor dem Kuss des Untoten Mull in den Mund zu stopfen?«

Im Klassenzimmer konnte man jetzt eine Stecknadel fallen hören. Alle starrten mich an.

»Nein«, sagte Monsieur Orneaux. »Hierbei handelt es sich um eine Foltermethode, die einige wenige Untote für ihre Opfer reserviert haben.«

»Folter?«, hauchte ich. »Was meinen Sie damit?«

»Es funktioniert wie ein simpler Knebel, besonders grausam, weil es sich der Waffe des Opfers bedient. Das Liberum hat die Schwestern nicht gleich getötet, sie haben sie vorher gefoltert. Die Autopsieberichte deuteten genauso darauf hin wie die Beschreibungen vom Tatort. Jede der Schwestern hat unendliche Qualen erlitten, bevor sie endlich sterben durfte.«

»Was?« Die Stimme war so leise, dass ich sie kaum als meine erkannte. »Aber mein Großvater hat gesagt –«

Monsieur Orneaux’ Blick flackerte gereizt. »Er hat sich getäuscht.« Damit griff er sich seine Notizen und setzte seinen Vortrag fort.

Draußen auf dem Fensterbrett plusterte ein Taubenpärchen sein Federkleid und flatterte hinab zum Brunnen. Ich sah ihnen beim Planschen zu. Sowohl meine Eltern als auch Miss LaBarge hatte man mit Mull im Mund aufgefunden. Hieß das, dass sie gar nicht bei einem gewöhnlichen Wächter-Arbeitsunfall umgekommen, sondern erst gefoltert und dann ermordet worden waren?

Das Läuten der Glocke beendete die Unterrichtsstunde.

Ich blieb zurück, in Gedanken versunken, als schon alle aus dem Zimmer strömten. In dem Brief aus Miss LaBarges Häuschen hatte meine Mutter geschrieben, dass sie einen Hinweis auf das verschwundene Mädchen gefunden habe. Verschwundenes Mädchen. Mein Großvater hatte das für einen codierten Ausdruck für einen Untoten gehalten, doch je länger ich darüber nachdachte, desto eher glaubte ich, dass damit die neunte Schwester gemeint war. Und den Zeitungsausschnitten und Landkarten im Häuschen nach zu schließen war auch Miss LaBarge auf irgendeiner Suche gewesen.

War es möglich, dass meine Eltern und Miss LaBarge die Unsterblichkeit entdeckt und dafür mit dem Leben gezahlt hatten? Aber vielleicht hatte man sie gar nicht ermordet. Hatte ich Miss LaBarge nicht auf ihrer eigenen Beerdigung gesehen? Oder wie sie einen grauen Peugeot durch die Straßen von Montreal gelenkt hatte? Meine Brust bebte, als das Unmögliche plötzlich möglich schien: Hatten sie und meine Eltern das Geheimnis vielleicht benutzt und waren jetzt unsterblich?

Ein männliches Räuspern holte mich zurück auf die Erde. Erschrocken wirbelte ich herum und sah Noah neben meinem Stuhl stehen.

»Hi«, sagte er mit tiefer, glatter Stimme, wie das untere Register eines Cellos.

Ich schaute aus dem Fenster. Der Hof draußen war überschwemmt mit Schülern, die sich um den Brunnen drängten.

»Warum wirst du immer so rosa, wenn ich mit dir spreche?«

Mein Gesicht wurde spürbar heißer. »Da, bitte schön, jetzt bin ich rot«, lächelte ich verlegen.

Er lachte. »Wie wär’s mit einem Kaffee?«

»Oh, nein«, erwiderte ich hastig und zog meinen Rucksack über eine Schulter. »Hab schon was vor.« Obwohl meine Pläne lediglich darin bestanden, am Flussufer auf Dante zu warten.

»Was denn?«

»Ach – äh – was Privates.«

»Schon in Ordnung«, sagte er und rückte mit einem kleinen Diener meinen Stuhl nach hinten.

Ich machte mich auf in den Flur, Noah mir auf den Fersen. Ich dachte kurz nach, dann drehte ich mich um. »Möchtest du mich was fragen?«

Noah war näher hinter mir, als ich erwartet hatte: Sein Gesicht war nur Zentimeter von meinem entfernt. »Wie kommst du darauf?« Sein warmer Atem kitzelte mich in der Nase. »Darf ich nicht mit dir denselben Gang entlanggehen?«

»Klar doch.« Das warf mich aus dem Konzept.

»Aber stimmt schon«, gab er zu und rückte sich die Brille zurecht. »Ich wollte mit dir sprechen. So schlimm?«

Ich legte den Kopf schief und sah ihn misstrauisch an.

»Okay, ich geb zu, ich hatte durchaus Hintergedanken.«

»Und die wären?«

»Erzähl ich dir beim Kaffee.«

»Weißt du, ich hab einen Freund.«

»Und ich hab eine Freundin. Ganz schön anmaßend von dir, das hier gleich unter Flirten zu verbuchen.«

Ich sah ihn aus schmalen Augen an; versuchte herauszufinden, ob das jetzt tatsächlich ein Flirt oder einfach nur seine Art war.

»Also sind wir beide vergeben«, fasste Noah zusammen. »Und nachdem das geklärt wäre, können wir einfach Freunde sein. Und als solcher würde ich dich gern auf ein freundschaftliches Heißgetränk einladen.«

Ich konnte mir das Lächeln nicht länger verkneifen. »Meinetwegen.«

Und ehe ich mich versah, spazierten wir schon die Gassen am alten Hafen entlang, redeten und lachten, einfach so. Das hatte ich schon eine ganze Weile nicht mehr getan. Noah war aus Montreal. Er war in Outremont aufgewachsen, einem Wohngebiet jenseits des Mont Royal. Seine Eltern waren Professoren und Wächter. »Sie sind zwei ziemliche Rechthaber«, betonte Noah. »Diskutieren liebend gerne über Politik.«

Über mich gab ich nicht viel preis, nur die relevanten Details: Ich kam aus Kalifornien; nach dem Tod meiner Eltern war ich zu meinem Großvater nach Massachusetts gezogen. Wohler war mir dabei, etwas über Noahs Leben zu hören, das für mich so sonnig, so glücklich klang. Es erinnerte mich daran, wie meines einst gewesen war, vor langer, langer Zeit.

Es musste sich nicht immer um Leben und Tod drehen, erkannte ich, während er mir erklärte, wo in Montreal man den besten Kaffee serviert bekam. Für ein paar Stunden konnte ich ganz unbeschwert die kurvigen Straßen entlangschlendern und dabei darüber diskutieren, ob Hockey nicht viel besser sei als Basketball oder warum Madame Goût Monsieur Pollet auf Teufel komm raus Monsieur Polée nennen musste.

Gerade wollten wir eine Bäckerei betreten, als ich gegenüber auf der Straße ein Frauengesicht aufblitzen sah.

Noah ging vor und stieß unter Glockengeklingel die Tür auf, doch ich blieb wie angewurzelt stehen. Die Frau hatte mir jetzt ihren Rücken zugewandt. Ich beobachtete, wie sie den Bürgersteig entlangging, wartete darauf, dass sie sich umdrehte.

»Renée?«, fragte Noah hinter mir. »Kommst du?«

Die Ampel schaltete auf Rot; die Autos bremsten ab. Langsam drehte sich die Frau um und blickte mir ins Gesicht.

Jetzt musste ich wegschauen, völlig überwältigt.

»Sie ist es.« Ich versuchte, Noah zuliebe meine Stimme unter Kontrolle zu bringen.

»Wer?«

»Annette LaBarge. Meine alte Philosophielehrerin vom Gottfried. Die, die im August gestorben ist.«

»Was?« Er ließ die Tür los. Sie flog so heftig zu, dass die Jalousie wackelte.

Er folgte meinem Blick die Straße entlang, wo Miss LaBarge gerade in der Touristenmenge unterging.

»Wie kann das sein?«, fragte Noah.

»Weiß nicht«, rief ich über meine Schulter zurück, schon mitten in der Verfolgungsjagd.

Er eilte hinter mir her. »Bist du dir sicher, dass sie’s ist?«

»Ja.« Ich reckte meinen Hals, um über die Menschen hinauszuspähen. Miss LaBarge war ein paar Meter vor uns, zog mit ihrem bauschigen Wallerock zügig durch die Innenstadt.

»Hat sie dich gesehen?«

»Nein. Schien jedenfalls nicht so.«

»Warte«, sagte Noah und hielt mich zurück, gerade als ich ihr in ein einsames Gässchen folgen wollte.

»Was soll das?« Ich riss mich los. »So verlieren wir sie.«

»Jetzt denk mal kurz nach«, sagte er. »Sie will doch eindeutig nicht, dass jemand weiß, dass sie hier lebendig rumläuft. Sonst hätte sie mit irgendwem Kontakt aufgenommen. Richtig?«

Widerwillig nickte ich.

»Also schalten wir einfach einen Gang zurück. Bleiben auf Abstand. Schauen mal, was sie macht.«

Also taten wir genau das. Wir wahrten einen großzügigen Abstand und folgten ihr so bis in die Innenstadt von Montreal, was sich anfühlte wie eine Reise in die Zukunft. Anstatt der malerischen Gemäuer am alten Hafen umgaben uns hier gläserne Hochhäuser und teure Designertempel. Hier sah man nur Anzug- und Headsetträger, die möglichst schnell vonA nach B wollten.

Wir folgten ihr, bis sie vor einem großen Gebäude stehen blieb. An einer Ecke nahe einer Bushaltestelle befand sich eine unauffällige Tür mit Scherengitter davor. Sie ging darauf zu, zog das Gitter auf, trat ein und schloss es wieder hinter sich.

»Was ist das denn?«, fragte ich, als sie einen Knopf drückte und hinter ihr eine Schiebetür zufuhr.

»Das ist ein Aufzug in den Untergrund«, erklärte Noah, als sie unter der Straße verschwunden war.

»Dann kann sie nicht untot sein. Sie muss lebendig sein, völlig lebendig meine ich, um unter die Erde zu gehen. Wir müssen ihr nach.«

»Da gibt’s noch einen anderen Weg hinunter.«

Wir hasteten in einen dépanneur, einen echten Familienbetrieb. Der Laden quoll fast über; an den Fenstern stapelten sich Fertigmahlzeiten, Reinigungsmittel und ein paar billige Weine. Hinter der Theke sortierten zwei Chinesinnen Plastiktüten.

»Hallo, Mrs Cho«, sagte Noah, während er an ihnen vorbeizog. »Nur auf eine Minute«, erklärte er etwas atemlos.

Die Ältere der beiden nickte.

Ich lächelte sie dankbar an, aber Noah zerrte mich weiter. »Hier geht’s lang.« Er fädelte sich durch die Regalreihen mit Cornflakes, Geschirrspültabs und Tee, bis wir im hinteren Bereich des Geschäfts angekommen waren. Hinter den Regalen befand sich eine angelaufene Glastür, genau wie die bei den Tiefkühlwaren im Supermarkt, nur größer, wie eine richtige Wohnungstür. Noah zog sie auf. »Bitte eintreten«, sagte er und schloss die Tür wieder hinter uns.

Drinnen war es eisig. Ein lang gezogener, schmaler Raum, randvoll mit Bierflaschen. Ihr farbiges Glas reflektierte das schwache Licht.

»Wo sind wir hier?«, fragte ich, kniete mich neben die Tür und wischte mir ein Guckloch ins Glas, um nach draußen zu blicken. Hinter dem Tresen waren die Frauen jetzt mit ihrer Kasse beschäftigt und wirkten nicht im Mindesten davon beeindruckt, dass wir gerade an ihnen vorbeigerannt und in ihren Eisschrank gestiegen waren.

Noahs Brille war beschlagen. Er nahm sie ab, presste die Augen zusammen und rieb die Gläser an seinem Hemd. »Der Bierkühlschrank. Viele deps haben so einen. Komm.«

Zwischen den Bierkästen gab es einen schmalen Durchgang. Noah schritt voran. »Das hier ist wirklich gut.« Er deutete auf ein dunkles Stout. »Oh, und das hier«, ergänzte er und lüpfte eine große rote Flasche mit Korkverschluss.

Am Ende des Raums befand sich eine Stahltreppe. Noah schob uns ein paar Kisten aus dem Weg und ich folgte ihm, fegte mit den Händen den Staub vom Geländer.

»Et voilà«, deutete er auf den düsteren Tunnel am Fuß der Treppe. »Der Untergrund.«

Ein unbehagliches Gefühl lähmte mich, als ich hinunterblickte und an meine Friedhofsvision denken musste, an das erstickende Gefühl im Loch. Doch das konnte ja nicht ich gewesen sein. Ich schüttelte den Gedanken ab und eilte die letzten Stufen hinab.

Beinahe eine Stunde lang durchstreiften wir das Tunnellabyrinth, vorbei an Geschäftsfrauen, Anzugträgern, Müttern mit Kinderwagen und Milkshake schlürfenden Teenagern. Aber wir fanden sie nicht. »Du hast sie doch gesehen, oder?«, fragte ich Noah und blieb endlich stehen. »Ich spinne doch nicht. Du hast sie auch gesehen.«

»Ja, da war jemand. Aber vielleicht war es nicht Annette LaBarge. Vielleicht sieht sie ihr einfach sehr ähnlich. Das gibt’s öfter.«

»Vielleicht«, gab ich zu und spähte ein letztes Mal den Tunnel entlang.

»Ich hab sie ja nie wirklich getroffen«, fuhr er fort. »Ich kenn nur die Bilder aus der Zeitung. Du kennst sie besser als ich.«

Sie war es, dachte ich. Oder vielleicht auch nicht. Sicher war für mich gar nichts mehr. Denn wie konnte es Miss LaBarge gewesen sein? Ich war selbst bei ihrer Bestattung dabei gewesen.

Irgendwann wusste ich, dass es keinen Sinn mehr hatte, und Noah führte mich durch einen engen Tunnel zum Ausgang beim St. Clément.

Es war schon fast Zeit zum Abendessen, als wir am Tor ankamen, aber ich wollte noch nicht zurück. Wohin auch? Zu meinem leeren Zimmer? Den Stapeln von Bibliotheksbüchern auf meinem Schreibtisch, über denen ich schon das ganze Semester vor mich hin brütete? Ich blickte zu Boden, kickte einen Stein die Straße hinunter und beobachtete, wie er in einem Kanalgitter verschwand.

»Unser Kaffee steht noch aus«, sagte ich und hielt an, bevor wir die Pforte erreichten. »Du hättest wohl keine Lust, mit mir essen zu gehen?«

Noah grinste. »Klar.«

Er führte mich zu einem italienischen Feinkostladen in der Nähe der Schule. Alles hier drinnen war winzig, in Döschen abgefüllt oder in Papier eingeschlagen und verschnürt. Die Männer hinter der Theke trugen weiße Metzgerschürzen. Eine Ecke stand völlig im Zeichen der Ravioli.

»Wonach ist dir?«, fragte Noah, als er mit federndem Schritt durch die Regale tänzelte.

Ich biss mir auf die Lippe. Ich wollte lieber nicht verraten, worauf ich eigentlich Lust hatte. »Kuchen?«

Er sah mich an und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Mir auch. Und nach Oliven. Ach, und nach Spaghetti auch.«

Im Zickzack zog er durch den Laden, griff sich Dinge aus den Regalen und türmte sie in meinen Armen, bis ich kaum noch sah, wo ich hinsteuerte. Eine Stangensalami. Ein Stück Käse. Eine Packung mit grünen Feigen. Eine Box Fertigspaghetti mit Pesto. Und aus der Backecke ein Stück Rhabarberkuchen mit einem Becher Vanilleeis dazu.

Vor Lachen ließ ich dauernd Sachen herunterfallen, als er mir die Einkäufe abnahm und bei der Kasse ablegte.

Während Noah mit dem Verkäufer herumscherzte, schaute ich aus dem Fenster. Die Straßenlaternen waren noch nicht angeschaltet, aber wie ich hinausblickte, erschien etwas Blasses aus der Dunkelheit und trat auf den Laden zu. Ich beugte mich vor und spähte in die Nacht. Ein Auto fuhr vorbei; die Scheinwerfer schmiegten sich um den Schattenriss eines Jungen, seinen Oberkörper, der sich auf mich zubewegte.

Mein Lächeln wurde schal und verschwand. Dante, formten meine Lippen, während ich auf seinen Umriss starrte, seine Arme, seine Brust, sein Gesicht auszumachen versuchte.

»Renée.« Noah beugte sich zu mir.

Dante musste ihn neben mir entdeckt haben, denn er blieb augenblicklich stehen.

Das Käsestück fiel mir aus der Hand. Nein, dachte ich. Geh nicht.

Als ich zur Tür hinausrannte, ließ ich auch noch die Feigen fallen, aber ich kümmerte mich nicht darum. »Tut mir leid«, sagte ich zu Noah, der sich danach bückte. »Bin gleich wieder da.« Und schon war ich draußen.

»Warte!«, brüllte ich, doch als ich auf dem Gehsteig stand, war Dante nirgends zu entdecken. Verzweifelt rannte ich auf die Mitte der Fahrbahn, schaute mich wild in alle Richtungen um. Er war weg.

Durch das Schaufenster des Geschäfts konnte ich einen verwirrten Noah herausblicken sehen. Ich stopfte meine Hände in die Hosentaschen und wollte zurückgehen, als ich am Telefonmast, wo Dante eben gestanden hatte, etwas entdeckte. Ein Flyer war daran befestigt; seine Ecken flatterten im Wind. Mir fiel die Kinnlade hinunter, als ich ihn glatt strich und die lateinischen Worte las, die mit dickem Filzstift über die Werbung gekritzelt waren. Ich übersetzte:

WARTE AUF MICH .

»Bist du okay?«, fragte Noah, als ich wieder hereinkam. »Du wirkst, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Hab ich wohl auch«, sagte ich leise, während meine Gedanken Achterbahn fuhren. Hatte Dante die Nachricht für mich hinterlassen? Wie viele Leute verteilten schon in der Stadt Botschaften auf Latein?

»Warum bist du rausgerannt?«

Ich schwieg, versuchte, Dante zu spüren, aber da war nichts, nicht die leiseste Ahnung seiner Gegenwart, nirgendwo. Vielleicht drehte ich langsam durch. Vielleicht war er überhaupt nicht da gewesen. »Jemand, den ich lang nicht gesehen hatte.«

Warte auf mich, schien der Wind zu flüstern, als wir nach draußen traten. Auch wenn Dante es nicht geschrieben hatte, warten würde ich.

Wir spazierten zu einem kleinen begrünten Innenhof in der Nähe und setzten uns auf den Boden, umgeben von ein paar kahlen Bäumen, an die sich nur noch wenige hartnäckige gelbe Blätter klammerten. Hinter uns stand ein Brunnen, auf dem ein steinerner Junge die Flöte spielte und die Nacht mit gleichmäßigem, ruhigem Geriesel erfüllte. Wie klang das, eine Flöte? So sehr ich mich auch bemühte, es fiel mir nicht mehr ein.

Noah lockerte den Knoten seiner Krawatte und entblößte die Sommersprosse auf seinem Hals. Er reichte mir eine Gabel.

Die Straßenlaternen erhellten sein Gesicht. »Bon appétit«, sagte er.

Als er mir ein Glas schäumenden Apfelwein einschenkte, fiel mir wieder etwas ein. »Du hast heute am Ende der Schulstunde gemeint, du hättest Hintergedanken gehabt bei deiner Kaffeeeinladung. Was denn für welche?«

»Ich wollte dich fragen, was du neulich in dem Krankenhaus gemacht hast. Mit Anya.«

»Oh.« Sofort bereute ich meine Frage.

Ich starrte auf meinen Kuchen, der trotz aller Gelüste nach nichts schmeckte. Ich könnte ihm etwas vorlügen. Ihm erzählen, dass ich dort jemanden besucht hatte.

»Du hast dort niemanden besucht«, sagte Noah.

Ich biss die Zähne zusammen. Gut, das war schon mal nichts. Aber ich konnte mich immer noch hinauswinden. Oder ihm ganz einfach die Wahrheit anvertrauen. Ich spürte seinen Blick auf mir. Gerade war er mit mir durch die ganze Stadt gerannt, weil ich geglaubt hatte, Miss LaBarge gesehen zu haben.

Ich griff in meine Tasche und befühlte das Stück Papier, auf das ich beide Teile des Rätsels notiert hatte. Ich erzählte ihm von meinen Visionen, vom Krankenhaus und vom Friedhof, wie ich beide aufgesucht und das Rätsel entdeckt hatte. Dante und Clementine sparte ich aus. »Und das Grab war da, genau wie ich es in der Vision gesehen hatte.«

»Du machst Witze.« Sein Blick fing meinen ein.

»Nein«, sagte ich leise.

»Das kann nicht sein«, sagte er und lächelte schwach, um seine Unsicherheit zu überspielen. »Ich dachte, diese Unsterblichkeitsgeschichte wäre einfach eine Legende.«

Ich zog das Blatt mit den Versen aus meiner Tasche und reichte es ihm. Er faltete es auf, breitete es auf dem Boden aus und las die Inschriften.

 

lass dich, um ihm nachzuspüren,

von des Bären Nase führen

hinab in feuchte Salzesnacht;

 

zur Ruh’ gebettet ist’s bewahrt,

denn nur dem Besten unsrer Art

sei es vermacht.

 

Eine lange Weile sagte Noah gar nichts. »Das hast du wirklich gefunden? Du hast dir die nicht einfach ausgedacht?«

»Warum sollte ich mir die ausdenken?«

Das Lächeln rutschte ihm vom Gesicht. »Keine Ahnung.«

Ich rückte näher an ihn heran und beugte mich über das Blatt. »Ich hab ewig drüber nachgedacht, was das heißt, aber ich komm nicht drauf. Auf dem Friedhof gibt’s nirgendwo Wasser, nur einen Trinkbrunnen.«

Er hielt die Zeilen ins Licht, las sie leise noch einmal und sah mir dann in die Augen. »Natürlich liegt das Geheimnis nicht in dem Grab. Schau.« Er deutete auf die Zeile zur Ruhgebettet ists bewahrt. »Wenn diese Zeile für sich alleine auf einem Grabstein stünde, würde man schon glauben, dass das Geheimnis buchstäblich in diesem Grab liegt. Aber wenn man’s zu dem Rätsel aus dem Krankenhaus dazunimmt, ändert sich die Bedeutung.«

»Der Grabstein markiert überhaupt nichts«, erkannte ich, als ich das Blatt betrachtete.

»Genau«, sagte Noah. »Auf dem Friedhof liegt es nicht begraben. Das ist nur ein Trick, damit alle, die danach suchen, genau das glauben. Aber da ist es nicht. Es liegt in Salzwasser. Vielleicht im Meer. Das Problem ist, dass dir der letzte Teil fehlt, und ich schätze, der ist in Wirklichkeit der erste Teil. Schau dir mal die Zeichensetzung an.«

»Wie willst du wissen, dass nur noch ein Rätselteil übrig ist?«, fragte ich. »Was, wenn es noch mehr gibt?«

»Glaub ich nicht«, sagte er. »Wenn es drei Rätsel gibt und jedes drei Zeilen lang ist, dann sind das zusammen neun Zeilen. Eine für jede Schwester. Und das Grabsteinrätsel besagt nur, dass das Geheimnis allein von Wächtern entdeckt werden kann«, erklärte Noah. »Dem Besten unsrer Art muss bedeuten, dass nur der beste Wächter es finden wird.« Noahs Blick fiel auf mich. »Also du.«

Ich zog meine Knie heran und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nur am St. Clément die Nummer eins. Es gibt haufenweise ältere, bessere Wächter als mich. Ich hab ja noch nicht mal das mit dem Rätsel ohne deine Hilfe zustande gebracht.«

»Alle Wächter arbeiten in Paaren …«, sagte er und fixierte mich mit seinem Blick.

Mir schoss das Blut in den Kopf und ich richtete meine Augen rasch auf mein fast unberührtes Essen. Ich hätte geschmeichelt sein sollen, aber stattdessen überwältigte mich mein Schuldgefühl. »Und du hast Clementine«, flüsterte ich.

»Richtig«, sagte er, und da saßen wir, in unbehagliche Stille gehüllt. Noah schnitt noch mehr Käse ab, während ich mich im Innenhof umsah und mich fragte, ob uns vielleicht Dante genau in diesem Moment beobachtete, auf irgendeine Art.

»Uns bleibt nur eines: Wir müssen ein Salzgewässer finden, das irgendeine Art von Bären in der Nähe hat. Eins, das nur Wächter finden können.«

»Oder wahlweise eins, das die Untoten nicht finden können. Die Untoten gehen im Wasser nicht unter«, sagte ich. Ich senkte den Blick, als mir der auf dem Wasser treibende »Tote Mann« aus dem Turnunterricht letztes Jahr wieder einfiel. Da hatten wir gelernt, dass jede Person, die stirbt oder wiederaufersteht, an die Oberfläche treibt. »Es muss irgendwo unter Wasser begraben sein.«

»Da könntest du richtigliegen«, sagte Noah und seine Hand streifte meine, als er mir das Papier zurückreichte. »Was gibt’s dort zu finden, glaubst du?«

Vor meinem inneren Auge folgte ich Miss LaBarge zu einer Hütte, in der sie sich versteckt hielt. Als sie mir die Tür öffnete, warteten hinter ihr meine Eltern, die mit tränenverschleiertem Blick auf mich zustürzten und mich in die Arme schlossen. »Warum hast du so lange gebraucht?«, wollten sie wissen. Dann dachte ich an Dante, wie ich ihn in aller Öffentlichkeit traf, auf den Straßen von Montreal. Wie er mich gegen die Wand meines Wohnheimzimmers drückte und küsste. Ich sah uns in zehn Jahren, wie wir nebeneinander einschliefen, wie sich unsere Brustkörbe miteinander senkten und hoben. Ich stellte mir vor, wie er aussehen würde, wenn er älter wurde. Ich griff mir eine Feige, zwirbelte an ihrem Stiel herum. »Das Glück.«

Noah betrachtete mich durch seine Brillengläser, als ob er eine neue Seite an mir entdeckt hätte. Plötzlich sagte er: »Ich mag dich.«

Ich war so verdattert, dass es mir die Sprache verschlug. Ich liebte Dante. Er war mein Seelengefährte. »Es tut mir leid«, sagte ich leise, »aber ich –«

»Nein, mir tut es leid«, sagte er und versuchte, uns aus der Situation herauszumanövrieren. »Ich habe gemeint, ich kenne sonst niemanden, der so was mit mir anstellen würde.«

Ich stützte meine Wange auf meine Faust. Was wollte er damit sagen?

Er lehnte sich auf die Handflächen zurück. »Eine Frau durch den Untergrund jagen. Einen kompletten Feinkostladen leer kaufen, sich in irgendeinen Innenhof auf den Boden hocken und alles direkt aus der Packung futtern. Und mir abschließend zum Nachtisch eine paar kryptische Botschaften servieren, die zum Geheimnis der Neun Schwestern führen könnten.«

»Ich hab ja fast gar nichts gegessen«, sagte ich. »Und außerdem übertreibst du.«

Noah lachte. »Das stimmt ja wohl nicht. Ich kenn sonst keine Mädchen, die durch einen geheimen Tunneleingang in ein Krankenhaus einbrechen, sich in ein Krankenzimmer schleichen, in dem auch noch jemand schläft, und dann unters Bett kriechen, um dort eine Gravur durchzureiben.«

Ich wollte ihm erzählen, dass ich neulich Nacht Clementine in ähnlicher Mission auf dem Friedhof getroffen hatte, aber aus irgendeinem Grund tat ich es nicht. Vielleicht gefiel mir die Art, wie Noah mich ansah: als gäbe es sonst niemanden auf der Welt. Es erinnerte mich daran, was ich mit Dante haben könnte.

»Du weißt, dass das auch nicht mein gewöhnliches Abendprogramm ist«, sagte ich. »Meistens sitz ich alleine in meinem Zimmer und wünsche mir ein anderes Leben.«

»Das glaub ich dir nicht.«

»Stimmt aber«, sagte ich. »Ich mach das nicht aus Spaß.«

»Warum tust du es dann?«

Dante, schrie mein Herz. »Wohl so was wie ein unmöglicher Traum.«

Ich zitterte. Noah zog seine Jacke aus und legte sie mir um die Schultern.

»Steht dir gut«, sagte er.

»Noah«, warnte ich sanft.

Bevor ich weiterreden konnte, nahm Noah mir die Worte aus dem Mund. »Du bist vergeben, ich weiß, ich weiß. Aber ein Kompliment in aller Freundschaft wird ja noch drin sein, oder?«

»Was ist mit Clementine?«

Noahs Lächeln verschwand von einer Sekunde auf die andere.

»Entschuldigung.« Hätte ich sie nur nicht erwähnt. »Das geht mich nichts an, ich hätte nicht fragen sollen.«

»Nein«, sagte er schnell. »Ist völlig in Ordnung. Nur schwer zu erklären.«

Ich beugte mich vor und umschlang meine Beine. »Das Gefühl kenn ich.«

»Als wir uns das erste Mal etwas länger unterhalten haben, wusste ich, dass sie einzigartig ist. Sie hatte diesen unfassbar schneidenden Geist und irgendwas an ihr hat mich einfach nicht mehr losgelassen. Sie hat mich ständig herausgefordert, wenn ich etwas falsch gemacht habe; hat mich immer angetrieben, besser, stärker, schlauer zu sein. Sie wird immer ihren Willen kriegen, mit weniger gibt sie sich nicht zufrieden. Das hab ich geliebt an ihr.«

»Geliebt? Vergangenheitsform?«

»Ich liebe sie immer noch«, sagte er. »Aber nicht mehr so wie am Anfang. Wenn wir zu zweit sind, will sie nur so Pärchenkram machen. Filme anschauen, schick essen gehen. Aber sie will keine Abenteuer. Sie will keinen Spaß haben. Dieses Feuer, das sie früher hatte, das ist fast völlig erloschen. Ein Jahr sind wir jetzt zusammen und sie möchte immer nur arbeiten, die Beste sein.« Er hielt inne und stocherte in seinen Spaghetti herum. »Sie meint immer, alles, was sich lohnt, ist schwer.«

»Da hat sie ja recht«, sagte ich zu meiner eigenen Überraschung.

»Aber sollte eine Beziehung denn schwer sein?«, fragte Noah.

Um uns herum gurrten die Tauben von den Dächern, doch in meinen Ohren war es einfach nur Lärm. Das Mondlicht drang durch das Wasser im Brunnen, aber seine Schönheit blieb mir verschlossen, so lange ich auch draufstarren mochte. Und das Essen, auf das ich so wild gewesen war, stand jetzt unberührt vor mir. Vielleicht wäre das Leben mit einem anderen Jungen einfacher, doch Dante war der Einzige, der verstand, wie zerbrechlich das Leben war, wie schnell es vorbei sein konnte. Ihm war es gleich, ob ich der beste Wächter der Schule war oder ob ich lustig genug oder wild genug war; er genoss einfach meine Gesellschaft. Er wusste, wie man ein einziges lateinisches Wort zu einem Gedicht machen konnte, wie man die Vergangenheit zum Leben erwecken und einem das Gefühl schenken konnte, dass die Gegenwart viel zu schnell verstrich. Er hatte mich fühlen lassen. Ohne ihn war die Welt nichts als Staffage aus Papier.

Ich spürte, dass Noah auf meine Antwort wartete. Aber wie sollte ich ihm beibringen, dass ich gar nicht auf Abenteuer aus war? Dass ich nur nach einer Möglichkeit suchte, mit Dante gemeinsam alt werden zu können, damit wir zusammen Filme schauen und schick essen gehen konnten? Ich sehnte mich nach genau denselben Dingen wie Clementine – nur dass ich wusste, dass ich sie nie haben würde.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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