Mal de Mer

 
 

Ich erinnerte mich nicht an den Heimweg an jenem Abend – ich erinnerte mich nur an Noah. Wie er sich immer neue Gelegenheiten einfallen ließ, dass sich unsere Hände wie zufällig berührten. Wie sich unsere Schatten gegeneinanderneigten, als wir unter den Straßenlaternen vorbeigingen. Wie ich mir fast vorstellen konnte, er sei Dante, wenn ich die Augen schloss.

Bevor ich mich versah, war ich zurück in der Dunkelheit meines Zimmers. Ich zog Noahs Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Aber es fühlte sich beinahe an, als wäre Noah bei mir, dort im Sessel. Und obwohl ich wusste, dass Dante mich nicht sehen konnte, stopfte ich die Jacke rasch in meinen Schrank. Jetzt hortete ich sogar schon fremde Jungenoberbekleidung in meinem Zimmer; wirklich beschämend. Ich lehnte mich gegen die Tür und versuchte, Noah aus meinem Kopf zu vertreiben, schnappte mir mein Handtuch und ging duschen. Doch als ich am Knauf der Badezimmertür drehte, war sie versperrt.

»Besetzt«, rief Clementine heraus. Durch die Tür hörte ich einen Chor kichernder Stimmen.

Ich pfefferte mein Handtuch auf den Sessel neben mir und wollte gerade auf mein Bett fallen, als drüben Anyas Name fiel.

Ich schlich zur Tür und lauschte.

»Ich begreif noch nicht mal, wie die überhaupt in diese Schule reingekommen ist.« Josies Stimme war einfach nur gehässig. »Ihr hättet sie neulich sehen sollen, wie sie das tote Viech im Fluss gesucht hat. Die hatte nicht den leisesten Plan, wie sie’s anstellen soll.«

Arielle klinkte sich ein. »In Französisch und Latein kriegt sie auch nichts gebacken. Die könnte was Totes noch nicht mal erspüren, wenn’s vor ihr auf dem Teller liegt. Die kann kein gescheites Loch ausheben und kriegt nicht mal einen behelfsmäßigen Scheiterhaufen zustande – trotzdem ist sie Vierte auf der Rangliste. Da greift man sich doch echt an den Kopf.«

Ich durchbohrte die Tür mit zornigen Blicken, aber wenn ich ehrlich war, hatten sie ja recht. Wenn Anya nur einen Hauch von Wächtertalent hatte, war es mir bisher ebenso verborgen geblieben wie den anderen. Ich hatte auch keine Ahnung, wie sie die Nummer vier geworden war oder es in den besten Strategie-und-Prognose-Kurs hineingeschafft hatte.

Clementines Stimme erhob sich über die anderen. »Ich hab gehört, sie hat schon ein paarmal versucht, sich abzumurksen. Tja, wohl ohne Erfolg. Wie will die einen Untoten umbringen, wenn sie’s noch nicht mal bei sich selbst schafft?«

Das reichte mir. Ich trat heftig gegen die Tür und stürmte mitsamt meinem Handtuch aus meinem Zimmer.

Ich ging durch den Flur und klopfte bei Anya an. Von drinnen hörte ich das Dröhnen von Heavy Metal. Ich klopfte noch zweimal, diesmal mit mehr Vehemenz, und schließlich ging die Tür auf.

Vor mir stand Anya in viel zu großem Herrenhemd und Shorts, ein Handtuch um den Hals. Ihr Haar stand ihr in merkwürdigen Winkeln vom Kopf ab, teils mit Alufolie umwickelt und mit einer rötlichen Paste eingeschmiert.

»Ach, hallo«, sagte sie mit einem Blick auf mich und dann auf mein Handtuch.

Ihre Ärmel waren aufgerollt und entblößten die Innenseite ihrer Arme, die mit unregelmäßigen hellen Narben übersät waren. Sie sahen aus wie Brandnarben und schienen nicht erst kürzlich entstanden zu sein. Mir waren sie vorher nie aufgefallen; Anya trug immer langärmlige Oberteile.

Sie musste mein Gestarre bemerkt haben, denn sie krempelte die Ärmel sofort hinunter.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Mir geht’s gut«, murrte sie und spähte den Flur hinunter.

»Kann ich bei dir duschen? Clementine und ihre Freundinnen haben sich in meinem Bad verbarrikadiert.«

Während Anya auf dem Bett saß und in einer Zeitschrift herumblätterte, schloss ich mich im Bad ein und drehte die Dusche auf. Im Hintergrund plärrte Anyas Stereoanlage.

Unter dem heißen Wasser dachte ich über Noahs Worte nach. Sollten Beziehungen schwer sein? Die Frage schien sich bei Dante und mir gar nicht zu stellen. Es war bedeutungslos, ob es leicht oder schwer war – ohne ihn fühlte es sich an, als wäre ein Stück von mir abgeschält. Hieß das, mir blieb keine Wahl? Das Wasser rann mir das Gesicht hinunter, sammelte sich in meinen Wimpern. Was, wenn Dante mich wegen des Friedhofs angelogen hatte? Was, wenn er schon vorher dort gewesen war, wenn ich ihn in meinen Visionen gesehen hatte? Was würde ich dann tun?

Während der Raum sich langsam mit Dampf füllte, schloss ich die Augen und versuchte, die Wärme des Wassers zu spüren, doch je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto lauer wurde es. Ich drehte die Temperatur auf, ließ es mir auf den Rücken prasseln, drehte heißer und heißer und wartete, dass irgendetwas passierte, während das Wasser zu meinen Füßen anstieg und meine Finger runzlig wurden.

Als ich wieder auftauchte, hatte Anya auf Kuschelfolk umgesattelt.

»Das hat ja ganz schön gedauert«, sagte sie, als ich mich auf dem Sofa niederließ.

Sie saß im Schneidersitz und fädelte etwas auf eine Schnur. Ihr Haar war immer noch in Folienstücke gewickelt.

»Was wird das?«, fragte ich und rubbelte meinen Kopf mit dem Handtuch ab.

»Eine Glückskette«, sagte Anya. »Für dich.«

Neben ihr rasselte eine Eieruhr, woraufhin sie sofort aufsprang. »Zeit zum Farbeauswaschen«, verkündete sie und warf mir das Kettchen in den Schoß. »Bin gleich wieder da.«

Während sie sich im Waschbecken das Haar ausspülte, musterte ich die Kette. Auf die zerfaserte Schnur waren Dutzende getrockneter Bohnen aller Art aufgezogen, von erbsen- bis nussgroß. Die meisten hatten in der Mitte einen weißen Fleck, der mich an Augen erinnerte. In der Mitte der Kette baumelte etwas, das wie eine Hasenpfote aussah. Das Fell war zart und weich.

»Also, was meinst du?«, fragte Anya aus dem Türrahmen.

»Wie – hübsch«, sagte ich. »Was hängt da dran?«

»Mungobohnen, Augenbohnen, Saubohnen, Kidneybohnen … Die sollen dir Gesundheit bringen.«

»Und die Hasenpfote?«

»Ach, das ist gar kein Hase. Das ist Katze.«

Ich ließ die Kette in meinen Schoß fallen und rief aus: »Was? Wie? Woher hast du –«

»Aus so einem Kräuterladen, wo ich manchmal hingehe. Ist zum Schutz. Soll einem neun Leben verleihen.«

»Aha«, machte ich und nahm die Kette noch einmal in Augenschein, während ich versuchte, meine Übelkeit zu bezwingen. »Vielen Dank.«

»Und hier«, sagte sie, griff einen Becher von ihrem Nachttisch und trug ihn zu mir herüber. »Das ist auch für dich.«

Der Becher war warm in meiner Hand, die Flüssigkeit darin von einem trüben Grünbraun. »Was ist das?«

»Es nennt sich Tee«, sagte sie.

Ich schwenkte den Becher herum, aber was immer darin herumschwamm war derart dickflüssig, dass es sich kaum bewegte. »Echt? Was für einer?« Ich schnitt eine Grimasse.

»Ach, nur so eine Kräutermischung. Genau das Richtige für die kalte Jahreszeit.«

Ich linste in ihre Tasse. Die Flüssigkeit darin hatte einen einladenden Pfirsichton. An einem Faden baumelte ein gewöhnlicher Teebeutel.

»Warum trinkst du nichts davon?«, fragte ich.

»Oh, meiner ist schon alle«, sagte sie.

»Alles klar.« Ich nahm einen Schluck. Er schmeckte wie der Bodensatz einer Blumenvase und war seltsam grobkörnig.

Zufrieden sah sie mir zu. Ich erzählte ihr, wie ich mit Noah zusammen Miss LaBarge gesehen hatte und wie sie und meine Eltern mit Mull im Mund gestorben waren. Als ich fertig war, lag Anyas Stirn in Falten und ihr nasses rotes Haar hatte ihr Hemd durchweicht.

»Vielleicht haben sie das Geheimnis der Neun Schwestern entdeckt und sind unsterblich geworden«, sagte ich. »Vielleicht sehe ich deshalb überall Miss LaBarge – weil sie noch am Leben ist. Und vielleicht – vielleicht –«

»Sind deine Eltern dann auch noch am Leben?«, beendete Anya hilfsbereit den Satz.

Ich fummelte an meinem Blusensaum herum und nickte.

»Keine Ahnung«, sagte sie. »Das hört sich irgendwie verkehrt an. Deine Eltern waren noch auf der Suche nach dem ›verschwundenen Mädchen‹, als sie Miss LaBarge den Brief geschickt haben, oder? Das heißt ja wohl, dass sie das Geheimnis noch nicht gefunden haben konnten. Sie haben wahrscheinlich bloß danach gesucht, genau wie wir. Und nach ihrem Tod hat Miss LaBarge ihre Entdeckung noch einen Schritt weiterverfolgt. Sie hat nach etwas gesucht, was mit Seen oder Gewässern –«

»Und das ist genau das, wonach wir suchen«, rief ich und dachte an das Salzwasserrätsel.

»Genau. Das heißt, sie hatte es auch noch nicht gefunden. Und dann ist sie umgebracht worden.«

Ich zwirbelte die Bohnen an der Kette. Was sie da sagte, leuchtete mir einfach nicht ein. Weshalb konnte Miss LaBarge nicht am Leben sein? Warum konnte es die Unsterblichkeit nicht geben? Warum konnten meine Eltern nicht noch am Leben sein? »Aber das erklärt noch nicht, warum mir dauernd Miss LaBarge über den Weg läuft.«

»Du hast auch dauernd merkwürdige Visionen«, erinnerte sie mich. »Könnte sie nicht auch eine sein?«

»Aber Noah hat sie auch gesehen. Nicht nur ich.«

»Er hat sie nie getroffen, als sie noch gelebt hat, oder? Vielleicht hat er sich getäuscht. Vielleicht war’s auch nur jemand, der so aussieht wie sie.«

Frustriert ließ ich mich nach hinten fallen. »Prima«, sagte ich. »Du hast recht. Sie sind tot. Allesamt tot. Bist du jetzt glücklich?«

»Es ist besser so«, warf sie ein. »Wenn deine Eltern die ganze Zeit am Leben gewesen wären und sich nicht bei dir gemeldet hätten, wäre das noch übler.«

Ich blickte in die Lampe, bis sie einen gelben Fleck in mein Gesichtsfeld brannte. So wenig ich es zugeben mochte, sie hatte recht. Wären meine Eltern am Leben gewesen, hätten sie einen Weg gefunden, mich das wissen zu lassen. Und Miss LaBarge – vielleicht wieder eine Erscheinung. »Aber hundertprozentige Gewissheit hat man so nicht«, sagte ich. »Die hat man nur, wenn man den Rätseln folgt. Vielleicht führen die uns am Ende zu ihnen.«

Vielleicht wirkte es im Licht nur so, doch Anya schien langsam unruhig zu werden. »Ja …«, murmelte sie und nahm einen Schluck Tee. »Trink aus«, sagte sie und starrte auf meinen Becher. »Du hast deinen kaum angerührt.«

Ich beachtete sie gar nicht. »Noah glaubt, dass ein Teil vom Rätsel fehlt, der erste, und dass der die Hinweise verbinden wird. Den müssen wir finden.«

»Du hast Noah davon erzählt? Noah, dem Freund der reizenden Clementine?«

Ich zuckte die Schultern. »Er ist mit mir hinter Miss LaBarge her. Was blieb mir sonst übrig? Und außerdem war er ganz hilfreich.«

»Minimalst«, sagte Anya und nippte an ihrem Tee. »Weißt du, ich hab über diese Rätsel nachgedacht. Wir gehen die Sache falsch an.«

»Was soll das heißen?«

»Die Schwestern haben doch geschworen, dass sie das Geheimnis mit ins Grab nehmen. Warum sollten sie dann die Rätsel verstecken?«

»Das hast du schon mal gefragt. Und ich hab immer noch keine Antwort.«

»Nun, vielleicht sollten wir uns erst mal darüber den Kopf zerbrechen. Denk doch mal nach. Das Krankenzimmer. Der Grabstein. Die Rätsel, die wir bisher gefunden haben, waren nicht an irgendwelchen großen geschichtsträchtigen Orten versteckt oder verschlüsselt in irgendwelchen Kunstwerken verborgen. Die waren an Orten, die nur einzelnen Personen wichtig gewesen sein konnten – ein Grabstein, ein Krankenhausbett.«

Ich lehnte mich zurück und dachte über ihre Ausführungen nach. »Die neunte Schwester«, sagte ich. »Du glaubst, die neunte Schwester hat sie an Orten versteckt, die für sie eine Bedeutung hatten.«

Anya nickte.

»Aber warum?«

»Keinen blassen Schimmer.« Anya trommelte mit ihren Fingernägeln auf der Sofaarmlehne. »Aber ein paar Dinge können wir uns schon über sie denken. Dem Porträt der Neun Schwestern nach zu schließen, muss sie in den 1730ern, als die anderen Wächter ermordet wurden, etwa in unserem Alter gewesen sein. Sie hat irgendwelche Verbindungen nach Montreal gehabt, das sagt uns der Grabstein. Und sie hatte auch irgendwas mit dem Royal-Victoria-Krankenhaus zu tun.«

 

Der erste Schnee fiel auf das St. Clément und bestäubte die Dachziegel mit einer dünnen weißen Schicht. Anya und ich suchten nach der neunten Schwester, durchforsteten in der Hausbibliothek von St. Clement sämtliche Akten, die wir kriegen konnten. Nach und nach zogen wir jeden einzelnen der verstaubten Wälzer aus den Regalen und überflogen jede Seite. Aber alles, was es vor den 1950er-Jahren an Informationen gab, war mager und völlig willkürlich.

Nach diesem Fehlschlag ging ich dazu über, die Straßen von Montreal zu durchstreifen in der Hoffnung, über irgendeinen Auslöser für eine Vision zu stolpern. In Wahrheit suchte ich wohl nach Dante. Überall entdeckte ich seine Spuren – ein altes Lateinbuch, das auf meinem gewohnten Tisch im Café liegen geblieben und in das eine Nachricht gekritzelt war: Ich bin auf der Suche. Eine mit dem Finger in ein vereistes Fenster gemalte Botschaft: Du fehlst mir. Worte, die in den Briefkasten neben dem Geschäft an der Ecke geritzt worden waren: Vergiss uns nicht. Bei jedem dieser Funde zitterte mir das Herz in der Brust und ich musste mich von dem Anblick wegreißen, um nicht zu sehr aufzufallen. Anfangs hatte ich Anya an meiner Seite, aber als die Ferien näher rückten, musste sie ihrem Vater im Laden aushelfen und ich blieb allein zurück. Gelegentlich holte Noah mich nach dem Unterricht ein und spazierte plaudernd mit mir das verschneite Kopfsteinpflaster entlang. Dann betrachteten wir die Wasserspeier, die oben über die Dächer wachten. Jedes Mal, wenn mir durch eine Gasse diese kalte Brise entgegenwehte, blieb ich wie angewurzelt stehen, starrte die verlassene Straße runter und wartete auf Dante. Aber er kam nie.

Mir war nicht klar, was ich da tat. Ich dachte, ich würde nur irgendwie die Zeit bis zu Dantes Rückkehr füllen, doch als die Wochen ins Land gingen, entfernte uns jeder Tag weiter voneinander. Ich begriff nicht, was geschah, bis ich mich eines Tages bei der Freude darauf ertappte, Noah über den Weg zu laufen. Und dann schmiedete ich auf einmal Pläne, um ihm über den Weg zu laufen. Unser Beisammensein schien mir die Steine von der Brust zu stemmen. Es war einfach schön, mit jemandem umherzuziehen und sich über Nichtigkeiten zu unterhalten.

An einem der seltenen Tage, an denen ich allein unterwegs war, fand ich mich auf einmal am Flussufer wieder und starrte auf die verlassenen Getreidesilos.

Als die Touristen sich verzogen hatten, trat ich ans Geländer. Ich ließ den Blick über den Sankt-Lorenz-Strom schweifen, hinüber auf die andere Seite, und räusperte mich. »Wo steckst du?«, fragte ich, und ohne mein Echo abzuwarten, fuhr ich fort. »Warum verschwindest du immer wieder? Warum kommst du nicht zu mir?«

Mir brach die Stimme und ich hielt inne, schob mir die Haare aus dem Gesicht und versuchte, mich zusammenzureißen. Als mir meine Fragen wieder um die Ohren geschleudert wurden, waren sie verquirlt und verworren; ein Wort türmte sich auf das andere, alles wiederholte und vermischte sich zu einem formlosen Brei. Genauso sah es in mir selbst aus.

»Wo steckst du?«, hörte ich schließlich meine schwächelnde Stimme von den Silowänden abprallen. »Wo steckst du?«

Erschöpft sank ich auf das Metallgeländer, hatte keine Fragen mehr, keine Antworten, keine Energie, noch weiterzuforschen. Da hörte ich eine Stimme. Nicht die des Echos, sondern direkt hinter mir.

»Ich bin hier.«

Ich erstarrte, als mich sein kalter Atem am Ohr kitzelte. Dann fuhr ich herum. »Dante?«

Zuerst sah ich die Manschetten seines Hemds, dann seinen Kragen, die lose Locke, die neben seinem Kinn baumelte, den Stift hinter seinem Ohr. »Du bist hier.« Ich starrte auf sein bartschattiges Kinn, seine schmalen Lippen, die mir sagten: »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.«

»Du hast mir die Nachrichten hinterlassen«, sagte ich und blickte mich rasch nach neugierigen Beobachtern um.

Dante nickte. »Ich versuch schon seit Wochen, dich zu erreichen«, sagte er. »Aber du warst nie allein.«

Plötzlich beschämt, kaute ich auf meiner Lippe herum. »An diesem Abend auf dem Friedhof. Du hast den Satz nie beendet.«

Dante schwieg. Doch dann sagte er: »Ich wollte, ich könnte dir erzählen, was ich mache. Aber es geht nicht. Ich darf dich nicht in Gefahr bringen.«

Ich trat einen Schritt zurück. »Okay«, sagte ich langsam. »Bedeutet das, dass du vorher doch schon mal auf dem Friedhof warst?«

Bevor er antworten konnte, hörte ich aus der Ferne jemanden nach mir rufen. »Renée?«

Der Klang meines Namens ließ mich auffahren. Dante wirbelte herum; seine Augen suchten das Ufer ab.

Noah, dachte ich. Hilflos drehte ich mich zu Dante. »Ich war heut nicht mit ihm verabredet«, erklärte ich schnell.

»Mit wem?«, fragte Dante mit Augen wie Schlitzen.

»Einem Wächter. Du musst gehen«, warnte ich und blickte über meine Schulter. Von der anderen Straßenseite winkte Noah mir zu, aber ich winkte nicht zurück. »Ich geh rüber und lenke ihn ab«, sagte ich und griff nach Dantes Hand. Über uns krächzten die Möwen und flogen komplizierte Muster.

»Warte.« Dante hielt mein Handgelenk fest. »Sag mir, dass du mir glaubst. Dass du glaubst, dass ich dich niemals verletzen würde, und auch sonst niemanden.«

»Das tu ich.« Meine Augen jagten zu Noah. Wenn er Dante fände, würde er es den Lehrern erzählen, und das wäre das Ende.

»Sag es laut«, sagte Dante mit flehenden braunen Augen. »Bitte.«

»Ich glaube dir«, sagte ich verwirrt. »Du würdest mich nie verletzen, und auch sonst niemanden.«

Erleichterung huschte über sein Gesicht und er lockerte seinen Griff um meinen Arm. »Ich liebe dich«, sagte er. »Geh jetzt.«

Ich entschlüpfte Dantes eisigem Luftwirbel und rannte zu Noah.

»Was willst du hier?«, fragte ich und stellte mich ihm in den Weg.

»Ich bin früher aus dem Unterricht weg und dann hergekommen, um dich zu suchen«, antwortete er etwas verblüfft. »Bist du in Ordnung? Du wirkst ganz schön nervös.«

»Mir geht’s gut«, sagte ich und starrte auf das Spiegelbild der Silos in Noahs Brillengläsern, während Dante mit gesenktem Kopf den Kai entlangging.

Noah musste ihn auch gesehen haben, denn er fragte: »Wer war das?«

»Wer?«

»Der Typ, mit dem du da gerade gesprochen hast.«

»Ach, nur jemand, der den Weg wissen wollte.«

Noah rückte von mir ab. »Du lügst. Ich hab gesehen, wie du ihn angeschaut hast. Du hast ganz aufgewühlt gewirkt.«

Ich folgte seinem Blick die Straße hinunter, wo Dante gerade in der Menge unterging. »Ich kann ihn erspüren«, sagte Noah. »Er ist ein – ein –«

Untoter, dachte ich, obwohl Noah nicht fertig sprach. Stattdessen ging er auf mich los. »Das ist er, nicht wahr?«, sagte er ungläubig. »Dein Freund ist ein Untoter.«

»Nein.« Ich schüttelte meinen Kopf. »Er ist einfach ein Freund.«

Noah trat von mir weg. »Deshalb sprichst du nie von ihm. Das ist also dein großes Geheimnis?«

»Nein –«, wollte ich sagen, aber er fiel mir ins Wort.

»Wie konntest du mir das verschweigen?«

»Dir was verschweigen?« Ich ballte die Faust. »Das ist mein Leben hier, nicht deins. Du hast eine Freundin, schon vergessen?«

»Lass Clementine aus dem Spiel«, sagte er mit einer völlig fremden, entschiedenen Stimme.

»Warum sollte ich das? Du bist jeden Tag mit mir zusammen. Hat sie das mitbekommen? Ist sie deshalb so fies zu mir?«

»Ich weiß, du kannst sie nicht leiden, aber Clementine würde nie was mit einem Untoten anfangen, während sie sich zum Wächter ausbilden lässt. Das ist einfach nicht richtig«, sagte er mit gesenkter Stimme.

Jetzt machte ich einen Schritt zurück. »Also ist jetzt Clementine mein moralischer Standard? Was weiß die schon von Liebe? Von Verlust? Was willst du darüber wissen?«

Bei meinen Worten schien sich Noah zu winden und sofort fühlte ich mich schuldig, weil ich ihm wehgetan hatte. »Letztes Jahr hat sie ihren eigenen Bruder begraben müssen. Er war untot. Ihr Vater hat sie gezwungen. Sie hat niemandem davon erzählt, aus genau den gleichen Gründen, aus denen du dein Geheimnis für dich behältst, schätz ich mal. Obwohl ihre Entscheidung ganz anders ausgesehen hat als deine.«

Der dreißigste Juli, dachte ich. Das hatte Anya zu Clementine gesagt, damals auf dem Wohnheimflur. Das hatte sie gemeint. Mein Blick wanderte vom Flussufer zurück zu Noah, aber er war schon gegangen.

 

Als ich an jenem Abend auf mein Zimmer zurückkehrte, konnte ich nur noch ohne Decke und mit aufgerissenem Fenster auf dem Bett liegen. Die kalte Nachtluft drang herein, umhüllte mich wie Dantes Gegenwart. Ich brauchte irgendetwas, um ihn mir in Erinnerung zu rufen, um mich zu ihm zurückzubringen. Also tat ich das Zweitbeste. Ich rief Eleanor an.

»Du klingst depressiv«, sagte sie, nachdem ich ihr mein Herz ausgeschüttet hatte. »Vielleicht gehst du mal zum Arzt.«

Das war der letzte Vorschlag, den ich aus Eleanors Mund erwartet hätte. »Bitte? Ich bin nicht depressiv«, gab ich zurück, rollte mich im Sessel am Fenster zusammen und sah zu, wie im Innenhof die aufflackernden Straßenlaternen die Nacht einleiteten.

»Du hast ständig Visionen. Halluzinationen. Und dann triffst du dich mit einem anderen Typen? Was ist mit Dante? Der ist dein Seelenpartner.«

»Noah ist nur ein Freund«, flüsterte ich, damit Clementine mich nicht hörte.

Eleanor reagierte lange nicht. Durch die Wand konnte ich Clementine aufgebracht herumbrüllen hören. Vielleicht telefonierte sie mit Noah.

»Ich geh jetzt zur Therapie und es hilft mir wirklich … mich besser zu verstehen«, sagte Eleanor. »Und mich zu verstehen hilft, mich unter Kontrolle zu haben.«

»Therapie?«, fragte ich. »Aber du bist doch genau richtig. Du brauchst keinen Arzt.«

Eleanor senkte die Stimme. »Ich hab in letzter Zeit viel nachgedacht. Über Schlimmes nachgedacht.«

Ich kräuselte die Stirn. »Was meinst du damit?«

»Über das Leben und den Tod. Über mich und warum ich anders bin. Über die Dinge, die ich haben möchte.«

Ich wartete ab, bis sie weiterredete.

»Ich hab solche Angst«, sagte sie und die Worte zitterten durch den Hörer. »Ich will nicht sterben.«

»Das wirst du auch nicht«, sagte ich ganz automatisch, ohne mich überhaupt darauf einlassen zu wollen.

Eleanor lachte kalt auf. »Ach komm, Renée, du weißt, dass ich untot bin. Ich hab nur einundzwanzig Jahre.«

»Nein«, sagte ich. »Wir finden einen Ausweg. Die Neun Schwestern. Die Visionen. Die Rätsel. Wenn ich das letzte finde, wirst du –«

Doch Eleanor schnitt mir das Wort ab mit einer Bestimmtheit, die ich zuvor noch nie bei ihr erlebt hatte. »Es gibt keine Antwort, Renée. Du verschließt die Augen vor der Wahrheit. Ich werde sterben. Dante wird sterben. Wir alle werden sterben.«

Ich schluckte. »Nein«, sagte ich. »Dir gehen nur die Nerven durch. Es gibt eine Lösung, ich weiß es.«

Ich hörte, wie Eleanor tief Luft holte. »Neulich, da bin ich zum Megaron gelaufen und da hab ich einen der Söhne von den Haustechnikern gesehen, wie er hinter den Büschen eine geraucht hat, statt zu gießen. Der sieht kaum älter aus als ich. Ich hab ihn dauernd anstarren müssen. Ich hab mir gedacht, wieso kriegt der ein ganzes Leben und ich nicht? Warum verdient der mehr Zeit als ich?«

»Das tut er nicht«, sagte ich.

»Ich wollte mir seine Seele holen, Renée. Ich wollte einfach hingehen und sie mir nehmen.«

Ich wurde still.

»Bist du noch da?«

»Ja«, sagte ich. »Aber das würde dir auch nicht helfen, weißt du. Er hat nicht deine Seele.«

»Das weiß ich«, sagte sie. »Ich hab nicht nachgedacht. Ich war nur so sauer. Als hätte ich keine Zeit mehr. Seine Seele würde mir mehr Zeit schenken.«

Und ich, ich empfand genauso. Dante blieben nur noch fünf Jahre. Und auch wenn ich es Eleanor gegenüber nie zugegeben hätte: Seit jener Lateinstunde, in der uns der Lehrer vom Liberum und ihren Überlebensmethoden erzählt hatte, war dieser schreckliche, verbotene Gedanke immer wieder in mir hochgekommen, so sehr ich ihn auch unterdrücken mochte. Wenn das Liberum Seelen rauben konnte, um damit Lebenszeit zu gewinnen, dann konnte Dante das auch. »Ich weiß, was du fühlst«, sagte ich. »Aber ich frag mich, ob es sich nicht immer so anfühlen wird, als hätten wir nicht genug Zeit – selbst wenn wir achtzig werden.«

»Nicht für mich«, sagte sie. »Als ich klein war, hab ich mich immer geschminkt und mir ausgemalt, wie ich wohl aussehen würde, wenn ich älter bin. Aber wenn ich mir das jetzt vorstellen will, schaffe ich’s einfach nicht.«

Ich musste lächeln, weil mir einfiel, wie sie sich am Gottfried jeden Abend mit dieser teuren Creme eingeschmiert hatte. »Du warst total besessen von Falten.«

»Bin ich immer noch«, sagte sie. »Nur jetzt – jetzt will ich sie haben.«

 

Eleanors Worte hallten mir noch immer durch den Kopf, als Rektor LaGuerre uns zu einem kleinen Wäldchen außerhalb der Stadtgrenze kutschierte. Es war ein grauer Novembernachmittag und Frost überzog die kahlen Bäume. Wir ratterten über eine Holzbrücke, aber Clementines Kopf vor mir lag ruhig auf Noahs Schulter. Ich musterte ihren Schwanenhals, ihr kurzes, gewelltes Haar, und versuchte mir vorzustellen, wie sie wohl in einundzwanzig Jahren aussehen würde, wie Noah aussehen würde. Eleanor würde dann schon tot sein.

Seit unserem Streit am Flussufer herrschte zwischen Noah und mir Funkstille. Obwohl ich meine Worte inzwischen schwer bereute, war ich immer noch aufgebracht. Wie konnte er sich einfach so ein Urteil über mein Leben anmaßen? Und noch schlimmer: Was, wenn er mit seinem Urteil recht hatte?

Wir hielten am Straßenrand und schleppten unser Werkzeug zu einer schneebestäubten Waldeslichtung.

»Um ein wirklich großer Wächter zu werden, müssen Sie Bestattungsrituale als Kunstform begreifen«, sagte der Rektor. »Zur Bestimmung des Bodens sollten Sie nicht mehr tun müssen, als ihn in der Hand zu zerreiben. Sie müssen die tiefsten Löcher graben, die haltbarsten Särge zimmern und die Toten so einwickeln, als drapierten Sie feinste Seide um eine Schaufensterpuppe.

In unserer heutigen Übung werden Sie einen Scheiterhaufen errichten. Sie werden alleine arbeiten und sich Ihre Materialien im Wald zusammensuchen. Am Ende der Stunde werden wir sie gemeinsam in Brand setzen.« Er rollte eine Leinentasche auf und reichte jedem von uns eine Axt. »Einen guten Scheiterhaufen erkennt man an folgenden Merkmalen: Erstens, er muss sich rasch entzünden und die Flamme halten. Zweitens muss er stabil genug sein, um das Gewicht eines menschlichen Körpers zu tragen, ohne zusammenzubrechen. Drittens sollte die Rauchentwicklung so gering wie möglich sein. Es ist niemals opportun, mit einem Scheiterhaufen auf sich aufmerksam zu machen.«

Als er fertig war, verteilten wir uns und rannten in den Wald, um so viel Holz wie möglich zu sammeln. Ich kam an Anya vorbei, die Zweige von einer Birke abschlug, an Brett, der sich an einem morschen Nadelbaum zu schaffen machte, an April und Allison, die anscheinend entgegen der Anweisung des Rektors ein Gemeinschaftswerk lieferten. Zu meiner Rechten strich Clementine um die Bäume und bahnte sich mit Axtschwüngen einen Weg durchs Unterholz.

Ich sammelte nur trockenes Holz, das ich vom Waldboden auflas, und häufte es auf meinen Platz in der Lichtung.

Gegenüber krempelte sich Noah die Ärmel hoch, zerbrach einen Ast über dem Knie und begann, seine Holzstücke ineinanderzuflechten. Seine Hände bewegten sich so schnell, als säße er an einem Webstuhl.

Ich hatte keinen wirklichen Plan; ich bückte mich und stapelte das Holz paarweise, fädelte die Stücke ineinander, bis sie die Basis einer Wendeltreppe bildeten.

Neben mir werkelte Clementine. Ihre Jacke hatte sie auf den Boden geworfen und auf ihrer Bluse zeigten sich Schweißränder. Auf Zehenspitzen schlich sie um einen Haufen Reisig, der jedes Mal in sich zusammenstürzen wollte, wenn sie ein weiteres Stück Holz obenauf legte. Frustriert pfefferte sie einen Ast zu Boden und nahm einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Als sie meinen halb fertigen Scheiterhaufen erspähte, huschte ein Ausdruck des Schreckens über ihr Gesicht, das sich rasch zu einer hasserfüllten Grimasse verzerrte.

Ich ließ sie links liegen, wischte mir die Hände am Rock ab und schlenderte wieder in den Wald, um mehr Zunder zu sammeln.

Auf dem Rückweg kam ich an Anya vorbei, die verzagt auf dem Boden hockte, umgeben von Stöckchen, Hölzern und belaubten Ästen. Ihr Gesicht war schmutzverschmiert.

»Alles okay mit dir?« Ich beugte mich zu ihr herunter.

Sie warf die Hände empor. »Egal, wie ich’s anstelle, sie kippen immer um. Keine Chance.«

Ich wartete, bis alle anderweitig beschäftigt waren, und arrangierte ihre Stöckchen flink in die Grundform eines Zylinders. »Mach’s so.« Dann kehrte ich zurück an meinen Platz.

Am Ende der Stunde konnten nur Noah und ich einen fertigen Scheiterhaufen aufweisen, der auch das Gewicht eines Menschen tragen konnte; alle anderen fielen in sich zusammen. Meiner sah aus wie eine Wendeltreppe, die sich um einen Sockel schlang. »Wunderschön«, sagte der Rektor und stupste gegen die Basis, um das Fundament zu überprüfen. Aber der von Noah war ein wahres Kunstwerk. Er bestand aus Hunderten von schmalen Holzstückchen, die um das Podest herum gitterförmig angeordnet waren wie das Innere einer Muschel. Er wirkte unsicher, als der Rektor aufstand und mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen seine Hand über die Verbindungen der Hölzchen gleiten ließ.

»Bemerkenswert«, sagte er. »Tout simplement remarquable.«

Und mit diesen Worten entzündete der Rektor ein Streichholz und setzte den Haufen in Brand. Die Flamme sprang sofort über und eilte wie mit schnellen Fingern über das ganze Gebilde. Aber als er ein Streichholz gegen meinen hielt, geschah gar nichts.

»Ihr Holz ist nass«, bemerkte er, nachdem er einen Ast berührt und seine Finger gegeneinandergerieben hatte.

»Was?«, fragte ich. »Aber ich hab doch extra trockenes, totes Holz gesammelt. Da war gar nichts feucht.«

Der Rektor gab mir keine Antwort. Stattdessen steckte er noch ein Streichholz an und dann noch eines, bis das Holz endlich Feuer fing. Aber als die Flamme auf den Rest des Haufens übergriff, füllte sich die ganze Lichtung mit dichtem, schwarzem Rauch.

Hustend traten alle die Flucht an, versuchten, den Rauch wegzufächeln.

»Was passiert hier?«, fragte ich. »Ich begreif das nicht.«

Der Rektor griff sich eine Axt und zerlegte den Scheiterhaufen mit drei gezielten Schlägen. Der Turm klappte auseinander, das Feuer erlosch und der Rauch verzog sich. In der Mitte meines Scheiterhaufens lag ein unordentlicher Haufen feuchter Blätter, aus deren Asche zischend Rauch aufstieg.

»Aber die hab ich da nicht hingetan«, sagte ich. »Ich würde doch nie nasses Laub in meinen Scheiterhaufen stecken.«

Ich sah mich in der Lichtung um, aber den anderen schien das völlig egal zu sein. Als alle ihre Sachen zusammenpackten, fiel mein Blick auf Clementine, die mich unmerklich anlächelte und sich dann nach ihrer Wasserflasche bückte. Sie war leer.

Ich knallte mein Werkzeug zu Boden und wollte gerade auf sie losgehen, als ich Noah neben ihr entdeckte. Er hatte Clementines Mantel aufgehoben, aber jetzt stand er da wie festgefroren. Er musste den Blick bemerkt haben, mit dem sie mich bedacht hatte, denn jetzt lagen seine Augen auf ihr. Als er begriff, was sie da getan hatte, malte sich Abscheu in sein Gesicht. Er ließ ihren Mantel einfach fallen, drehte sich um und marschierte zurück zum Kleinbus.

 

Auf der Rückfahrt zur Schule saß Clementine in der letzten Reihe, Noah direkt vor ihr. Wenn die Musik des Rektors mal leiser wurde, konnte ich sie streiten hören, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Als wir uns durch die Straßen schlängelten, nahm ich auf einmal einen kalten Luftzug wahr, der sich mir schmal um die Knöchel wand und mich erst wieder losließ, als wir um eine Ecke bogen.

»Hast du das gespürt?«, fragte ich Anya.

»Was gespürt?« Sie sah von ihrem Buch auf.

Ich reckte einen Finger, um sie zum Schweigen zu bringen, und schloss die Augen, um es wiederzufinden, doch da war nichts.

»Schon gut.« Ich blickte aus dem Fenster, starrte den Passanten auf dem Gehweg ins Gesicht und hoffte, unter ihnen Dante zu entdecken.

Als wir das St. Clément erreicht hatten, regnete es. Anya und ich überquerten gerade den Schulhof, da zupfte eine Hand an meinem Ärmel. Clementine – eben hatte ich ihre Stimme gehört. Ich wirbelte herum. »Fass mich nicht an.« Doch vor mir stand Noah.

Er machte einen Schritt rückwärts und zog seine Hand zurück. »Tut mir leid. Ich wollte dich nicht belästigen.«

»Oh.« Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust. »Ich dachte, du wärst …« Ich unterbrach mich, bevor ich ihren Namen in den Mund nehmen musste.

»Ah.« Er wusste sofort, wen ich meinte. »Klar. Also, ich wollte mich nur …«

»Du musst dich nicht für sie entschuldigen. Ich kann schon allein auf mich aufpassen.«

Noah schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »… mich für mein Verhalten entschuldigen«, sagte er. »Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Ich weiß nichts über den Typen oder wie er zu dir ist. Das hat mich einfach kalt erwischt.«

Ich kaute auf meiner Lippe und nickte. »Mir tut’s auch leid. Ich wollte nicht –«

»Keine Sorge«, sagte er. »Ich weiß schon.«

Der Nieselregen besprenkelte seine Brille. »Ich wollte dich auch fragen, was du am Freitag machst.«

»Freitag?« Obwohl ich keinerlei Pläne hatte, tat ich so, als müsse ich nachdenken. Alles andere wäre zu peinlich gewesen. »Weiß ich jetzt nicht. Muss ich erst nachschauen.«

Er zögerte, als sei er nervös. »Hättest du …«, fuhr er gedehnt fort, »eventuell Interesse daran, bei mir zu Hause zu Abend zu essen?«

»Bei dir zu Hause? So richtig mit deinen Eltern?«, fragte ich, überrascht und irgendwie geschmeichelt.

»Ja.« Er lächelte amüsiert. »Warst du noch nie mit irgendwem bei den Eltern zum Essen?«

Nein, noch nie – unangenehm, aber wahr. Zumindest nicht bei einem Jungen zu Hause. Dante hatte keine Eltern und davor … nun ja, an mein Leben davor konnte ich mich kaum noch erinnern. Der Gedanke, mit Noahs Eltern am Tisch zu sitzen, war so altmodisch, so normal, dass er mir richtig seltsam vorkam.

»Ich gehe jeden Freitag nach Hause, und so reizend meine Eltern auch sind, ich glaube, diese Woche steh ich keinen ganzen Abend allein mit ihnen durch. Wenn du dabei bist, könnte es vielleicht sogar lustig werden.« Er musste mir meine inneren Kämpfe angesehen haben, denn er fügte hinzu: »Erbarmst du dich?«

»Und was ist mit Clementine?«

Noahs Grübchen verloren sich gemeinsam mit seinem Lächeln. »Was soll mit ihr sein?«

»Sie ist deine Freundin. Solltest du nicht sie mitbringen?«

Er kratzte sich am Kopf. »Richtig, aber … wir haben uns verkracht.« Er schob sich die Hände in die Taschen. »Und außerdem will ich dich fragen.«

Wieder biss ich mir auf die Lippe. »Oh, wie nett, aber –«

»Bestens«, grinste er breit. »Das werte ich dann als Zusage. Um sechs am Tor.«

 

Am Freitag verbrachte ich eine ganze Stunde damit, vor dem Badezimmerspiegel Kleider anzuprobieren, bis ich mich endlich für ein Outfit entschied, das »nur Freunde« zu sagen schien.

»Was treibst du da drinnen?«, kreischte Clementine durch die Tür. Ich war schwer versucht, ihr das mit dem Essen bei Noah unter die Nase zu reiben, aber das erschien mir dann doch zu grausam.

Noahs Eltern wohnten in einer wunderschönen Stadtvilla aus Klinkerstein drüben in Outremont. Wir nahmen die Metro. Sie war völlig überfüllt und immer wieder rutschte Noahs Hand von der Haltestange ab und streifte meine.

Sein Vater öffnete die Tür. Über seinem Anzug trug er eine Schürze. Er war füllig, ohne dick zu sein, mit runden Wangen und einem braunen Haarschopf, der ihm oben auf dem Kopf klebte wie ein Toupet. Noah erkannte ich gar nicht in ihm. In der Hand hielt er ein Glas Rotwein. »Ah, hallo!«, lächelte er und sein Gesicht wurde ganz rot vor Freude, als er Noah umarmte. Am kleinen Finger trug er einen schweren Ring.

»Dad, das ist Renée.«

»Luc.« Er drückte mir die Hand und winkte uns dann hinein.

Im Haus der Fontaines herrschte ein gemütliches Chaos – überall Orientteppiche, stapelweise Politikmagazine und Bücher. Auf einer Seite des Wohnzimmers thronte ein Aquarium voll winziger getupfter Fische. Sie sahen aus wie aus Zeitungspapier.

Aus der Küche war Tellergeklapper zu hören und kurz darauf trat eine hochgewachsene Frau mit einer Servierplatte voller Fleisch auf den Flur.

»Ah, und hier haben wir meine Veronica«, sagte Luc, drehte sich zu Noahs Mutter und legte ihr seine Hand auf den Rücken.

Sie sah genauso aus wie Noah: groß, kantig, von einer natürlichen Eleganz. Ihre hochhackigen Schuhe ließen ihre Beine noch länger wirken. »Freut mich sehr.«

Als wir ihr ins Esszimmer folgten, sagte sie über die Schulter: »Ich hoffe, du magst Fleisch.« Bevor ich antworten konnte, verbesserte sie sich. »Ach, natürlich tust du das. Du bist schließlich Wächter, nicht wahr?«

Der Tisch war bereits gedeckt. Noah zog einen Stuhl für mich heraus und drapierte mit einer nachlässigen Verbeugung die Serviette auf meinem Schoß. Ich musste lachen, als er sich neben mich setzte. Seine Eltern wechselten einen bedeutungsvollen Blick, während die Mutter die Servierplatte herumreichte. Eine beeindruckende Auswahl an Pasteten, Würsten und hauchdünnen Roastbeefscheiben war darauf angerichtet. Dann verschwand sie wieder in der Küche.

Auf einer Seite des Zimmers befand sich ein reich verzierter offener Kamin. Über dem Sims hingen zwei Schaufeln im Zwergenformat, beide auf Holztafeln montiert. Auf der einen stand Noah, auf der anderen Katherine.

»Meine erste Schaufel«, erklärte Noah zu mir gelehnt. »Hab ich mit vier von meinen Eltern bekommen.«

»So bist du aufgewachsen?«, fragte ich. »Hast du immer gewusst, was du bist?«

»Jede Familie ist anders«, bemerkte sein Vater und füllte mir das Weinglas. »Wir sind hier sehr offen miteinander. Man ist eben, was man ist. Was bringt es, sich gegenseitig etwas vorzumachen?«

Ich sah zu, wie Noah ein Stückchen Pastete auf einem Baguette verstrich und abbiss. Er lachte über irgendetwas, das sein Vater gesagt hatte, und dann blickte er zu mir. Ich hatte den Witz nicht mitbekommen, lachte aber trotzdem. Das also wäre mein Leben, wenn meine Eltern nicht gestorben wären. Wenn ich mich in Noah verlieben könnte. Doch irgendetwas war hier faul. Warum war ich hier und nicht Clementine? War ich in Noahs Augen wirklich so besonders oder war er nur an dem Mädchen interessiert, für das er mich hielt?

Die Tür flog auf und Noahs Mutter kehrte zurück mit einer silbernen Platte und einem weiteren Gang. Noahs Vater legte ihr die Hand auf die Hüfte, als sie den Deckel lüpfte und Ofenkartoffeln mit Rosmarin und Thymian und dazu einen Lammbraten präsentierte. Das Lammgerippe stand aus der Mitte hoch, als wäre es ein modernes Kunstwerk. Diese Aromaflut hätte mich überwältigen sollen, aber ich roch rein gar nichts. Je länger ich auf das Essen starrte, desto wächserner und unechter sah es aus, als wäre zwischen mir und dem Rest der Welt ein Filter montiert.

»Also, Noah hat uns erzählt, dass du am St. Clément an erster Stelle gereiht bist?«, sagte seine Mutter und tat uns etwas auf. »Sehr eindrucksvoll.«

Noahs Vater gluckste und nahm sich seinen Wein. »Ja«, bestätigte er. »Und was für eine Art Wächter bist du?«

»Äh – das weiß ich nicht.«

»Ich nehme an, nach der Schule wirst du ans Wächterhochgericht wollen?«, fragte Noahs Mutter und legte die Beine übereinander.

Bevor ich antworten konnte, mischte sich Noah ein. »Sie kann machen, was immer sie möchte«, sagte er. »Sie ist in allem gut.«

Ich wurde rot. »Warum sollte sie dann nicht?«, fragte Noahs Vater. »In unserer Gesellschaft gibt es kein begehrenswerteres Amt.«

»Vielleicht will sie kein Hochrichter werden«, entgegnete Noah. »Vielleicht möchte sie was anderes machen.«

Ich versuchte, mich ebenfalls am Gespräch zu beteiligen, doch das Lachen seiner Mutter bremste mich aus. »Aber jeder will doch Hochrichter werden. Noah, wenn du dich nur ein bisschen anstrengst, könntest du eines Tages –«

»Darüber möchte ich jetzt nicht reden«, sagte er mit mühsam beherrschter Stimme.

»Noah hat mir erzählt, Sie sind beide an der Uni?«, wechselte ich das Thema.

Noahs Mutter lächelte. »Oui. Ich bin Romanistin und Luc ist einer der renommiertesten Historiker Kanadas.« Sie rieb ihrem Ehemann den Arm. »Gerade hat er mit der Recherche zu seinem neuen Buch begonnen. Diesmal etwas ganz anderes.«

Noah schaufelte sich einen riesigen Kartoffelberg auf den Teller. »Worum geht’s?«

Sein Vater lehnte sich im Stuhl zurück und schwenkte sein Glas. »Eine vergessene Naturwissenschaftlerin mit einem seltsamen Steckenpferd.«

Noahs Mutter lächelte ihn neckisch an, bevor sie in die Küche entschwand, um für Weinnachschub zu sorgen.

»Erzähl weiter«, bat Noah.

»Bon«, sagte sein Vater und faltete die dicken Finger. »Ihr Name war Ophelia Cœur. Und sie war besessen vom Wasser.«

Ophelia Cœur. Der Name sagte mir irgendetwas. »Wer war sie?«, fragte ich und zermarterte mir das Hirn, woher ich sie wohl kennen mochte.

»Sie ist die Marie Curie unter den Wächtern. Die Mutter Teresa der Wächter. Der Kolumbus der Wächter!«, rief Noahs Vater und fuchtelte derart herum, dass er Wein verschüttete.

»Aber was hat sie denn gemacht?«, beharrte Noah.

»Viele, viele Sachen. Sie hat als Erste die Wirkung des Wassers auf die Toten untersucht.«

Ich runzelte die Stirn. Daher kannte ich sie ganz bestimmt nicht.

»Ihre Karriere hat sie als Schulkrankenschwester am St. Clément begonnen. 1894 ist sie dann ans Royal-Victoria-Krankenhaus gegangen, kurz nachdem es die Plebejer übernommen hatten. Dort wurde sie dann Oberschwester der Kinderabteilung.«

»Das Royal Victoria?«, wiederholte ich und mein Blick traf Noahs. »Die Kinderabteilung?«

»Oui. Sie hat das ganze Krankenhaus revolutioniert.«

Ich hustete und die Gedanken rasten in meinem Kopf. Noah sah mich wissend an. »Und dann?«

Noahs Vater tunkte ein Brotstückchen in den Bratensaft und stopfte es sich in den Mund. »Ein paar Jahre darauf hat Ophelia Cœur die Krankenpflege an den Nagel gehängt und ist in den Dienst der Wissenschaft getreten«, fuhr er mit vollem Mund fort. »Sie hat jedes Gewässer in ganz Nordamerika abgeklappert, um Ertrunkene zu untersuchen – und die Art, wie Seele und Körper auf das Untertauchen in verschiedenen Arten von Wasser reagieren. Sie war die Erste, der auffiel, dass Wasser eine ›dämpfende‹ Wirkung auf tote Lebewesen hat.«

Noahs Mutter hatte sich inzwischen wieder zu uns gesetzt und wischte Luc einen Essensrest vom Kinn. Er strahlte sie an und drückte ihr die Hand.

»Die meiste Zeit hat sie damit verbracht, die Großen Seen zu studieren, vor allem den Eriesee. Sie hat behauptet, dass das Wasser dort die Toten noch besser abdämpft als anderswo.«

»Der Eriesee?«, hakte ich nach.

»Oui …«, sagte Luc, von meinem Interesse sichtlich verwirrt. »Viele der kleinen Inseln in diesem See hat sie als Erste betreten. Einige wurden sogar von ihr benannt.«

Die Kleinschwesterinsel. Hier war Miss LaBarge gefunden worden. Tot.

»Aber ich glaube, ihr größtes Verdienst bleibt die Verzeichnung aller Seen mit einem gewissen Salzgehalt, aller Seen, die die gleichen Eigenschaften wie Salzgewässer aufweisen. Das war, äh, um 1900 …«

»Wo liegt sie begraben?«, fragte ich und fuhr dann zurück, als ich merkte, wie fordernd das klang.

Noahs Eltern schien das nicht aufzufallen. »Wahrscheinlich auf See, wie alle anderen auch«, sagte Noahs Mutter, die an einer grünen Bohne knabberte.

»Ach so«, machte ich. Irgendwie hatte ich wohl erwartet, dass der namenlose Grabstein ihrer war.

»Aber ehrlich gesagt habe ich zu ihrem Tod keinerlei Quellen gefunden«, stellte Luc klar. »Damals war eben das Aktenwesen noch nicht so ausgereift wie heute. Obwohl einige ihrer Werknotizen in Archiven erhalten sind, wissen wir sogar heute noch relativ wenig über ihren Hintergrund. In ihre Vergangenheit hat sie kaum Einblick gewährt. In Erscheinung getreten ist sie auch kaum und ihre Forschungsergebnisse hat sie nur sehr gelegentlich veröffentlicht. Über ihre Vergangenheit wissen wir nur, dass sie irgendwann bei einem Brand schlimm verletzt wurde.«

Noah und ich dachten nicht mehr ans Essen.

»Merkwürdig, non?«, fragte Noahs Mutter und wedelte mit dem Sägemesser.

»Woher wissen Sie von dem Feuer?«, fragte ich.

»Weil ein großer Teil ihres Gesichts von Brandnarben entstellt war.«

»Haben Sie Bilder?«, fragte ich etwas zu übereifrig.

Noahs Vater schien ein wenig befremdet von meinem plötzlichen Wunsch, aber dann strahlte er. »Du hast den richtigen Forschergeist«, zwinkerte er mir zu. »Das gefällt mir. Nach dem Essen suche ich eins heraus.«

Unter dem Tisch strich Noahs Fuß gegen meinen und ich errötete gleich wieder.

Es war ein ausgiebiges, herzhaftes Abendessen. Einen weiteren Gang und zwei Flaschen Wein später war Noahs Vater ziemlich rosa um die Nase, aber sein Verstand arbeitete noch genauso wie vorhin, als er uns die Tür geöffnet hatte. Wir beendeten das Mahl mit einer Platte voll stinkender Weichkäsesorten, die Noahs Mutter wie einen Nachtisch aß. Sie fuhr mit dem Finger in den Camembert und leckte ihn dann ab, als wäre es Tortenguss. Voller Bewunderung lächelte Noahs Vater sie an.

»Also, du interessierst dich für Geschichte?«, fragte er durch einen Mund voller Blauschimmelkäse.

»Das war mal mein Lieblingsfach«, sagte ich zögerlich.

Ich musste sehr verwirrt dreingeblickt haben, denn Noahs Vater sagte: »Ach, ich dachte nur, weil du dich so sehr für mein neues Buch interessierst.«

»Was interessiert dich denn jetzt?«, wollte Noahs Mutter wissen.

»Äh – ich kann’s nicht genau sagen«, meinte ich. »Vielleicht, die Untoten zu unterrichten? Ihnen irgendwie zu helfen?«

Noahs Mutter stieß ein Lachen aus, als hätte ich einen Witz gemacht. Doch als sie begriff, dass es mir ernst war, wiederholte sie: »Ihnen helfen? Aber wieso?«

Ich erstarrte. »Was meinen Sie damit?«

»Nun, sie haben keine Seele. Denen ist nicht zu helfen.«

Ich spürte, dass Noah meinen Blick einfangen wollte, aber ich wich ihm aus.

»Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Am Gottfried –«

Bei der Erwähnung meiner alten Schule stöhnte Noahs Mutter auf. »Ach, dieser Ort. Schon seit Jahren wollen wir sie dazu bringen, den endlich zu schließen. Die Untoten Menschlichkeit lehren. Unmöglich! Enfants terribles, das sind sie, mehr nicht.«

Ich umklammerte das Käsemesser so fest, dass meine Knöchel ganz weiß wurden. Gerade holte ich zu einer Antwort aus, als Noah dazwischenfuhr. »Viele ihrer Freunde sind am Gottfried«, sagte er. »Sie stehen ihr sehr nahe.«

Fassungslos wischte ich mir den Mund mit meiner Serviette ab. Glaubte er wirklich, dass meine Meinung über die Untoten bloß auf Befangenheit gegenüber meinen Freunden beruhte?

»Manchmal frage ich mich«, brach es aus mir heraus, »ob die Wächter wirklich die Menschen vor den Untoten beschützen oder ob sie einfach nur Leute umbringen.«

Noahs Mutter hustete und über den Tisch senkte sich Schweigen.

»Was wir tun, ist eine Art von Kunst«, sagte sie schließlich, weit weniger freundlich als vorher.

»Aber wo ist der Unterschied?« Ich versuchte, meine Empörung im Zaum zu halten.

»Wir sind zivilisiert. Wir haben eine Rechtsordnung, Schulen, ein System. Die Untoten dagegen, die sind –«

»Sind was?«, fragte ich, weil ich wusste, was jetzt kommen würde. »Monster? Mörder?«

»Okay!«, fuhr Noahs Vater dazwischen. »Wollen wir uns jetzt das Porträt ansehen?« Nervös huschte sein Blick zwischen mir und seiner Frau hin und her und er tupfte sich mit der Serviette die Stirn ab.

»Klar«, sagte ich und versuchte, mich abzuregen.

Luc hievte sich in die Senkrechte und verschwand durch eine Tür. Mit einem großen Umschlag kehrte er zurück.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Noah.

Ich stocherte in meinem Käse herum. Warum war er nicht eingeschritten, als seine Mutter so über die Untoten geredet hatte? War er der gleichen Meinung? »So weit.«

Noahs Vater schob die Teller beiseite, zog ein Bild aus einem Umschlag und legte es vor uns aufs Tischtuch. Es war eine verblasste Schwarz-Weiß-Zeichnung, ein Porträt von den Schultern aufwärts, die Striche stumpf vom Alter.

Aus großen, schwarzen Augen starrte uns aus dem Bild eine Frau entgegen. Oder war es überhaupt eine Frau? Schwer zu sagen. Sie sah eher aus wie eine Kreatur, eine Laune der Natur, in deren Missgestalt echte Schönheit lag. Schwielige Narben krochen ihre Wangen hoch. Ihre Miene war finster und konzentriert, als entginge ihr rein gar nichts an mir. Mit ihren geschürzten Lippen schien sie mir zu vermitteln, dass sie etwas wusste, das mir verborgen war.

»Das ist nach ihrer ersten wissenschaftlichen Veröffentlichung entstanden. Sie muss damals in ihren Dreißigern oder Vierzigern gewesen sein.«

Sie sah viel jünger aus, fand ich, obwohl ihr Alter schwer zu schätzen war. »Sie ist … Furcht einflößend«, sagte ich beeindruckt.

»Oui«, sagte Noahs Mutter und stützte ihren Kopf auf zwei Fingern. »C’est incroyable.«

»Die sehen aus wie Wellen, nicht wahr?«, fragte Luc und berührte ihre Narben mit den Fingern. »Ich glaube, das kommt vorn aufs Buchcover.«

»Wie wird es denn heißen?«, fragte ich. »Ihre Biografie.«

»Mal de Mer.«

Seekrankheit.

 

Bevor wir gingen, eilte Noah ins Obergeschoss, um ein paar frische Hemden für die Schule einzupacken. Auf halber Strecke lugte er durchs Geländer zu mir herab. »Na, komm schon rauf.«

Der Treppenaufgang war gesäumt von Bildern des heranwachsenden Noah und seiner Schwester. Ein fünfjähriger Noah, in übergroßem Hemd und Krawatte vor dem St. Clément, als würde er schon mal für den Schulbesuch üben. Ein zehnjähriger Noah, der mit seiner Schwester vor dem Friedhof posierte. Ein ernst dreinblickender Noah, mit einer Schaufel in der Hand neben einem kleinen Erdgrab im Garten. »Mein erstes Haustier«, erklärte Noah, der plötzlich direkt hinter mir stand. Mir war, als hätte er eine meiner Haarsträhnen berührt, doch das musste Einbildung gewesen sein, denn im Nu war er im ersten Stock und führte mich den Tapetenflur entlang zu seinem Zimmer.

»Glaubst du, Ophelia Cœur war die neunte Schwester?«, fragte ich, als wir außer Hörweite waren.

»Sie hat am Royal Victoria gearbeitet –«

»Sie könnte im Dienst das Rätsel in einem der Zimmer versteckt haben«, sagte ich aufgeregt. »Und der Eriesee – da wurde Miss LaBarge tot aufgefunden. Vielleicht wusste sie von dem Rätsel«, sagte ich, in Gedanken bei dem Brief und dem ›verschwundenen Mädchen‹, von dem meine Mutter ihr geschrieben hatte. »Vielleicht ist der letzte Teil des Rätsels auf der Kleinschwesterinsel versteckt und Miss LaBarge wollte danach suchen.«

Als ich ausgeredet hatte, war ich völlig außer Atem, übersprudelnd vor Aufregung über die Möglichkeiten unserer Entdeckung.

Noah musterte mich eingehend. »Da gibt’s nur ein Problem.«

Mein Lächeln verblasste. »Und das wäre?«

»Die Daten. Mein Vater hat gemeint, ihre Karriere begann als Krankenschwester in den 1890ern. Die Neun Schwestern sind in den 1730ern umgebracht worden. Da liegen mehr als hundert Jahre dazwischen.«

»Was, wenn …« Ich hielt inne und dachte nach. »Was, wenn sie das Geheimnis verwendet hat und unsterblich geworden ist?«

Nach einem Augenblick des Nachdenkens schüttelte Noah den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn. Sie muss gestorben sein. Was soll sonst der Rätselteil auf dem Grabstein?«

Da war was dran. Bevor ich antworten konnte, ertönte die Stimme seiner Mutter von unten. »Noah? Hilfst du mir mal, deine Wäsche zu sortieren?«

»Un moment!«, rief er und drückte die Türklinke seines Zimmers nach unten.

Als ich den Raum betrat, fielen Jahre von mir ab. Verblasste Rockstarposter klebten an der Wand, mehrere knittrige Krawatten baumelten vom Bettpfosten und seinen Nachttisch zierte ein Dutzend Plastikfigürchen von mexikanischen Wrestlern. Noah tat alles, um sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen, während ich sein Zimmer unter die Lupe nahm.

Als ich mich von den CD- und Comicstapeln auf seinem Schreibtisch abwandte, hatte ich ein Lächeln auf dem Gesicht. »Mir gefällt’s hier.«

Während Noah in seinem Schrank herumwühlte, saß ich auf seinem Bett und spielte mit einem Teleskop herum, das zu einem der Fenster hinauszeigte. Ich überlegte, warum dieses Zimmer so ganz anders war als das von Dante. Es war nicht nur die Unmenge von Kleinkram … dieser Raum besaß eine Kindheit. Dantes Kindheit jedoch war für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Er hatte mir nie davon erzählt.

»Warum hast du vorhin nicht den Mund aufgemacht?«, fragte ich Noah. »Als deine Mutter über die Untoten geredet hat?«

Er zuckte die Schultern. »Ich stamme aus einer alten Wächterfamilie. Das sind meine Eltern, sie werden immer so denken. Es bringt nichts, sie ändern zu wollen.«

»Also bist du nicht ihrer Meinung …?«

»Ich glaube, dass die Untoten ihre Gründe für ihr Handeln haben. Aber wir sind Wächter. Und wir müssen auch dementsprechend handeln«, sagte er und tauchte mit einer Handvoll Hemden auf Kleiderbügeln wieder aus dem Schrank auf.

Ich richtete mich auf. »Und das bedeutet, sie umzubringen?«

»Das heißt, sie zu überwachen und sie zu begraben, wenn sie gefährlich scheinen.« Er schob sich das Haar aus der Stirn. »Warum fragst du überhaupt, wenn du meine Antworten eh nicht hören möchtest? Ich bin doch hier nicht der Oberschurke.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »So hab ich’s nicht gemeint.«

»Schon okay«, sagte er und stopfte seine Hemden in eine Tasche.

Ich hob eines der Plastikfigürchen auf. »Ich wollte, wir hätten uns als Kinder gekannt«, sagte ich und meinte es auch so, denn Noah war eine angenehme Gesellschaft. Er hatte ein lockeres Leben, bekam, was er wollte, und hatte mit allem Erfolg, womit er sich Mühe gab. »Mit dir konnte man sicher seinen Spaß haben.«

»Ich war genau wie jetzt«, meinte er. »Ich hätte dich gemocht.«

Ich fuhr mit dem Finger die Naht seiner Bettdecke nach. Was wohl geschehen wäre, wenn ich Noah ein Jahr früher kennengelernt hätte? Ich gab der Frage kurz nach. Mein einziger Grund für die Suche nach der neunten Schwester war Dante. Weil ich sie finden musste und nicht, weil ich mich nach dem unendlichen Leben sehnte oder mich auf irgendeine sagenhafte Suche begeben wollte. Aber wären Noah und ich sonst überhaupt Freunde geworden? Was war da zwischen uns außer diesem Geheimnis und der Faszination, die die Aufdeckung bisher unerforschter Dinge so mit sich brachte? Natürlich fand er mich aufregend. Das Problem war nur: Die Renée, die er toll fand, war nicht wirklich ich. »Vielleicht in einem anderen Leben«, sagte ich.

 

Zurück in meinem Zimmer knipste ich das Licht an und plumpste auf mein Bett. So verloren hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt. Die Seite meines Mantels, gegen die Noah sich bei unserer Rückfahrt in der Metro gelehnt hatte, schien immer noch warm.

»Wie hast du’s angestellt?«, sagte eine Stimme hinter mir.

Ich purzelte fast von der Matratze.

Clementine lachte verächtlich auf. Sie saß an meinem Schreibtisch, ihre schlanken Beine in meinem Sessel ineinandergefaltet wie ein Reh.

»Was machst du in meinem Zimmer?« Ich schnappte nach Luft.

Mit ernster Miene beugte sie sich vor. »Ich will wissen, wie du es angestellt hast«, sagte sie mit beängstigender Ruhe.

»Du kannst doch nicht einfach so hier reinkommen«, rief ich.

»Behandle mich nicht wie einen Volltrottel«, fuhr sie mich an. »Ich weiß, wo du heut Abend warst.«

»Wovon redest du?«

»Ich rede davon, wie du mir meinen Freund geklaut hast. Wie du mir meinen ersten Rang geklaut hast. Wie du den Kuss des Untoten überlebt hast.«

»Ich hab dir gar nichts geklaut. Den ersten Rang hab ich mir verdient. Und Noah und ich sind nur befreundet.«

»Und was zum Teufel ist dann das?«, brüllte sie und hielt die Jacke hoch, die Noah mir in der Nacht nach der Jagd auf Miss LaBarge gegeben hatte. Ich hatte immer wieder vergessen, sie ihm zurückzugeben.

Sie durchbohrte mich mit ihrem Blick. »Ich hab dich im Unterricht beobachtet. Besonders helle bist du nicht und du verhältst dich auch nicht wie eine Unsterbliche. Du tust immer so verhuscht, so ängstlich. Aber wovor sollte man Angst haben, wenn man eh unsterblich ist? Es sei denn, du weißt genau, dass du bist wie alle anderen, und hast deshalb Schiss.«

»Was kümmert’s dich?«, fragte ich.

Sie würdigte mich keinerAntwort. Stattdessen schnappte sie sich einen Fotostapel von meiner Kommode. »Mit wem warst du neulich Nacht auf dem Friedhof? Das war ein Untoter bei dir. Ich hab ihn erspürt. Ich hab seine Stimme gehört.« Als ich nicht antwortete, verzerrte sich ihr Gesicht vor Wut. »Wer war er?«

»Es war keiner da außer mir.«

Sie bekam sich wieder in den Griff und zog eine Augenbraue hoch. »Ich wette, er würde sich gar nicht freuen, wenn er wüsste, dass du mit Noah zu seinen Eltern essen gehst. Und ich wette, er würde sich auch nicht freuen, wenn ich meinem Vater erzähle, dass du dich nachts mit einem Untoten rumtreibst.«

»Was willst du?«, fragte ich. »Was bringt’s dir, in meinen Sachen rumzuschnüffeln? Mich zu bedrohen und mir Dinge anzuhängen, für die du null Beweise hast?«

»Ich will, dass du abhaust. Du sollst aus meinem Leben verschwinden.« Sie sah mir in die Augen und blickte dann auf die Fotos.

Das reicht, dachte ich. Ich stand auf und wollte sie ihr entreißen, aber sie hielt sie außerhalb meiner Reichweite.

»Ooh, sind das deine Eltern? Was ist noch mal mit denen passiert?«

Ich wollte sie anschreien, ihr die Spangen aus dem Haar rupfen, sie im Bad einsperren und dann Noah einladen und auf der anderen Seite der Tür mit ihm rummachen. Sie sollte wissen, wie es sich anfühlte, alle geliebten Menschen zu verlieren.

Ich hörte das Klatschen, bevor ich begriff, was ich getan hatte. Ich zog meinen Arm zurück und sah Clementine, die sich gegen die Wand drückte und sich die Wange hielt.

»Verlass mein Zimmer«, zischte ich und öffnete die Badezimmertür.

»Ich krieg raus, mit wem du nachts auf dem Friedhof warst, Renée.«

»Hau ab«, wiederholte ich.

»Ich werde ihn finden und ich werde ihn begraben.« Und damit war sie endlich verschwunden.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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