Der Name im Briefkasten
Dezember in Montreal, das hieß Dunkelheit und Ödnis, das hieß Wind, so stark, dass er einen Menschen umblasen konnte, und Schnee, der Parkuhren und Fahrradständer unter sich begrub. Vom Fenster unseres Klassenzimmers aus wirkte die Stadt verlassen wie nach dem Weltuntergang. Und für mich entsprach das ganz der Wirklichkeit. Die Welt, die ich zu kennen geglaubt, die Dante bunt gemacht hatte, war jetzt verschwunden und alles fühlte sich leer und beliebig an. Jeden Morgen war es schwerer, aus dem Bett zu kommen. Die Aussicht, noch einen Tag überstehen zu müssen, war schwer zu ertragen. Ich konnte mich kaum aufs Lernen für die Abschlussklausuren konzentrieren und jedes Mal, wenn diese Stimme in mir schrie: Such die neunte Schwester!, verbot ich ihr den Mund. Die Neun Schwestern waren nicht mehr als eine Gruppe kluger Frauen, die irgendein literarisches oder politisches Geheimnis bewahrt hatten. Die Unsterblichkeit war eine Legende. Und selbst wenn nicht, warum danach suchen? Mein einziger Grund für die Suche war Dante gewesen, weil ich für immer mit ihm zusammen sein wollte. Doch ich wusste nicht, ob das immer noch mein größter Wunsch war.
Nach der Nacht im Kino wurde zwischen Noah und mir alles anders, obwohl es so leise geschah, dass man es kaum festmachen konnte. Wir gingen noch zusammen spazieren oder stapften nach dem Unterricht durch die matschigen Straßen, um etwas zu essen oder bei Espressomaschinengesurre mit Anya an wackligen Tischen für die Klausuren zu büffeln. Nach außen schien alles beim Alten. Ich erzählte Noah nichts von Dante, aber er schien sich sein Teil zu denken. Da war irgendetwas an der Art, wie er mich betrachtete, wenn er sich unbeobachtet glaubte.
»He, vielleicht war die neunte Schwester ja Ärztin«, schlug er mitten im Lernen vor, als er mich dabei ertappte, wie ich durchs Fenster einem Schneepflug nachstierte. »Vielleicht war das Rätsel deshalb im Royal Victoria versteckt.«
Ich zuckte die Achseln. »Kann sein.«
»Oder vielleicht war sie schwer krank«, schlug Anya vor, »und hat das Rätsel unter ihrem Bett versteckt.«
Noah kratzte sich am unrasierten Kinn. »Scheint alles irgendwie möglich. Wir könnten die Krankenhausakten durchgehen. Was meinst du, Renée?«, versuchte er mich einzubeziehen.
»Klar«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Klar, klingt gut.«
»Super«, sagte er. »Freitag nach der Schule? Vielleicht können wir hinterher bei meinen Eltern alle was Süßes abstauben. Gehen wir’s mal locker an.«
»Locker«, murmelte ich. Konnte irgendetwas locker sein in einer Beziehung? Alles Wichtige verlangte Einsatz und Zeit, aber aus unerfindlichen Gründen schien mir das nicht mehr so einleuchtend, seitdem ich im Kino neben Noah aufgewacht war. Ich musste mit Dante sprechen. Er musste mir versichern, dass er Miss LaBarge nicht getötet hatte, dass es irgendeine vernünftige Erklärung gab.
Ehe ich mich versah, waren die Prüfungen vorüber. Während vor meinem Fenster der Schnee vorbeitrieb, packte ich einen einzigen Koffer und schleifte ihn über den Hof. Ich wartete auf ein Taxi zum Heranwinken, da hörte ich hinter mir das Knirschen von Schritten im Schnee.
»Wolltest du dich jetzt gerade für drei Wochen verdrücken, ohne dich auch nur zu verabschieden?«, fragte Noah mit tiefroten Wangen.
»Ich dachte, du sitzt noch in der Prüfung«, erklärte ich, als ein Taxi an den Gehsteig ranfuhr und der Kofferraum aufklappte.
Noah schüttelte den Kopf. »Ich hab in meinem Zimmer gesessen und dich rausgehen sehen. Dachte echt, du wirst gleich weggeblasen.«
Lachend wuchtete ich meinen Koffer hoch. »Mit dem hier bestimmt nicht.«
»Lass mich das machen«, sagte er, aber ich hielt ihn außer Reichweite.
»Das schaff ich schon«, sagte ich und hievte ihn unelegant in den Kofferraum.
»Klar.« Er stopfte sich die Hände in die Taschen. »Na klar schaffst du das.«
Die Autoabgase qualmten in die Kälte, als wir so dastanden und uns nicht richtig ins Gesicht schauen konnten. »Also, dann sehen wir uns, wenn du wieder da bist?«, fragte Noah, als hätte ihm etwas anderes auf der Zunge gelegen, was er sich dann aber verkniffen hatte.
»Klar.« Was hätte ich sonst auch erwidern sollen?
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Fein.«
»Fein.«
Noah wollte mir die Tür aufmachen, doch ich kam ihm zuvor und unsere Finger berührten sich am Türgriff. »Oh, du musst mir nicht –«
»Klar. ’tschuldigung.«
Nachdem ich die Tür zugeschlagen hatte, fegte er ein bisschen Schnee vom Fenster und winkte zum Abschied. Und fort war ich.
Nach der Ankunft am Flughafen gab ich meinen Koffer auf und bestieg eine klapprige kleine Propellermaschine, in der es nur eine Toilette und eine Stewardess gab.
Wir kletterten empor in die Wolken, und wo sich eben noch die Gebäude von Montreal abgezeichnet hatten, war jetzt nur noch Weiß.
Mein Sitznachbar war ein College-Schüler, der mit seinem ausgeleierten Pulli aussah wie eben aus dem Bett gefallen. Er las Dantes Inferno. Als er mich beim Starren erwischte, lächelte er. »Gelesen?«, fragte er und sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu meinen Strümpfen.
Ich zerrte meinen Rock nach unten. »Nein«, sagte ich schnell und flüchtete unter die Kopfhörer.
Massachusetts lag völlig unter weißem Gestöber verborgen. Dustin nahm mich mit einem Take-away-Becher Kakao und einer innigen Umarmung in Empfang und bestand darauf, meinen Koffer zum Auto zu tragen.
Die kahlen, vereisten Bäume bildeten einen Baldachin über den Straßen, als wir westwärts Richtung Haus Wintershire fuhren. Während der Fahrt fragte mich Dustin über Montreal und das St. Clément aus. Im Hintergrund dudelte Weihnachtsmusik aus dem Radio. Wir kamen an gefrorenen Teichen vorbei, an Kirchen mit Krippenszenen davor und weißen Häusern im Kolonialstil, deren Besitzer schmale Trampelpfade zu den Türen freischaufelten.
Nach und nach gingen die Straßenlaternen an, als wir die Zufahrt zum Anwesen meines Großvaters hochfuhren. Die winterlichen Jutehüllen der getrimmten Büsche waren jetzt mit Schnee bedeckt. Doch nirgendwo war das Auto meines Großvaters zu sehen.
»Er ist dienstlich unterwegs, aber zum Essen wieder da«, erklärte Dustin, während er meinen Koffer herauswuchtete.
So war es dann auch. Als ich eine Stunde später die Treppe hinuntereilte, stand mein Großvater im Esszimmer und hängte gerade sein Dinnerjackett über die Stuhllehne.
»Ah, Renée. Willkommen zurück.« Immer musste er zurück sagen statt zu Hause.
»Danke.«
Dustin servierte uns ein herzhaftes Menü aus Schmorbraten und Spaghetti puttanesca. Mein Großvater stopfte sich die Serviette in den Hemdkragen und griff zu Messer und Gabel.
Ich starrte auf die Nudeln und musste an den Abend mit Noah im Delikatessengeschäft denken, wo ich Dante auf der Straße gesehen hatte. »Warte auf mich«, hatte er auf den Flyer geschrieben.
»Iss«, sagte mein Großvater. »Du siehst hager aus. Hager und erschöpft. Dem entnehme ich, dass sie dich am St. Clément auf Trab halten?«
Ich stocherte in meinem Essen herum, mochte es aber noch nicht mal kosten. »Du hast mir nie gesagt, dass es ziemlich selten vorkommt, dass ein Wächter mit Mull im Mund stirbt«, sagte ich. »Warum eigentlich nicht?«
Er hustete.
»Darf ich Ihnen etwas Wasser bringen?«, fragte Dustin aus seiner Ecke.
»Danke, nicht nötig.« Mein Großvater wischte sich den Mund ab und sah mir in die Augen. »Die Schule scheint ja einen umfassenden Lehrplan zu haben.«
»Wieso hast du so getan, als wäre es völlig normal, wie meine Eltern und Miss LaBarge umgekommen sind? Obwohl du wusstest, dass das nicht stimmt?«
»Ich wollte dich nicht noch mehr beunruhigen als ohnehin schon.«
»Aber du hast gewusst, dass sie wahrscheinlich vom Liberum ermordet worden sind. Wie konntest du mir das verheimlichen?«
Er schien überrascht, dass ich über die Bruderschaft der Untoten Bescheid wusste. »Ich wollte dich beschützen. Wenn das Liberum deine Eltern umgebracht hat, dann war es nicht unwahrscheinlich, dass sie dich auch erwischen würden. Es war leichter, dich im Dunkeln tappen zu lassen. Ich wollte verhindern, dass du dich aufmachst und nach ihnen suchst. Wahnwitzige Heldentaten dieser Art würde ich dir durchaus zutrauen.«
Er nahm die Gabel in die Hand und begann, an seinem Fleisch herumzusäbeln und es in großen Bissen zu verschlingen.
»Was hast du mir noch verschwiegen?«, fragte ich, während ich seine mahlenden Kiefer beobachtete.
Er trank einen Schluck Mineralwasser. »Pardon?«
»Als Rektor vom Gottfried musst du noch ganz andere Dinge wissen. Du hast mir nie wirklich was vom Wächterhochgericht erzählt. Von überhaupt gar nichts.«
»Darf ich dich daran erinnern, dass du diesen Sommer kaum geneigt warst, irgendwelchen meiner Ausführungen Gehör zu schenken? Du hast keinerlei Interesse an irgendetwas gezeigt, was sich außerhalb deines eigenen Kopfs abspielte.« Er zerrte sich die Serviette aus dem Kragen.
»Gehst du schon?«, fragte ich. Wir hatten uns erst vor ein paar Minuten hingesetzt.
»Ja«, sagte er. »Mein Teller ist leer und jetzt ruft mich die Arbeit.«
»Aber –«
»Wenn ich dir einen Vorschlag machen darf: Ich glaube, du solltest deinen Studienschwerpunkt anders wählen. Ich zahle die Schulgebühren, damit du deine Fähigkeiten als Wächter verbesserst.«
»Aber muss ich nicht über das Liberum Bescheid wissen, um ein besserer Wächter zu werden?«
»Keineswegs. Hier geht es erst mal darum, die Technik ordentlich zu erlernen, nicht Detektiv zu spielen. Für so etwas haben wir richtige Detektive.« Er schob seinen Teller zur Seite und bedeutete Dustin mit einem Nicken, dass er mit dem Abräumen beginnen könne.
Die nächste Woche verging wie im Flug. Dustin nahm es auf sich, mir das Kochen beizubringen. Jeden meiner Anläufe, mit meinem Großvater über irgendetwas zu sprechen – das Liberum, die Neun Schwestern, meine Eltern, Miss LaBarge –, durchkreuzte Dustin dadurch, dass er mich in die Küche zog, mit Nudelholz und Schürze ausstattete und mir Aufgaben zuteilte, als wollte er mich ablenken.
Wir begannen mit Marmeladentörtchen und das Mehl auf Arbeitsplatte und Fußboden sorgte dafür, dass es bei uns drinnen genauso aussah wie vor dem Fenster. Danach folgten Waldpilzsuppe und gefüllte Artischocken, bis ich schließlich zum Braten und Zerlegen eines Hühnchens promoviert wurde. Erst die Brust entlang schneiden, die Schenkel durchtrennen und dann die Flügel zerlegen. Das Kochen an sich war mühsam, doch das Hühnchenzerlegen ging mir leicht von der Hand und machte sogar ein bisschen Spaß, auch wenn ich das nie zugegeben hätte.
»Sie sind ein Naturtalent«, sagte Dustin mit Blick auf den Kadaver. Beim Anblick des Vogels hatte ich allerdings nur das Kanarienwappen vor Augen. So sehr ich es auch hinter mir lassen wollte, das Geheimnis der Neun Schwestern verfolgte mich noch immer. Meine Eltern, Miss LaBarge – sie hatten auf der Suche danach ihr Leben lassen müssen. Wenn ich mutiger wäre, würde ich weiterführen, was sie begonnen hatten. Ich würde meine Visionen durchkämmen, den fehlenden Hinweis auf die neunte Schwester finden und dann ihr Geheimnis enthüllen. Ich würde dafür sorgen, dass der Untote, der meine Eltern und Miss LaBarge umgebracht hatte, es niemals finden würde. Aber genau da lag das Problem. Was, wenn dieser Untote, der sie ermordet hatte, Dante war?
Als es Nacht wurde und das Küchenpersonal Feierabend machte, ging ich zu dem großen Einbauschrank mit dem Geschirrkarussell neben dem Kühlschrank. Genau wie letzten Winter stieg ich hinein und zog an dem Haken unter dem Regalfach an der Rückwand. Der Boden ruckelte und begann sich zu drehen, bis ich ins Zimmer auf der anderen Wandseite gespuckt wurde. Ins Erste Wohnzimmer, wo mein Großvater alle Wächterbücher, Werkzeuge und Utensilien aufbewahrte. Es war mit einem schweren Kronleuchter geschmückt, mit unbequemen Antiksofas und ausgestopften Tierköpfen. Die Glasaugen der Tiere folgten mir, während ich durch ein Buch über moderne theoretische Ansätze zu den Untoten blätterte. Eigentlich wollte ich zu den Neun Schwestern recherchieren, aber als ich ins Register schaute, landete ich auf einmal beim Buchstaben W und suchte das Wort Wanderlust.
Eine Stunde später ließ ich mich mit steifem Hals und staubigen Fingern aufs Sofa fallen. Gar nichts hatte ich gefunden. Ich hörte, wie oben der Wasserhahn aufgedreht wurde und Wasser gegen die Decke schlug. Mein Großvater nahm ein Bad. Ich fuhr mit den Händen über die Schnitzereien auf den Sofalehnen und hörte zu, wie er vor sich hin summend das Wasser abdrehte. Es gab noch einen Ort, wo ich suchen konnte, doch mir blieb nicht viel Zeit. Ich schlüpfte zurück in die Küche, schlich auf Zehenspitzen den Flur entlang und dann durch die zweite Tür rechts.
Eine einsame Lampe beleuchtete das Arbeitszimmer meines Großvaters mit einem dünnen Lichtkolben, der auf eine Unzahl vollgekritzelter Papiere auf seinem Tisch gerichtet war. Als ich die oberste Schicht abtragen wollte, rutschte eine Aktenmappe heraus und ergoss ihren Inhalt auf den Boden. Ich bückte mich danach und erkannte, dass es ausgeschnittene Zeitungsartikel und Postkarten waren, alle mit Nadellöchern und kleinen Klebebandresten dran. Einige Abschnitte waren mit Textmarker hervorgehoben, andere am Rand unleserlich kommentiert, in einer Schrift, die ich aus meinem letzten Jahr am Gottfried kannte: der von Miss LaBarge.
Plötzlich fühlten sich die Papiere in meiner Hand unendlich zerbrechlich an. Es waren die Zettelchen aus ihrem Haus. Bevor ich sie mir genauer ansehen konnte, hörte ich durch die Decke ein Geräusch. Ich erstarrte und lauschte, wie sich die Wanne durch den Abfluss entleerte, und dann auf die Schritte meines Großvaters, der oben den Gang entlangschritt.
Rasch raffte ich die Artikel zusammen und schlich damit den langen Korridor entlang in die Bibliothek. Draußen wirbelte der Schnee vor den Fensterscheiben, als ich mich an den Schreibtisch setzte und mir das erste Papier vornahm.
Es war eine vergilbte Postkarte mit majestätischen schwarzen Gesteinsformationen, die turmgleich aus der Erde ragten. Unter ihnen lag ein finsteres, moosbedecktes Tal. BREAKER CHASM, VERMONT, stand darüber.
Da muss ich hin, dachte ich plötzlich. Und zwar sofort. Wie um mich zu quälen, begann die Standuhr zu schlagen. Es eilt, dachte ich. Keine Zeit mehr. Ich musste nach Breaker Chasm. Bald würde es zu spät sein.
Ich blickte auf die Zeiger der Uhr. Neun Uhr abends. Einmal geblinzelt und die Zeiger hatten sich zurück auf ein Uhr nachmittags gedreht.
Mehr Zeit, drängte ich innerlich und blinzelte noch einmal. Die Zeiger drehten sich schneller. Schlagartig wurde ich müde und um mich herum verschwamm das Zimmer, während meine Lider schwerer und schwerer wurden, bis ich sie nicht länger offen halten konnte.
Als ich erwachte, saß ich in einem Zug. Die Nachmittagssonne strömte herein und durch die Fenster waren mit dickem Pulverschnee bedeckte Nadelwälder zu sehen. Die Bäume rasten an den Fenstern vorbei und ich zog aus meiner Tasche einen Zettel hervor, den ich auffaltete. Eine Adresse stand darauf: 15 Knollwood Drive.
Über die Lautsprecher verkündete der Schaffner unsere nächste Haltestelle: Breaker Chasm. Ungeduldig schaute ich aus dem Fenster. Wir näherten uns dem Fuß eines Bergs, durch den ein Tunnel führte. Erschrocken drückte ich mein Gesicht gegen die Scheibe und sah auf die Schienen. Es gab nur eine Spur und die führte direkt in den Tunnel. Da konnte ich nicht rein, das wäre mein Ende.
Ich stand auf und ging eilig den Gang hinunter. Der Zug war nicht sehr voll, die meisten anderen Fahrgäste schliefen oder hörten Musik. Möglichst unauffällig näherte ich mich der Tür und zog am Griff. Abgesperrt.
Wieder spähte ich aus dem Fenster. Da kam schon die Tunnelmündung auf uns zu. Schnell öffnete ich die Tür am Wagenende, die zum nächsten Waggon hinüberführte. Eisige Dezemberluft peitschte mir ins Gesicht, als ich mich breitbeinig auf die kleine Plattform über der Waggonkupplung stellte. Der Lärm der Räder auf den Schienen unter mir war ohrenbetäubend.
Der Zug ratterte noch lauter, als sein vorderes Ende im Tunnel verschwand. Ich bewegte mich auf den Rand der Plattform zu. Der verschneite Boden dahinter raste viel schneller vorbei, als ich erwartete hatte. Ich wartete auf eine Lichtung zwischen den Bäumen, und eben als der Waggon in den Tunnel einfuhr, da sprang ich.
Es tat gar nicht weh. Ich landete im Schnee und rollte ein wenig den Hügel hinab, bis ein Busch meinen Fall bremste. Von hier sah ich zu, wie der Berg den Zug komplett verschluckte und nur einen schwarzen Rauchfaden zurückließ.
Den Rest des Wegs legte ich zu Fuß zurück, stapfte durch den knietiefen Schnee, um den Berg herum und dann den Schienen nach, bis ich bei Sonnenuntergang eine kleine Stadt erreichte. Am Straßenrand grüßte ein Schild in freundlicher Schreibschrift: WILLKOMMEN IN BREAKER CHASM
Die hübsche Stadt war wie ausgestorben. Als ich die Straße entlangwanderte, gingen über mir die Laternen an. Die meisten Läden hatten geschlossen, bis auf die einzige Tankstelle. Ich steuerte darauf zu. Drinnen saß ein dicker Mann im Holzfällerhemd hinter der Kasse und mampfte irgendwas aus einer Styroporbox. An der Wand hinter ihm hingen Unmengen von Rubbellosen.
Er ließ die Gabel sinken. »Kalte Nacht heute«, sagte er und rührte in seinem Essen herum.
Ich ging nicht darauf ein. »Können Sie mir sagen, wo es zur Knollwood Drive geht?«
»Willst du zur Farm?«
»Nein«, sagte ich. »Warum fragen Sie?«
»Hier kommen ständig irgendwelche Kinder rein und wollen zu einem dieser Bauernhöfe.«
Ich antwortete nicht. Stattdessen ging ich zum Kühlregal und zog so viele Wasserflaschen heraus, wie ich nur tragen konnte. »Ich nehm die«, sagte ich und angelte in den Hosentaschen nach Kleingeld. Der Mann sah mich befremdet an, kassierte dann aber ab und wies mir die Richtung zur Knollwood Drive.
Der Weg kam mir ewig lang vor, vorbei an überfrorenen Feldern und Scheunen, bis ich zu einer Auffahrt mit einem frei stehenden Blechbriefkasten gelangte. Am anderen Ende befand sich ein gelbes Bauernhaus mit einer großen gelben Scheune. Ein Straßenschild gab es nicht, doch auf der anderen Straßenseite sah ich Dutzende von kleinen Fußspuren im Schnee. Ich stellte meine Tüte mit den Wasserflaschen auf den Boden und beugte mich vor, um die Hausnummer auf dem Briefkasten freizulegen. Dann zog ich ein Stück Papier aus der Tasche und glich die Adressen ab. Auf beiden stand: 15 Knollwood Drive.
Ich legte die Finger auf die Gelenke des Briefkastentürchens, damit sie beim Öffnen nicht quietschten. Innen lag ein Zettel. Es stand nur ein Name darauf: Cindy Bell.
Ich versenkte den Zettel in meiner Tasche. Bevor ich ging, öffnete ich eine Wasserflasche und leerte sie auf dem Boden aus, um meine Fußspuren wegzuschmelzen.
Ein lautes Scheppern riss mich aus dem Schlaf, gefolgt vom Poltern herunterfallender Gegenstände.
Blinzelnd öffnete ich die Augen. Durch das Bibliotheksfenster brannte mir die Morgensonne in den Nacken. Ich musste die Nacht hier verschlafen haben, mit dem Gesicht mitten auf den Papieren auf dem Schreibtisch.
Vorsichtig drehte ich den Kopf, richtete mich auf und erblickte die Postkarte von Breaker Chasm, die aus dem Stapel gerutscht war. Ich drehte sie um, aber die Rückseite war leer.
Cindy Bell. Eleanors Mutter. Was hatte ihr Name auf dem Zettel im Briefkasten zu suchen gehabt?
Ein dumpfes Wummern drang durch die Wand und unterbrach meine Grübelei. Dann Gebrüll. Ich stopfte mir die Karte in die Tasche und stürzte hinaus auf den Flur.
Die Stimmen führten mich ins Büro meines Großvaters, wo er und Dustin sich wie im Boxring gegenüberstanden. Beide hatten knallrote Gesichter.
»Wir hätten etwas unternehmen müssen«, brüllte mein Großvater, ohne zu merken, dass ich in der Tür stand. »Wie konnten Sie mir verschweigen, dass es so schlimm ist?«
Dustin wollte gerade etwas entgegnen, als der Boden unter mir knarrte. Beide Männer verstummten und drehten sich meine Richtung.
Das Zimmer war das komplette Chaos. Ein Frühstückstablett war über dem Boden ausgekippt; die Eier und Marmeladepfannkuchen waren zusammen mit dem zersplitterten Porzellan und dem Besteck über das ganze Parkett verteilt.
»Was ist passiert?«, fragte ich und verzog das Gesicht.
Die ganze Sauerei war garniert mit Dutzenden von Papieren, die wie absichtlich vom Tisch gewischt aussahen. Jetzt klebten sie am Boden und saugten die Marmelade und den Kaffee in sich auf. Noch unfassbarer allerdings war, dass Dustin keinerlei Anstalten machte, das Ganze in Ordnung zu bringen, was sonst seine erste Tat gewesen wäre.
Mein Blick flog zwischen ihm und meinem Großvater hin und her. Noch nie hatte ich die beiden streiten gesehen, noch nicht einmal einen wütenden Dustin.
»Was ist hier los?«, wollte ich wissen.
Bevor mein Großvater antworten konnte, klingelte das Telefon. Er hob ab und grummelte: »Ja?«
Dann sah er mich an. »Für dich.«
»Für mich?«
Er nickte. »Nimm es am besten im Roten Salon an.«
»Okay«, sagte ich zögerlich und ging hinüber zum kleinen Zimmer am Ende des Flurs, wo ich den Hörer abhob. »Hallo?«
Vom anderen Ende der Leitung hörte ich nur schweres Atmen.
»Hallo? Wer ist da?«, wiederholte ich.
»Ich bin’s«, sagte eine belegte Stimme.
»Eleanor?«, fragte ich und ließ mich auf eine Bank fallen. Sie klang anders. Düster.
»Sag mir, was ich tun soll«, flehte sie in den Hörer.
»Wie, was du tun sollst?« Auf einmal packte mich die Angst.
»Sie ist einfach verschwunden«, sagte Eleanor. »Sie muss mitten in der Nacht zum See gerannt sein, während ich im Bett lag.«
»Wer ist verschwunden? Welcher See? Wo steckst du?«
»Ich bin im Badezimmer. Im Bad von der Skihütte in Colorado.«
Ich seufzte erleichtert auf. Erst hatte ich geglaubt, sie wäre in Schwierigkeiten, aber so schlimm konnte es ja nicht sein, wenn sie mit der Familie auf Skiurlaub war. Bemüht gelassen fragte ich: »Bist du okay? Was ist passiert?«
Lange Pause.
»Die haben heute Morgen meine Mutter am See gefunden. Sie ist tot.«
Nachdem Eleanor aufgelegt hatte, saß ich eine halbe Ewigkeit auf der Bank herum, den Hörer noch immer in der Hand.
Nur eines hatte ich aus ihr herausbekommen: Ihre Mutter hatte die Skihütte mitten in der Nacht verlassen, ohne dass Eleanor es gemerkt hätte, und war von der Bergwacht an einem See gefunden worden. Tot. Den Mund mit Mull ausgestopft. In der Nacht waren mehrere Zentimeter Neuschnee gefallen, der alle Spuren ausgelöscht hatte, bis auf die der Rettungsleute.
Mull. Ein See. Genau wie bei Miss LaBarge.
Ich dachte an das Foto aus Miss LaBarges Häuschen, das von Miss LaBarge und Cindy Bell als junge Mädchen. Ich dachte an die Beisetzung von Miss LaBarge und wie einsam und gedankenverloren Cindy Bell auf dem Boot gesessen hatte. War auch sie dem Geheimnis der Neun Schwestern auf der Spur gewesen?
Ich ließ den Hörer fallen und rannte hoch auf mein Zimmer. Dort durchwühlte ich meine Kommode nach den Postkarten, die mir Eleanor letzten Sommer von ihrer Europareise mit ihrer Mutter geschickt hatte. Ich hatte sie immer mitgenommen, um Dantes geheime Botschaften in besonders einsamen Momenten zur Hand zu haben. Aber diesmal hatte ich nur Augen für die Fotos auf den Karten. Jedes einzelne davon zeigte einen See.
Ich warf mich rücklings aufs Bett und sah die Karten noch einmal durch. Unbegreiflich, dass ich sie die ganze Zeit vor mir gehabt hatte, ohne ihre Bedeutung zu begreifen. Eleanors Mutter hatte in Europa nach dem letzten Teil des Rätsels gesucht, mit Eleanor im Schlepptau.
Cindy Bell musste ebenfalls der neunten Schwester auf der Spur gewesen sein. Sie musste die ersten beiden Rätsel von Miss LaBarge bekommen und in den Seen nach irgendetwas gesucht haben, das in Salzwasser begraben lag. Bis irgendwer sie ermordet hatte.
Hatte sie etwas gefunden? Ich fragte mich, wie nahe ich daran gewesen war, das Geheimnis zu lüften, als mich Noah und meine Suche nach Dante abgelenkt hatten, und ob der Untote, der Cindy Bell erwischt hatte, es jetzt vor mir finden würde. Warum hatte ich mich nicht mehr reingehängt? Menschen waren für dieses Geheimnis gestorben, starben noch immer dafür, und ich hatte einfach beschlossen, die Hände in den Schoß zu legen.
Ich wischte mir die Augen und schob die Hände in die Taschen. Da spürte ich es. Das vergilbte Foto, das meine Vision ausgelöst hatte. Meine Vision, wiederholte ich und in meinem Magen bildete sich ein Knoten. Letzte Nacht war ich im Traum zu einem Bauernhaus in Vermont gereist und hatte einen Zettel mit Cindy Bells Namen aus dem Briefkasten genommen. Und bevor Miss LaBarge umgekommen war, hatte ich gesehen, wie ich ihr zu einer Insel gefolgt war. Nur dass ich diesmal genau wusste, woher meine Vision gekommen war.
Ich richtete mich auf, weil mein Magen rebellierte. Hatte Dante das getan?
Zögerlich zog ich die Postkarte von Breaker Chasm aus der Tasche. Meine Vision hatte in Vermont gespielt, nicht in Colorado, wo man Cindy Bell gefunden hatte. Das musste etwas zu bedeuten haben. Vielleicht hatte Dante sie nicht umgebracht. Vielleicht hatte er nur … nur … was?
Ich schloss die Augen und versuchte, eine Erinnerung an den Jungen heraufzubeschwören, in den ich mich verliebt hatte, irgendeine Erinnerung an den Dante, der keinem jemals etwas zuleide tun würde. Aber all meine Erinnerungen knüllten sich zusammen wie billige Fotos. Ich musste wissen, was Breaker Chasm war, was er getan hatte.
Mein Großvater war noch in seinem Arbeitszimmer und stopfte Papiere in den Aktenkoffer. Zu seinen Füßen hatte Dustin die Putzaktion in Angriff genommen.
Ich trat neben ihn und hielt ihm die Postkarte unter die Nase. »Was ist das für ein Ort?«
Mein Großvater nahm sie mir aus der Hand, setzte die Brille auf und sah mich drohend an. »Woher hast du das? Hast du mein Büro durchwühlt?«
Als ich stumm blieb, schleuderte er den Aktenkoffer zu Boden.
»Hast du etwa Annette LaBarges Akte von meinem Tisch genommen? Den ganzen Morgen suche ich schon danach.«
»Ich bin drüber gestolpert«, sagte ich und machte einen Schritt rückwärts.
Er nahm die Brille wieder ab, stürmte aus der Tür und in die Bibliothek, wo die restlichen Papiere noch auf dem Tisch verstreut lagen. Ich sah zu, wie er sie in seinen Koffer schob.
»Wo gehst du hin?«
»Dienstlich.«
»Nach was hat Miss LaBarge in Breaker Chasm gesucht?«
»Ich weiß es nicht«, sagte er. »Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass ich das alles in Ordnung halte. Du kannst nicht einfach solche Sachen mitnehmen und sie irgendwo im Haus herumliegen lassen. Was, wenn man sie aus Versehen weggeworfen hätte? Oder verlegt? Dann hätten wir unsere einzigen Hinweise verloren.« Er ließ den Aktenkoffer zuschnappen. »Das hier ist kein Spiel. Menschen sterben. Wächter sterben. Ich bezweifle sehr, dass deine Freundin Eleanor von deinen halb garen Theorien begeistert wäre. Also schlage ich vor, dass du dir deine kindischen Unternehmungen für dein Wohnheim aufsparst.«
In jener Nacht begann es wieder zu schneien. Ich aß allein zu Abend, am Ende des langen Esstischs, während Dustin mit hinter dem Rücken gefalteten Händen in seiner Ecke wartete.
»Wenn Sie gestatten, Miss Renée«, sagte er, während ich in meiner Ente herumstocherte. »Ich glaube, Breaker Chasm liegt in einem Teil des Seengebiets, in dem es dem Vernehmen nach spuken soll.«
»Spuken?«, wiederholte ich.
»Ich meine, so etwas gehört zu haben.«
In diesem Moment spürte ich es. Zuerst war es ganz leicht. Nur ein frostiger, prickelnder Hauch um die Knöchel. Und dann bewegte er sich, wanderte unter dem Tisch hoch zu meinen Armen, meinen Schultern, meinem Hals.
Ich ließ die Gabel fallen. Lautstark streifte sie den Teller und fiel zu Boden. Um mich herum schien sich die Luft zu seinem Namen zu formen: Dante. Aber das konnte nicht sein. Hier würde er sich nicht blicken lassen, es war zu gefährlich.
Dustin starrte mich an. »Miss Renée, ist alles in Ordnung?«
Ich schüttelte das Gefühl ab, nickte und langte unter dem Tisch nach der Gabel. Das musste ein Luftzug aus einem der Fenster im Obergeschoss gewesen sein. Andererseits: Es war tiefster Winter, noch dazu in Massachusetts. Welches Fenster stand da schon offen? Konnte er wirklich hier sein?
Draußen vor dem Fenster war es inzwischen stockfinster, bis auf den Schnee auf dem Sims, doch ich konnte ihn immer noch spüren.
»Ich bin fertig«, sagte ich und schob den Teller zur Seite. Ich musste nach draußen, um nachzuschauen.
»Sie haben ja kaum etwas gegessen«, sagte Dustin besorgt. »Bitte, nur ein paar Bissen noch.« Er musste meinen Blick aus dem Fenster bemerkt haben, denn er sah selbst hinaus. »Haben Sie da draußen noch irgendetwas? Ich kann den Gärtner schicken, damit er es Ihnen holt.«
»Nein«, sagte ich schnell. »Hab nur den Schnee bewundert.« Rasch setzte ich mich wieder hin, um seine Aufmerksamkeit nicht auf Dante zu lenken.
Nach dem Essen pflanzte ich mich mit Dustin vor den Fernseher, bis er endlich vor einer Late-Night-Talkshow einnickte, den Kopf in die Hand, den Arm auf die Sessellehne gestützt. Auf Zehenspitzen schlich ich durchs Zimmer und schaltete das Gerät ab. Nun war es völlig finster, bis auf die funkelnden Lichter am Weihnachtsbaum. Ich stahl mich hinaus, die Treppe hinauf und in mein Zimmer.
Bevor ich das Licht einschalten konnte, legte sich mir eine kalte Hand über den Mund und zog mich hinein; die Tür fiel hinter mir ins Schloss.
»Ich wollte nicht, dass du schreist«, sagte eine tiefe Stimme.
Mein Körper wurde steif. Dante. Er war hier, in meinem Schlafzimmer, und seine Brust stemmte sich gegen meinen Rücken, wenn er einatmete. Ich roch das Harz an seinen Kleidern, hörte, wie die Zweige im Takt seines Herzschlags gegen die Fensterscheiben klopften.
Als er mich losließ, drehte ich mich um und machte einen Schritt nach hinten. Wie eine Schaufensterpuppe sah er aus, wie er da unter dem Türrahmen stand. Groß, blass und zu perfekt, um wahr zu sein, mit breiten, steifen Schultern unter seinem Pulli.
Er schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Warum schaust du mich so an?«, fragte er mit sanfter Stimme. Er kam auf mich zu, aber wieder wich ich zurück.
Sein Lächeln verblasste. »Was ist los?«
»Wo bist du gewesen?«
»Unterwegs«, gab er mir seine übliche Antwort.
»Aber wo?«
Er zog die Augenbrauen hoch und seine Stirn legte sich in feine Fältchen. »Ist das wichtig? Jetzt bin ich hier.«
»Ob das wichtig ist?«, hauchte ich. »Seit Monaten versuch ich, dich zu finden. Ich hab auf dich gewartet und keine Ahnung gehabt, wo du steckst, was du treibst. Du weißt alles über mich, aber ich weiß nichts über dich. Kannst du dir vorstellen, wie sich das anfühlt?«
»Sag so was nicht.« Er klang verletzt. »Du kennst mich besser als jeder andere.«
»So fühlt es sich aber nicht an.«
»Es tut mir leid«, begann er. »Ich war in Vermont. An einem Ort namens Breaker Chasm. Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich’s für ungefährlicher gehalten habe, wenn du es nicht weißt.«
Ich lehnte mich gegen den Bettpfosten. »Breaker Chasm?«, fragte ich verzweifelt. Es hörte sich noch schlimmer an, wenn man es laut aussprach.
»Nein«, flüsterte ich. »Was – was hast du dort gemacht?«
Dante zögerte. »Ich hab mich versteckt. Genau, wie ich’s dir gesagt habe.«
Meine Lippe begann zu zittern. Ich biss drauf und wandte meinen Kopf ab. Hoffentlich hatte er das nicht mitbekommen. »Was tust du denn so, wenn du dich versteckst?«
»Ich hab nach einer Antwort für uns gesucht.« Langsam klang er ziemlich besorgt. »Das weißt du.«
Ich umklammerte den Pfosten. »Wo gesucht? In Briefkästen?«
Etwas durchzuckte ihn. »Briefkästen?«
»Eleanors Mutter ist tot«, sagte ich.
»Was?«, fragte er verwirrt. »Woher weißt du das?«
»Tu nicht so, als wär das die große Überraschung«, sagte ich. »Du bist zu dem Bauernhof gegangen und hast einen Zettel aus dem Briefkasten genommen. Und da stand Cindy Bells Name drauf.«
»Es ist nicht, wie es aussieht«, sagte Dante und jetzt zeichnete sich das Schuldbewusstsein überdeutlich in seinem Gesicht ab. Er wollte sich mir nähern, doch als er sah, wie ich erstarrte, blieb er stehen.
»Was ist es dann? Warum bist du dahin gegangen? Was hast du mit dem Zettel gemacht?«
Dante umklammerte die Kante der Kommode. »Bitte«, sagte er. »Frag mich nicht so aus.«
»Warum nicht? Ich hab ein Recht, das zu wissen.«
»Du verstehst das nicht«, sagte er. »Wenn ich es dir verrate, bringe ich dich in Gefahr.«
»Warum?« Ich ballte die Hände, damit sie nicht so zitterten. »Was für eine Gefahr?«
Dante rang nach einer Antwort. »Ich kann dir nicht –«
Auf einmal brach ich in Tränen aus. »Hast du sie umgebracht?« Das kam so leise heraus, dass ich mir nicht sicher war, ob er es gehört hatte. »Hast du Eleanors Mutter umgebracht?«
»Nein«, sagte er mit bebender Stimme. »Natürlich nicht. Du weißt, dass ich das nicht könnte.«
»Du lügst«, sagte ich und sah ihn grauenerfüllt an, während ich an die Wand zurückwich. »Und Miss LaBarge? Hast du ihr Boot auf dem Eriesee verfolgt? Hast du ihr die Schaufel weggenommen und sie zur Insel verfolgt und sie dann getötet?«
Dantes Augen wurden ganz groß vor Entgeisterung. »Ich – ich hab sie nicht umgebracht«, beharrte er, aber seine Stimme brach bei den Worten. Den Rest stritt er nicht ab.
»Meine Visionen«, flüsterte ich. »Es waren deine, die ganze Zeit. Du hast nach dem Geheimnis der Neun Schwestern gesucht und mir nie davon erzählt. Warum? Warum hast du mir nicht einfach die Wahrheit gesagt? Was hast du so Schlimmes getan, dass du es vor mir verbergen musstest?«
»Ich wollte es dir ja sagen. Mehr als alles andere.«
Ich wartete, dass er fortfuhr, mir irgendeine Art von Erklärung gab, doch er schien nur weiter mit den Schatten zu verschmelzen.
Unten schlug die Uhr Mitternacht. »Ich begreif das alles nicht.« Meine Stimme klang wild vor Verzweiflung. »Sag mir, warum du sie gejagt hast. Warum du Cindy Bells Namen aus dem Briefkasten geholt hast. Warum du es mir verheimlicht hast.«
Dante streckte seine Hand nach mir aus, ließ sie dann aber mit einer fast entschuldigenden Geste fallen. »Bitte«, flehte er. »Du musst mir vertrauen.«
»Warum?«, rief ich. »Warum sollte ich dir trauen? Ich weiß ja noch nicht mal, wer du bist.«
Dantes Augen schossen zur Tür. Hatte ich jemanden aufgeweckt? »Na klar weißt du das«, sagte er verletzt.
»Du bist ein Mörder. Ich hab die Seele eines Mörders.«
Er sog scharf Luft ein, als hätte ich ihn geohrfeigt, doch das war mir gleich.
»Sag so was nicht.« Er schüttelte den Kopf.
»Was willst du von mir?«, brüllte ich. »Warum bist du hier?«
»Weil ich dich sehen wollte«, sagte er. »Weil ich dich liebe.«
Durchs Fenster sah ich, wie ein langes gelbes Rechteck auf den Schnee vor dem Haus fiel. Unten war das Licht angegangen. Dante erstarrte, als er es bemerkte. Dustin musste aufgewacht sein.
»Ich glaub dir nicht«, wisperte ich.
Dante blinzelte und fiel förmlich in sich zusammen. Und einen Moment lang konnte ich ihn sehen, wie er früher gewesen war – den Dante, der mit mir durch den Regen gerannt war und mich an die Tafel gepresst hatte, meinen Hals, meine Arme, meine Hände geküsst hatte. Den Dante, der mich durchs Mohnfeld hinter der Kapelle getragen, mir meine Seele zurückgegeben hatte.
Und aus Gründen jenseits aller Vernunft hatte ich keine Angst, als er nun auf mich zutrat, mir die Hand sacht auf die Hüfte legte und sein Gesicht zu meinem herabsenkte. Das ist es jetzt, dachte ich, als er mich betrachtete. Er wird mir die Seele nehmen und ich werde sterben. Ich schloss die Augen, um ihn dabei nicht sehen zu müssen. Ich spürte den Druck seines Körpers gegen meinen, seinen kalten Atem auf meiner Haut … und einen zarten Kuss auf meiner Wange.
»Ich würde wieder für dich sterben, wenn du mich darum bittest«, sagte er so leise, dass ich mich auch verhört haben konnte.
Draußen auf dem Flur ertönten Schritte. Erschrocken öffnete ich die Augen, gerade als Dante im Dunkel meines Zimmers verschwand.
Leise klopfte es an die Tür. Mein verwirrter Blick schoss in der Dunkelheit umher. Was war das eben gewesen?
»Renée?« Dustins Stimme drang dumpf durch das Holz. »Ich … habe etwas gehört. Darf ich reinkommen?«
Ich rieb mir mit den Händen über die Wangen. »Augenblick«, sagte ich, wischte mir die Tränen aus den Augen und öffnete die Tür.
Dustin sah etwas derangiert aus, aber sein Blick, der jetzt im Zimmer umherschoss, war messerscharf.
»Ist jemand hier?«, fragte er mit einer Strenge, die ich ihm nie zugetraut hätte.
»Nein«, sagte ich möglichst gleichmütig. »Ich hab nur gelesen.«
Dustin folgte meinem Blick zu meinem Nachttisch, auf dem eins meiner Lehrbücher aufgeschlagen lag. »Ich werde jetzt unten ein bisschen Ordnung schaffen. Wenn Sie etwas brauchen, ich bin in der Küche.«
»Ich helfe Ihnen«, sagte ich eifrig, um seine Aufmerksamkeit vom Zimmer abzulenken. »Ich wollte mir eh gerade ein Glas Milch holen.«
Ich schaltete das Licht aus und schloss die Tür, nicht ohne einen letzten verstohlenen Blick auf die Stelle zu werfen, wo eben noch Dante gestanden hatte.
Unten erledigten Dustin und ich schweigend den Abwasch. Nach getaner Arbeit schenkte ich mir ein Glas Milch ein und ging nach oben. Als ich vorsichtig mein Zimmer betrat, empfing mich ein kalter Windstoß. Aber es war nur das offene Fenster. Dante war fort. Nichts als eisige Luft war geblieben. Ich schloss das Fenster und spähte hinunter auf den Rasen, wo sich seine Spuren schon mit Schnee füllten.