Das Häuschen

 
 

Ich erwachte in der Bibliothek, das Gesicht vergraben in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, aus dem Schlaf getrötet von einer Autohupe. Nach meinem Gespräch mit Dustin hatte ich jedes Zeitgefühl verloren, als hätten sich die letzten vierundzwanzig Stunden zu einem einzigen, unerträglich langen Augenblick ausgewalzt. Wie im Nebel war ich in die Bibliothek hinein- und wieder hinausgetigert, in der verzweifelten Hoffnung, dass sich die Nachricht von Miss LaBarges Tod als Albtraum entpuppen würde, aber es geschah einfach nicht. Das Siebzehn-Gänge-Frühstück, das Dustin mir bereitet hatte, war auf der Küchenanrichte stehen geblieben, bis es einer der Köche schließlich in den Mülleimer beförderte. Obwohl das Personal seinem gewöhnlichen Tagwerk nachging, schien das Herrenhaus durch den Tod von Miss LaBarge jetzt zugig und verwaist; als wären alle anderen mit ihr gestorben.

Miss LaBarge war auf der Jagd nach einem Untoten verunglückt. Das hatte Dustin mir eingetrichtert, immer wieder. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger Sinn ergab es. Warum war sie allein unterwegs gewesen, wo ich doch genau wusste, dass Wächter immer nur zu zweit arbeiteten? Und vor allem – warum war sie überhaupt auf der Jagd gewesen? Dem spärlichen Wissen zufolge, das ich mir aus den Wächterlehrbüchern meiner Mutter angelesen hatte, spezialisierten sich alle Wächter früher oder später; sie verlegten sich aufs Begraben, auf die Forschung, aufs Richteramt, die Lehre, das Sargzimmern. Die Untoten wurden auf Befehl gejagt und aufgespürt; man zog nicht einfach los und begrub sie. Vor allem Lehrer wie Miss LaBarge nicht. Sie hatte ihr Leben völlig in den Dienst des friedlichen Miteinanders von Untoten und Wächtern gestellt, sie das Zusammenleben gelehrt. Warum also sollte sie mehrere Staaten durchqueren, um einen von ihnen zu jagen?

»Warum?«, hatte ich Dustin immer wieder verzweifelt gefragt. Als ob ich ihre Fehler wieder rückgängig machen könnte, wenn ich nur die Antwort fände.

Ich schob die Vorhänge beiseite und spähte aus dem Fenster. Es war ein klarer, blauer Tag, so hell, dass es mir in den Augen schmerzte. Am Ende der sichelförmigen Zufahrt parkte der Wagen meines Großvaters mit geöffneten Türen und Dustin plagte sich mit zwei Papierstapeln, dem Aktenkoffer und der Reisetasche.

Ich trat gerade in den Flur, als mein Großvater ins Foyer hineingeprescht kam. Sein faltiges, sonnengegerbtes Gesicht erinnerte schwer an seine alte Lederaktentasche.

»Hast du schon gehört, dass Miss LaBarge –«, wollte ich gerade loslegen, aber mein Großvater unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung.

»Ich bin in Kenntnis über die Geschehnisse.« Er zog seinen Mantel aus und drapierte ihn über den Stapel, den Dustin auf seinen Armen balancierte.

»Kann man schon sagen, wer –«

»Ich weiß nichts, Renée.« Er musterte mich und sein Gesicht wurde sanfter. »Es tut mir leid.« Er nahm den Hut ab und garnierte damit noch seinen Mantel. Dustin nickte dienstfertig und entschwand mit seiner Last.

»Wo warst du?«, beharrte ich, ihm hinterherstiefelnd.

»Das erkläre ich dir später«, sagte er, ohne sich umzudrehen. »Jetzt habe ich einiges zu erledigen.«

Ich wartete in der Tür zu seinem Arbeitszimmer, während er die Papiere auf seinem Tisch durchwühlte, bis er das Gesuchte in den Händen hielt. Ohne mich eines Blickes zu würdigen, hob er den Hörer und wählte die Telefonnummer, die auf dem Blatt stand.

»Ja, hallo. Ist da das Haus von Miss LaBarge?« Einhändig lockerte er seine Krawatte.

»Wer ist das?«, bewegte ich die Lippen.

»Ja, danke sehr«, fuhr mein Großvater fort, lehnte sich über den Tisch und scheuchte mich auf den Flur hinaus. Während seine Bürotür ins Schloss fiel, hörte ich ihn noch sagen: »Jeffrey, hallo. Hier spricht Brownell Winters. Mein aufrichtiges Beileid …«

Da ich sonst nichts zu tun hatte, ließ ich mich auf den Boden gleiten und wartete ab. Ich wollte mithören, konnte aber nur vereinzelte Phrasen verstehen: »Aha.« »Sehr merkwürdig.« »Ja, das würde ich mir sehr gerne einmal ansehen, wenn es nicht zu viele Umstände bereitet.«

Seine gedämpfte Stimme schwoll an und ab, bis schließlich die Tür aufging.

»Ach, Renée«, sagte mein Großvater, als er fast über mich stolperte. »Du bist noch hier.«

»Natürlich bin ich noch hier. Worum ging es eben?«

Statt mir die Frage zu beantworten, rollte er seine Hemdsärmel nach unten und schloss sie an den Handgelenken mit Manschettenknöpfen. »Zieh dich an«, sagte er. »Wir machen eine Reise.«

 

Vermont war grün und hügelig. Die halbe Fahrt verbrachte ich im Dämmerschlaf, mit Träumen von Molkereibetrieben, Getreidesilos, Garagenflohmärkten und Gartenschmuck. Der Kofferraum war so vollgestopft mit all den Schaufeln und dem Wächterzubehör meines Großvaters, dass das Auto schwer nach hinten sackte und bei jeder Unebenheit in der Straße lautstark wummerte. Er hatte die Ausrüstung mitgenommen für den Fall, dass wir auf einen Untoten treffen sollten, obwohl es ziemlich unwahrscheinlich schien, dass der Untote, der Miss LaBarge getötet hatte, jetzt noch das Haus ihrer Kindheit heimsuchen sollte. Eigentlich wollte ich verdrängen, was wir vorhatten, aber alles um mich herum erinnerte mich an Miss LaBarge: Beinahe konnte ich sie sehen, wie sie in ihrem übergroßen Pullover an den Fenstern der Wollgeschäfte und Bäckereien stand und an einem Scone knabberte.

Ihr Haus lag an einer idyllischen Straße voller Schlaglöcher. Es war ein verwittertes, in den Hang gegrabenes Holzhäuschen, dessen Dach schon völlig mit Gras überwachsen war. Bis auf ein Auto vor der Einfahrt wirkte es völlig verlassen. Auf der Vorderseite waren zwei Fenster kaputt.

Wir parkten neben dem Haus vor einem kleinen Gemüsegarten. »Nachdem wir der Familie kondoliert haben, werde ich ein paar Minuten brauchen, um das Haus zu untersuchen – nach Hinweisen auf den Untoten, hinter dem sie her war. So verlangt es die Wächterordnung«, erklärte mein Großvater, während wir den steinernen Pfad zum Hauseingang emporstiegen. »Ich möchte, dass du mich begleitest.«

»Wächterordnung?«, fragte ich nach. »Machst du das für jeden Wächter, der getötet wird?«

»Nicht unbedingt ich, aber jemand vom Wächterhochgericht. Früher war ich Mitglied, doch jetzt im Ruhestand übernehme ich nur noch Fälle, die mir besonders am Herzen liegen. Annette LaBarge war eine der engsten Freundinnen deiner Mutter. Das ist das Mindeste, was ich tun kann, um ihr Andenken zu ehren.«

Kletterrosen rankten sich am Haus empor und zerrten am Dachfirst, als wollten sie es niederreißen. Ich schluckte, nickte meinem Großvater zu und versuchte, meinen Rock zu entknittern. Was ich da drinnen sagen oder tun sollte, war mir völlig schleierhaft. »Sei einfach du selbst«, riet mein Großvater, als könnte er Gedanken lesen.

Bevor er den Türklopfer betätigen konnte, ging die Tür auf und ein untersetzter Mann in ausgeleiertem Pulli begrüßte uns. »Sie müssen Brownell sein«, sagte er lächelnd. Obwohl er mindestens vierzig Jahre sein musste, war sein Babygesicht völlig glatt.

Mein Großvater nahm seine Sonnenbrille ab.

»Ich bin Jeffrey«, sagte der Mann und hielt erst meinem Großvater und dann mir seine Hand hin. »Der Pfleger von Annettes Mutter. Sie ist nicht mehr reisefähig, also bin ich an ihrer Stelle gekommen. Bitte, treten Sie ein.« Er führte uns ins Häuschen. Im Wohnzimmer stand ein Sofa in merkwürdigem Winkel zu einigen umgekippten Hockern; ein trister Druck mit Landschaftsmotiv lehnte im Flur, als wäre er von der Wand gefallen, und irgendwer hatte einen Haufen Geschirrscherben in die Küchenecke gefegt.

»Als die Polizei eingetroffen ist, war der vordere Teil des Hauses völlig verwüstet«, erklärte Jeffrey. »Die Fenster zerdeppert, die Möbel überall verstreut … Sie glauben, dass das nach ihrem Tod passiert ist; jemand hat versucht, ihr Zeug zu stehlen. Zum Glück war hier nicht viel zu holen, und wer auch immer das gewesen sein mag, hinten hat er nichts angerührt.«

»Wo stecken denn alle?«, fragte ich, weil mir plötzlich aufging, dass außer uns niemand hier war. »Ihre Familie? Die Freunde?«

Jeffrey faltete die Hände hinter seinem Rücken. »Annette hatte kaum Kontakt mit ihrer Familie. Ich glaube nicht, dass irgendwer von denen in den letzten Jahren mit ihr gesprochen hat. Dieses Haus ist eigentlich die einzige Verbindung zwischen ihnen, weil es ihrer Mutter gehört. Annette war immer im Sommer hier, wenn sie nicht am Gottfried war.«

Neben dem Fuß meines Großvaters lag eine Tonscherbe. Er hob sie auf und warf sie in eine Kehrschaufel, die schon die Überreste einer kaputten Vase enthielt. »Helfen Sie mir auf die Sprünge, wie heißt Annettes Mutter noch?«

»Henriette LaBarge. Sie ist seit zwölf Jahren im Pflegeheim.« Jeffrey griff nach einem Zinnkessel, der auf dem Herd vor sich hin dampfte. Er war völlig verbeult und hatte keinen Deckel mehr. »Möchten Sie einen Tee?«

Wir nickten und er nahm zwei Becher aus dem Küchenschrank und ließ Teebeutel hineinfallen. Als er den Kühlschrank öffnete, um an die Milch zu kommen, ließ ihn der Geruch zurückfahren.

Das passte alles überhaupt nicht zu Miss LaBarge. Wo steckten ihre Bücher? Ihre Fotos, die schönen Stoffe und kleinen Statuen? Ihre Teetassen?

»Seit zwölf Jahren?«, fragte mein Großvater. »Das ist eine ganz schön lange Zeit. Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, ich war überrascht, als ich Ihre Nachricht bekam. Vor allem, weil ich vorher noch nie von Ihnen gehört habe.«

Jeffrey lächelte. »Jetzt, wo Annette tot ist, ist niemand mehr übrig, der sich um das Haus kümmert. Deshalb bin ich hier. Ich habe Sie als Ersten angerufen, weil Annette Ihre Nummer unter ihren Notfallkontakten stehen hatte, wenn auch erst hinter dem Namen von Lydia Winters.«

Mir fiel beinahe der Becher aus der Hand, als er meine Mutter erwähnte. Mein Großvater runzelte die Stirn. »Verstehe.«

»Ich bin erst heute Morgen angekommen und hab noch kaum Zeit gehabt, die vorderen Räume in Ordnung zu bringen. Die Polizei ist durch mit ihrer Untersuchung, Sie können also alles nach Belieben anfassen.«

»Das kommt mir entgegen. Wir werden Sie nicht lange aufhalten.«

Ich folgte meinem Großvater durch den Flur. Immer wieder öffnete er Türen. Ein Esszimmer. Ein Badezimmer. Eine Garderobe voller Mäntel. Die Decken waren niedrig, die Zimmer klein und finster. Trotzdem wirkte dieser Teil des Hauses weitaus einladender als der vordere. Die Wände hingen voller Bilder: Aquarelle, Stickereien und Kinderfotos von Miss LaBarge, auf denen sie durch einen Rasensprenger hüpfte oder mit einer Schippe im Garten spielte. Ich wusste nicht, ob ich lächeln oder in Tränen ausbrechen sollte.

»Bleib bei der Sache, Renée«, mahnte mein Großvater über seine Schulter hinweg.

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ich bleib ja bei der Sache.«

»Ist dir irgendetwas aufgefallen?«, fragte er mich mit leiser Stimme.

»Eigentlich nicht«, murmelte ich und stopfte mir die Hände in die Taschen.

Er drehte sich zu mir um. »Du versuchst es noch nicht einmal.«

»Was soll ich versuchen?«, fragte ich. Ich hatte schon genug damit zu tun, mich hier zusammenzureißen, mir nichts anmerken zu lassen.

»Möchtest du aus ihrem Tod denn gar keine Lehre ziehen?«

»Warum muss man immerzu aus allem eine Lehre ziehen? Warum muss immer eins zum anderen führen? Warum kann ich nicht einfach nur in Ruhe gelassen werden?« Ich wusste, wie kindisch ich klang, aber das war nicht zu ändern.

Mein Großvater warf einen kurzen Blick auf den Flur, fasste mich beim Arm und zog mich beiseite. Kaum hörbar knurrte er: »Wer, glaubst du, ist in dieses Haus eingebrochen? Wer hat Annettes Besitz durchwühlt?« Er sah mich durchdringend an. Als ich nicht reagierte, beantwortete er sich die Frage selbst. »Die Untoten. Möchtest du nicht den Untoten finden, der erst einen Wächter tötet und dann in ihr Heim eindringt? Möchtest du nicht den Untoten begraben, der so etwas getan hat? Wenn wir es nicht tun, könnte jeder von uns der Nächste sein. Du könntest die Nächste sein.«

Ich verdrehte dieAugen. »Warum sollte ich die Nächste –« Mein Großvater schnitt mir das Wort ab. »Renée, mach dir nur weiter vor, du wärst ein ganz gewöhnlicher Teenager. Die Wahrheit bleibt, dass das nicht stimmt. Du bist ein Wächter. Fang endlich an, wie einer zu denken.«

Ich entwand mich seinem Griff.

»Also, was siehst du?«, beharrte er.

Ich verschränkte die Arme und warf einen Blick auf die Einrichtung. Fast war es mir, als befände ich mich auf dem knarrenden Korridor von Haus Horaz, der zu Miss La-Barges Büro führte. »Hier sind mehr von ihren Sachen. Hier hinten fühlt es sich stärker nach ihr an.«

Mein Großvater nickte und ging langsam weiter. »Und warum, glaubst du, ist das so?«

Ich folgte ihm, bis wir das Ende des Flurs erreicht hatten, wo es eine einzige Tür gab. Auf dem Boden lag genau die gleiche Fußmatte wie vor Miss LaBarges Büro am Gottfried. WILLKOMMEN, FREUNDE. Ich stellte mich davor und wünschte mir, sie würde die Tür öffnen, einen Keksteller in der einen Hand und ein Buch in der anderen. Niemand außer Miss LaBarge konnte eine grüßende Fußmatte mitten im Haus haben. Mein Großvater stieg darüber hinweg und drehte den Türknauf. Im Zimmer war es stockdunkel.

FREUNDE. Ich berührte das Wort mit meinem Fuß und betrachtete dann die Wände. In diesem Teil des Hauses war es so finster, weil es keine Fenster gab, und es gab keine Fenster, weil die Hälfte des Hauses in den Berg hineingebaut war.

»Weil wir hier unter der Erde sind«, sagte ich erstaunt, als mir klar wurde, dass manche Leute diesen Bereich des Hauses nicht betreten konnten. Die Untoten. »Sie hat ihre Sachen geschützt. Oder sich selbst.«

»Ganz meine Meinung«, hörte ich meinen Großvater irgendwo im Zimmer, bevor er das Licht anmachte. »Ach du meine Güte.«

Er stand in einem Arbeitszimmer, das in Papieren und Büchern versank. In der Ecke des Zimmers befand sich ein Schreibtisch und darüber hing eine Weltkarte voller Kritzeleien. Neben der Karte klebte eine Sammlung von Zeitungsausschnitten. Im Nu standen mein Großvater und ich davor und schoben die Schreibtischlampe und Stapel zur Seite, um besser sehen zu können.

Ich spürte, wie mein Puls zu rasen begann. Der Eriesee war auf dieser Karte eingekreist, ebenso wie einige andere Binnengewässer. Ich überflog die Zeitungsausschnitte. Alle Artikel waren letztes Jahr erschienen, aber alle zu unterschiedlichen Ereignissen. Einige drehten sich um Todesfälle, andere waren Vermisstenmeldungen oder Berichte über seltsame Beobachtungen. Das Ungeheuer von Loch Ness. Auf dem Wasser treibende menschliche Körper. Zwei rätselhafte Frauenmorde in Utah. Eine Frau, die in Amsterdam von einer Brücke verschwunden war. Dem Zustand des Papiers nach waren die Ausschnitte schon mehrmals umgehängt worden, von einer Stelle auf der Wand zur anderen.

Mein Großvater beugte sich so nahe zur Karte, dass er beinahe mit der Nase daranstieß, aber er schien genauso verblüfft wie ich. »Was hast du vorgehabt, Annette?«, murmelte er.

Genau das fragte ich mich auch.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers führte eine Flügeltür zu einem Schlafzimmer. Während mein Großvater versuchte, sich einen Reim auf die Zeitungsartikel zu machen, schlüpfte ich hinüber.

Ein gemütliches Zimmer war das, mit winzigen weißen Lichterketten, einer schweren Patchworkdecke auf dem Bett und einer Reihe russischer Matroschkas, die auf der Kommode nebeneinander aufgestellt waren. Gerade wollte ich eine in die Hand nehmen, als ich hinter ihnen an der Wand ein Foto lehnen sah. Es zeigte Annette als Jugendliche, wie sie im Schneidersitz neben zwei anderen Mädchen auf einem Webteppich saß. Eine von ihnen war eine schlanke Blondine, die andere ein herausfordernd dreinblickendes Mädchen mit meinem Gesicht. Meine Mutter. Wie Rehe im Scheinwerferlicht starrten die Mädchen großäugig in die Kamera, als hätte der Fotograf sie bei etwas Geheimem ertappt.

Der Ausdruck meiner Mutter ließ mich nicht los, als ich den Rand ihrer zu einem O geschürzten Lippen berührte. Die große Blondine neben ihr sah aus wie eine Ballerina und irgendwie vertraut, unglaublich vertraut. Ich griff nach dem Rahmen, um mir das Bild genauer anzusehen, doch als ich es hochhob, glitt etwas aus der Rückwand zu Boden. Es war ein Brief.

 

1. August 2009

Meine liebe Annette!

 

Wie beruhigend, mal wieder das Neueste aus dem Gottfried zu hören. Mir ist, als wäre ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen. Ich kann mir fast nicht mehr vorstellen, dass diese Welt, von der Du da erzählst, auch mal meine gewesen ist. Ich bin im Moment quer durch Frankreich unterwegs, um das verschwundene Mädchen zu finden.

Die meisten Orte, an denen ich war, haben sich als Sackgassen entpuppt. Aber jetzt glaube ich, endlich etwas entdeckt zu haben, das uns in die richtige Richtung bringt. Ich bin auf meiner letzten Reise nach Europa darauf gestoßen, obwohl ich mich die ganze Zeit verfolgt gefühlt habe. Robert meint, der Jetlag macht mich ganz kirre. Er kann sich nicht vorstellen, dass es irgendwer auf uns abgesehen hat, und das glaube ich jetzt einfach mal. Wir wohnen jetzt schon so lange an der Westküste da liegt allein der Gedanke an andere Wächter bereits tief in der Vergangenheit Trotzdem ruft es einem in Erinnerung, dass man aufpassen muss. Wie auch immer, ich sollte hier nicht zu viel darüber schreiben. Du verstehst.

Es wird langsam schwierig, das alles vor Renée zu verheimlichen; ich hasse es, sie dauernd anlügen zu müssen Ich glaube nicht, dass sie irgendwas ahnt. Aber jedes Mal, wenn ich sie ansehe, muss ich mich zwingen, ihr nicht zu erzählen, wer sie ist und was wir machen. Wenn es endlich keine Gefahr mehr darstellt, werde ich ihr alles sagen.

Hast Du immer noch vor, uns Ende des Monats zu besuchen? Du meintest, Du würdest an Renées sechzehntem Geburtstag ankommen? Ich kann Dir zwar nicht versprechen, dass sie sich noch an Deinen letzten Besuch erinnert, aber es wäre trotzdem eine willkommene Überraschung für sie. Wir könnten Dich abholen und dann in dieses urige Café gehen, wo wir das letzte Mal mit Dir waren. Die haben die besten Sandwiches von Nordkalifornien und es verirrt sich kaum jemand hin. Außerdem liegt es direkt am Redwood-Wald und der ist zu dieser Jahreszeit am schönsten 

 

Bis dahin,

Lydia

 

Lydia. Der Name rann in einem langen, feuchten Streifen das Papier hinab und da merkte ich, dass ich weinte.

Ich setzte mich auf die Kante von Miss LaBarges Bett und versuchte, den Brief noch einmal zu lesen, aber es war die Handschrift meiner Mutter und ich brachte es einfach nicht fertig. Das alles stammte aus ihrer Feder. Fast war es, als wäre sie wieder am Leben und spräche zu mir, doch beharrlich stachen mir Sätze und Wörter ins Auge. Reisen. Die Suche nach einem verschwundenen Mädchen. Kalifornien. Mein Geburtstag. Der Redwood-Wald. Das musste der letzte Brief sein, den sie vor ihrem Tod geschrieben hatte.

Wie kam es, dass ich nicht mitbekommen hatte, was sich da abspielte? Sechzehn Jahre lang hatten wir zusammen im selben Haus gelebt. Wir hatten alle unsere Mahlzeiten gemeinsam gegessen, den gleichen Computer und das gleiche Telefon benutzt. Wie konnte ich nicht bemerkt haben, dass meine Mutter auf der Suche nach etwas durch die Welt reiste? Wie konnte ich das nicht gewusst haben?

»Renée?«, rief mein Großvater von drüben.

»Ich – ich hab was gefunden.«

Er kam regelrecht ins Zimmer hineingesprungen, nahm mir den Brief aus der Hand und las ihn unter Gemurmel.

»Was ist das?«, fragte ich, als handle es sich um eine seltsame Reliquie.

Die Furchen im Gesicht meines Großvaters wurden noch tiefer. »Das weiß ich noch nicht.«

Ich begann, im Zimmer umherzustreifen. Ich hatte geglaubt, meine Eltern hätten einen Untoten gejagt und seien von ihm getötet worden; dass sie im Einsatz gestorben waren. Aber stimmte das auch? Dass ein Untoter meine Eltern unmittelbar nach dem Absenden dieses Briefes getötet hatte, schien mir ein merkwürdiger Zufall. Gerade nachdem sie etwas Wichtiges herausgefunden zu haben schienen. »Ihr Tod war kein gewöhnlicher Wächter-Arbeitsunfall, oder?«, sagte ich mit wackeliger Stimme. »Meine Mutter hat nach einem verschwundenen Mädchen gesucht. Sie hat gemeint, dass jemand hinter ihr her war.«

Mit einer Handbewegung brachte mich mein Großvater zum Schweigen, in Gedanken versunken. Unter Miss LaBarges Bett ragte ein rostiger Griff hervor. Ich angelte mit meinem Fuß danach und stellte fest, dass er von einer Schaufel stammte.

»Ich würde hier nicht allzu viel hineininterpretieren, Renée«, sagte mein Großvater. »Deine Eltern waren im Dienst der Wächter sehr viel unterwegs. Untote suchen, sie überwachen. Wahrscheinlich bezieht sich das hier auf einen entsprechenden Fall, über den sie sich mit Annette LaBarge beraten haben.«

»Aber sie meinte, sie sucht nach einem verschwundenen Mädchen, nicht nach einem untoten Mädchen –«

Mein Großvater ließ mich nicht ausreden. »Wächter drücken sich in ihren Briefwechseln gerne diffus aus, falls ihre Schreiben abgefangen werden. Genau wie Annette ihren Besitz unterirdisch aufbewahrt hat. Eine Vorsichtsmaßnahme.«

»Aber gleich danach sind sie umgebracht geworden. Und jetzt ist Miss LaBarge tot. Was wäre, wenn sie da draußen auf dem Eriesee nach demselben gesucht hat –«

»Was deine Mutter gesucht hat? Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Lydia ist bei der Ausübung ihrer Pflichten von einem Untoten getötet worden. Ein ehrenvoller Tod.«

»Und warum hat Miss LaBarge den Brief hinter einem Foto versteckt –«

Heftig schnitt mir mein Großvater das Wort ab. »Deine Eltern waren Wächter. Alles an ihrem Beruf war geheim, also kommt es mir nicht besonders seltsam vor, dass deine Mutter einen geheimnisvollen Brief geschrieben hat.«

Er musste gemerkt haben, wie ich vor ihm zurückgezuckt war, denn sofort hatte er sich wieder im Griff. »Es tut mir leid«, sagte er.

»Darf ich ihn behalten?«, fragte ich. »Den Brief. Ich hätte so gern etwas Persönliches von ihr.«

Mein Großvater zögerte, faltete dann aber den Brief zusammen. »Natürlich.«

»Danke«, sagte ich leise. Während ich meinem Großvater beim Einsammeln der Zeitungsausschnitte aus Miss La-Barges Arbeitszimmer zusah, fragte ich mich, ob meine Eltern je die Gelegenheit gehabt hatten, von ihrer Entdeckung zu berichten. Und wenn ja, worin hatte sie bestanden? Doch selbst wenn sie noch hatten reden können, war zu befürchten, dass ihr Geheimnis gemeinsam mit meiner Lieblingslehrerin gestorben war.

 

Nach einer langen, schweigsamen Autofahrt kamen wir abends beim Herrenhaus an. Wir stiegen aus und steuerten direkt auf das Esszimmer zu, wo der Koch für uns Würstchen, Butterbrötchen und Gemüsepastete auf dem Tisch bereitgestellt hatte. Normalerweise liebte ich dieses Essen, aber heute wirkte es wie aus Plastik.

Seufzend stopfte sich mein Großvater seine Serviette in den Hemdkragen. Mir war klar, dass er immer noch über meine Mutter und Miss LaBarge nachdachte. Einen Moment lang sah er einfach nur aus wie ein alter Mann – traurig, erschöpft und zerbrechlich. Bei diesem Anblick wurde mir klar, dass ich ihn einweihen musste.

»Ich hatte da einen Traum«, sagte ich, während ich an einem trockenen Brotstückchen herumpickte.

»Einen Traum?«

»Dass ich hinter Miss LaBarge her war, während sie mit einem Boot über einen See gerudert ist.«

Mein Großvater hörte auf zu kauen. »Wie bitte?«

»In der Nacht auf meinen Geburtstag hab ich das geträumt. In der Nacht, in der sie umgekommen ist.«

Er legte sein Besteck ab. »Du willst mir sagen, dass du Annette LaBarges Tod geträumt hast?«

Ich schob mir das Haar hinter die Ohren. »Na ja, nicht im eigentlichen Sinn. Nur die Momente davor. Aber ich war hinter ihr her, als ob ich sie töten wollte.« Mir war gar nicht bewusst, was ich da sagte, doch kaum waren die Worte aus meinem Mund, wusste ich, dass sie die Wahrheit waren. Warum sonst hätte ich Miss LaBarge so verfolgen sollen?

Er schob seinen Teller zur Seite und lehnte sich über den Tisch. »Was verschweigst du mir?«

»Was meinst du?«, fragte ich. »Ich habe dir doch gerade von meinem Traum erzählt …«

»Aber mehr auch nicht. Ich habe mit Dr. Porter gesprochen. Er meinte, dass du bei euren Treffen nicht besonders kooperativ gewesen seist.«

Ich schob das Gemüse auf meinem Teller herum. »Keine Ahnung, worauf du hinauswillst.«

»Der Arzt hat gemeint, dass du noch nicht mal seine Fragen beantwortet hast.«

»Na, weil er dauernd etwas über meine Eltern und meine Freunde wissen wollte und worüber wir uns am Telefon unterhalten. Er hat mich sogar nach meinem Liebesleben gefragt«, sagte ich, stach auf die Wurst ein und versuchte, meine Stimme unter Kontrolle zu halten. »Er ist Arzt. Ich wüsste nicht, was ihn das alles angeht.« Nachdem ich fertig gekaut hatte, legte ich die Gabel zur Seite. »Gibst du mir mal das Salz?«

Als mein Großvater keine Anstalten dazu machte, eilte Dustin aus der Zimmerecke herbei und reichte mir den Streuer. Mein Großvater beäugte mich, während ich mir Salz auf die Gemüsepastete schüttete und dann einen Bissen nahm. Schmeckte immer noch nach nichts. Wieder griff ich nach dem Streuer, doch das schien meinem Großvater nicht zu passen.

»Das reicht wirklich«, sagte er und nahm mir den Streuer weg. »Das Essen ist bereits ausreichend gewürzt. Und du wirst alle Fragen beantworten, die die Ärzte dir stellen. Ich habe sie aus gutem Grund konsultiert.«

Ich starrte auf meinen Teller.

»Das alles ergibt keinen Sinn«, bemerkte mein Großvater und wischte sich die Lippen an der Serviette ab. »Du warst tot. Neun Tage lang warst du tot. Sie haben dich im Park gefunden und dich in den Krankenflügel gebracht, um – entsprechend meiner Weisung – auf deine Auferstehung zu warten. Ich habe dich mit eigenen Augen gesehen.« Er hielt inne und nahm einen Schluck Wasser. »Aber am Tag, an dem du hättest auferstehen sollen, bist du verschwunden. Und dann haben wir dich im Park wiedergefunden, nicht untot, sondern lebendig. Völlig lebendig.« Er betrachtete mich eindringlich. »Wie hast du überlebt?«

Draußen wienerte einer von den Hausangestellten die Scheiben; hinter den Wischbewegungen seines Fensterleders blitzte die Abendsonne herein. Ich hätte meinem Großvater die Lücken in seiner Geschichte füllen können. Ich hätte ihm erzählen können, dass Dante und ich uns dieselbe Seele teilten. Dass ich Dante in jener Nacht mein Leben geschenkt und er es mir zehn Tage später im Mohnblumenfeld zurückgegeben hatte. Doch was wäre dann passiert? Mein Großvater hätte das niemals verstanden. »Ich hab dir schon gesagt, was ich weiß. Ich verstehe es auch nicht besser als du. Was willst du denn sonst noch hören?«

Mein Großvater schüttelte den Kopf. »Unter den Lehrern wird schon gemutmaßt, du hättest eine Art Immunität gegenüber den Untoten entwickelt. Dass du eine neue Art von Wächter bist.«

»Was meinst du damit?« Ich schluckte schwer.

»Sie glauben, dass du unsterblich bist.« Er hielt inne. »Aber das ist Geschwätz. Niemand springt dem Tod auf diese Weise von der Schippe.«

Ich brach unseren Augenkontakt und stocherte in meinem Essen herum. »Also, jetzt bin ich am Leben. Können wir das Ganze nicht einfach vergessen?«

»Vergessen?« Er wirkte beinahe persönlich beleidigt. »Du willst mehr wissen über Annette LaBarges Tod, über den Tod deiner Eltern, aber für deinen eigenen interessierst du dich nicht? Hier geht es um dein Leben, Renée. Möchtest du gar nicht wissen, wieso du damit davongekommen bist?«

»Natürlich will ich das«, murrte ich.

»Du bist nicht du selbst. Du siehst noch nicht mal aus wie du selbst. Und du verheimlichst mir etwas.«

Ich lugte den Flur hinunter Richtung Küche, wo ich die Köche ein- und ausgehen sah und das Geschirr klappern hörte. Obwohl ich mich noch daran erinnern konnte, wie sich das Haus zur Essenzeit immer mit dem Duft vor sich hin köchelnder Gerichte gefüllt hatte, roch ich jetzt nur noch etwas, wenn ich die Nase direkt über den Teller hielt. »Keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich. »Ist doch alles in Ordnung.«

Lebendig war ich durchaus und keineswegs untot, jedenfalls den Ärzten zufolge. Ihre Tests hatten unauffällige Ergebnisse erbracht: das grelle Leuchten der Taschenlampe in meine Augen und Ohren. Der Holzspatel, der meine Zunge hinunterdrückte. Der kalte Schreckensmoment, als das Stethoskop meinen Rücken berührte. Wie ich morgens aufzuwachen pflegte, dafür schienen die Ärzte allerdings keine Messgeräte oder Erklärungen parat zu haben: müde und orientierungslos, mit ausgetrockneten, schlaftrunkenen Augen. Seit letztem Frühling hatte ich kein einziges Mal das Gefühl gehabt, wirklich völlig aufgewacht zu sein.

»Diesen Jungen hast du nicht mehr getroffen, oder?«

Ich verschluckte mich an meinem Wasser. »Welchen Jungen?«

»Du weißt, von welchem Jungen ich rede.«

»Nein, weiß ich nicht.«

»Dante Berlin«, sagte mein Großvater mit Nachdruck. »Hast du dich mit ihm getroffen oder nicht?«

Bei Dantes Namen schnürte es mir die Kehle zusammen. Ich hatte seinen Namen schon so lange nicht mehr aus einem fremden Mund gehört, dass er mir fast wie ein Hirngespinst vorkam, eine Ausgeburt meiner Fantasie. »Nein«, sagte ich und wünschte, ich würde lügen. »Das hab ich nicht.«

Die Miene meines Großvaters versteinerte. »Gut. Wenn er in deine Nähe kommt, dann werde ich ihn begraben.«

Ich sank in meinem Stuhl zusammen. Nein!, wollte ich schreien, aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Nichts konnte ich machen, gar nichts.

Mein Großvater bedeutete Dustin, seinen Teller abzuräumen, und erhob sich von seinem Stuhl. In der Tür blieb er plötzlich stehen. »Am Freitag werden wir Annette LaBarge nach Wächtertradition beisetzen. Ich rechne mit deiner Anwesenheit. Der Tod ist jetzt dein Beruf. Es wird Zeit, dass du das akzeptierst.«

 

Die Küste von Maine war gesäumt von zerklüfteten Klippen und seltsam geduckten, knotigen Bäumen. Als wir freitags nach fünfstündiger Fahrt am Hafen von Friendship ankamen, hatte sich schon eine Menge Menschen in schwarzer Trauerkluft am Ufer versammelt. Hinter ihnen lag ein großes Holzboot vor Anker. Le Prochain Voyage stand an den Bug gepinselt.

Brandon Bell, Eleanors großer Bruder, stand daneben und verteilte Gartenschaufeln an die Gäste, während er ihnen an Bord half. Neben ihm stand seine Mutter, eine elegante Blondine. Ich erkannte sie sofort, aber nicht nur, weil ich sie letzten Winter am Gottfried kennengelernt hatte, als Eleanor verschwunden war. Ich hatte sie gerade erst gesehen. Sie war eine ältere Ausgabe des dritten Mädchens auf dem Foto in Miss LaBarges Häuschen. Cindy Bell. So wie ich sie jetzt vor mir hatte, perfekt geschminkt in makellosem schwarzem Anzug, schien es unvorstellbar, dass die beiden Freundinnen gewesen sein konnten. Aber wenn Cindy hier war, hieß das auch, dass Eleanor aus Europa zurück sein musste.

Brandons Blick blieb kurz an mir hängen, bevor er sich nach einer Schaufel bückte.

»Danke fürs Kommen«, sagte er und reichte sie mir, ohne mich anzusehen. »Die Zeremonie wird vor Wreck Island stattfinden.«

Ich hatte eine etwas herzlichere Begrüßung erwartet; schließlich war ich eine der engsten Freundinnen seiner Schwester.

»Wo steckt Eleanor?«, fragte ich und spähte ihm über die Schulter, auf der Suche nach ihrem blonden Lockenkopf. Ich wollte ihr von meinem Traum berichten, von Miss LaBarges Häuschen und von dem Brief, den meine Mutter geschrieben hatte.

Brandon sah mich verwundert an. »Sie ist nicht hier«, sagte er, als wäre das eine Selbstverständlichkeit.

»Was? Warum nicht?«

»An einer Wächterbeerdigung können nur Wächter teilnehmen.«

»Oh. Klar«, murmelte ich. Eleanor war kein Wächter mehr; sie war jetzt der Feind. »Wie geht es –«, wollte ich gerade fragen, aber Brandon ließ mich nicht ausreden.

»Wäre sehr hilfreich, wenn du jetzt weitergehen würdest«, sagte er und reichte dem Paar hinter mir zwei Schaufeln.

»Ja, okay«, stammelte ich, getroffen von seiner feindseligen Haltung.

Auf Deck drängten sich die Lehrer des Gottfried und eine Handvoll älterer Leute, die ich nicht kannte. Genevieve Tart und ein paar andere Gottfried-Schülerinnen standen in geschniegelten Kleidchen am Weintresen und plauderten. Als sie mich sahen, hielten sie inne und drängten sich aneinander, um besser flüstern zu können. Schwarz befrackte Kellner glitten mit Vorspeisentabletts durch die Menge und das leise Murmeln der Gespräche. »Ohne Partner gearbeitet.« »Purer Leichtsinn.« »Die Untoten.« »Noch nicht mal eine Schaufel hatte sie dabei.«

Keine Schaufel? In meinem Traum hatte ich sie ihr entrissen und in den See geworfen. Konnte das wirklich passiert sein? Ich lauschte weiter, aber es kam immer nur das Gleiche. Es war ungewohnt, das Wort »untot« so aus aller Munde zu hören, doch da die Wächter hier unter sich waren, gab es keinen Grund für Heimlichkeiten. Eleanors Mutter war die Einzige, die nicht in eine Unterhaltung verwickelt war. Ganz allein saß sie neben dem Mast, nippte an einem Drink und blickte zum Horizont hinaus. Ein Kellner bot ihr ein Cocktailhäppchen an, aber sie wedelte ihn fort.

Hinter ihr brach sich die Brandung an der Felsküste und auf einer der Klippen stand plötzlich eine Frau. Sie hatte braunes Haar und trug ein wild flatterndes Kleid, das sich im Wind so um ihren Körper wickelte, dass sie beinahe wie einer der krüppeligen Bäume aussah. Ich duckte mich durch die Spannleinen der Segel, um besser sehen zu können, aber die Leute drängten sich an mir vorbei und versperrten mir den Blick. Als ich wieder die Küste erkennen konnte, war die Frau verschwunden.

»Miss LaBarge?«, flüsterte ich und starrte auf die Stelle, wo ich sie zu sehen gemeint hatte. Die Salzluft zerzauste mir das Haar und ich blinzelte. Unsinn, dachte ich und ließ meinen Blick zum geöffneten Sarg auf der anderen Seite des Boots wandern. Ich war derart verstört durch ihren Tod und durch diesen Brief von meiner Mutter, dass ich schon Erscheinungen hatte.

»Renée«, sagte ein Junge hinter mir und ich drehte mich um. Da stand Brett Steyers, ein Schulfreund vom Gottfried und Eleanors Exfreund, in dunkelblauem Anzug und mit sandblonder Sturmfrisur. »Wo hast du dich den ganzen Sommer über versteckt?«

Ich versuchte, meine Haare zu bändigen, die wild in der Luft herumfuhren. »Bei meinem Großvater«, sagte ich und zwang mich zu einem Lächeln.

»Na klar«, sagte er.

Ich furchte die Stirn. »Was soll das bitte heißen?«

»Nichts«, sagte er und fuhr die Ritzen in den Schiffsplanken mit seinem Schuh nach. »Also, wann hast du das alles rausgefunden?« Sein Blick glitt über die anderen Wächter und mir wurde klar, dass wie beide noch nie miteinander über die Untoten gesprochen hatten.

»Letzten Winter«, sagte ich leise. »Und du?«

»Letzten Frühling.«

»Hast du noch Kontakt zu Eleanor?«, fragte ich.

Brett schob sich die Hände in die Hosentaschen und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Was ist mit dir und …« Den Rest des Satzes überließ er dem Wind. Jeder wusste, dass die Lehrer des Gottfried nach Dante suchten.

Ich richtete meinen Blick auf eine Möwe, die auf Deck gelandet war und sich an einem verschmähten Häppchen gütlich tat. »Nein«, antwortete ich.

»Es heißt, dass er und sein Freund Gideon letztes Frühjahr die Rektorin ermordet haben«, sagte Brett.

Bei der Erinnerung an jene Nacht schüttelte es mich. Dante hatte mich beschützt, während Gideon, ein anderer Untoter, die Seele der Rektorin geraubt hatte. Ihre Beine hatten unter ihm gebebt, bis sie schließlich ganz still dagelegen hatten. Danach war Gideon gestorben; Dante hatte ihn unter die Erde gezogen, was eigentlich für beide das Ende bedeutet hätte. Aber ich hatte Dante geküsst und ihm so meine Seele gegeben. Ich war für ihn gestorben und zehn Tage später hatte er mir meine Seele wiedergegeben. Er war kein Mörder. Ich wollte es in den Wind brüllen, bis jeder die Wahrheit wusste. Aber wie in aller Welt sollte ich das nur erklären, geschweige denn beweisen, dass er keine Gefahr darstellte?

»Es heißt auch, dass Dante auf der Flucht ist, nach Kanada.« Er musterte mein Gesicht, auf der Suche nach einer Antwort.

»Dante würde nie jemanden umbringen«, sagte ich abwehrend. »Und was Kanada angeht, dazu weiß ich einfach nichts.«

Ein paar Schritte hinter ihm standen April und Allison, die Zwillinge aus meinem Gartenbaukurs, zusammen mit ein paar anderen Schülern, die ich kannte. Ich winkte ihnen zu, aber statt zurückzugrüßen, wandten sie sich ab. Ich zog die Stirn kraus.

Brett war meinem Blick gefolgt. »Mach dir über die keine Gedanken«, sagte er und schnappte sich ein Krabbenbrötchen von einem der Tabletts, die vorbeigetragen wurden.

Das Boot verlangsamte die Fahrt und der Kapitän ließ einen Anker zu Wasser. Es schien Minuten zu dauern, bis die Kette endlich abgewickelt und gespannt war. Vom Heck des Bootes dröhnte die Stimme meines Großvaters herüber. »Wenn sich jetzt bitte alle vorn versammeln würden.«

Die Menge bildete einen engen Kreis um Miss LaBarges Sarg. Brett und ich standen in zweiter Reihe.

»Also, ist es wahr?«, fragte mich Brett mit gesenkter Stimme.

»Ist was wahr?«

»Du weißt schon.«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, weiß ich nicht.«

Brett blickte prüfend um sich. »Dass du irgendwie … unsterblich bist?« Er ließ es scherzhaft klingen, als fände er es selbst lächerlich, doch ich wusste, wie ernst die Frage gemeint war.

Mir schoss das Blut ins Gesicht. Jetzt verstand ich, warum Brandon und die Mädchen aus Gartenbau so reserviert gewirkt hatten. Würde es genauso sein, wenn ich an die Schule zurückkehrte? »Ich – ich weiß nicht, was du da redest.«

Ein alter Mann drehte sich mit finsterem Blick zu uns um. Brett lächelte ihn höflich an und beugte sich zu mir herunter. »Die Wächter sagen alle, dass Gideon dir die Seele geraubt hat und du gestorben bist, aber anstatt wiederaufzuerstehen, bist du einfach aufgewacht. Lebendig.«

Ich biss mir auf die Lippe. Ich konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Ich konnte niemandem die Wahrheit sagen, denn sonst würde Dante begraben und ich erst recht zum Gegenstand der Untersuchung werden.

Brett musterte mich erstaunt. »Es ist wahr, das sehe ich doch.«

Bevor ich mir eine angemessen unverbindliche Antwort aus den Fingern saugen konnte, trat mein Großvater ins Zentrum des Kreises und räusperte sich. Über das Boot senkte sich Stille.

»Wächter! Freunde. Danke, dass ihr euch aus diesem traurigen Anlass zusammengefunden habt.« Sein weißes Haar flatterte im Wind. »Annette LaBarge war eine geheimnisvolle Frau. Eine einzelgängerische Frau. Eine Frau mit vielen Facetten.« Er hielt inne und ließ seine Worte in der Luft hängen. »Einige von uns sind hier, weil sie Annette die Philosophielehrerin kannten. Andere kannten Annette die Schülerin, die Wächterin, später die Kollegin. Wieder andere Annette die Helferin, die Freundin.«

Das Boot schwankte. Vorne waren zwei Frauen in Tränen ausgebrochen.

»Annette würde sagen: ›Wir können die Handlungen anderer nicht beeinflussen. Uns bleiben nur unsere eigenen Reaktionen.‹ Ich bitte euch also inständig, aus ihrem Tod zu lernen. Lasst uns reagieren. Lasst uns den Untoten finden, der sie getötet hat, und diese Kreatur zur Ruhe bringen.«

Mein Großvater zog das gefaltete Taschentuch aus seiner Anzugjacke und trocknete sich die Schläfen, bevor er mit seiner Totenrede fortfuhr. Ich blickte auf den offenen Sarg, der so nahe stand, dass ich Miss LaBarges Nasenspitze erkennen konnte. War der Tod denn jemals gerecht? Wäre es leichter zu ertragen gewesen, wenn Miss LaBarge eines natürlichen Todes gestorben wäre? Oder würde es sich immer so anfühlen, als wäre uns ein Leben einfach genommen worden?

Ein Windstoß fegte einen Stapel Papierservietten ins Wasser und besprenkelte die Oberfläche mit weißen Quadraten. Über uns kreischte eine Möwenschar.

Mein Großvater schlug ein Gebetbuch auf und trug einen Absatz auf Französisch vor, während mein Blick auf den Wellen lag, die gegen den Bootsrumpf schwappten, dann zu den Möwen oben auf dem Mast hinaufglitt und schließlich gen Himmel, der über dem Meer so viel weiter wirkte. Wie schön schienen mir all diese Einzelheiten jetzt, wo ich wusste, dass Dante noch auf dieser Welt war, dass er mich liebte.

Mein Großvater schlug das Gebetbuch zu und machte eine Geste in Richtung zweier Männer, die einen Bottich mit Erde unter Deck hervorwuchteten und ihn neben dem Sarg abstellten. Mein Großvater berührte Miss LaBarges Stirn mit seinem Daumen, griff dann nach seiner Schaufel, versenkte sie im Bottich und bestreute die Leiche mit Erde.

Das Boot entlang bildete sich nun eine Schlange und nach und nach tat es ihm jeder nach. Brett stand hinter mir, schrittweise ging es nach vorne, bis ich an der Reihe war.

Ich zögerte, bevor ich an den Sarg trat, in dem Miss LaBarge mit zwei Münzen auf den Augen lag, wie es die Wächtersitte verlangte. Ihr Gesicht wirkte so ausdruckslos und seltsam unmenschlich. Erde und Blütenblätter bedeckten ihren Körper.

»Nur weiter«, sagte Brett und stupste mich leicht an.

Ich senkte meine Schaufel in den Bottich, beugte mich nach vorn und berührte Miss LaBarges Stirn mit zitternder Hand.

Die Kälte ihrer Haut erschreckte mich; ich fuhr zurück und verstreute die Erde übers ganze Deck. Alle Blicke ruhten auf mir und in tödlicher Verlegenheit beugte ich mich hinunter, um die Erdkrumen aufzusammeln.

»Lass gut sein, Renée.« Mein Großvater zog mich am Arm in die Höhe.

Ich trat an die Reling und fühlte mich völlig verloren. Mir gegenüber saß auf einer Bank Eleanors Mutter und schlang sich die Arme um die Knie; ihr blondes Haar flatterte ihr ums Gesicht. Einen winzigen Moment lang trafen sich unsere Blicke, bevor wir beide schnell die Augen abwendeten. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie man mit dem Tod umgeht, trotz meiner Eltern, trotz Dante. Das ist etwas, das einem niemand erzählt. Es wird einfach niemals leichter.

Der Kapitän entriegelte einen Ausstieg in der Reling am Ende des Decks. Mit einiger Anstrengung hievten mein Großvater und drei weitere Männer den Deckel auf Miss LaBarges Sarg, verschlossen ihn fest, hoben die versiegelte Kiste an den Rand des Bootes und ließen sie ins Wasser gleiten. Es spritzte weit weniger auf, als ich erwartet hatte, und ich sah zu, wie der Sarg einen Augenblick auf der Wasseroberfläche zitterte, bevor das Meer ihn verschluckte, sah die winzige Spur kleiner Bläschen hinter der Kiste, als hätte Miss LaBarge zum letzten Mal ausgeatmet.

 

Als wir an jenem Abend ins Herrenhaus zurückkehrten, hüllten mein Großvater und ich uns in Schweigen. Ich versuchte zu schlafen, aber Dantes kribbelnde Gegenwart rüttelte mich immer wieder wach, als wäre er bei mir im Zimmer, als kitzelte sein kalter Atem meine Lippen. Ich strampelte die Decke von mir und trat ans Fenster. In meinem Kopf pochten wilde Gedankenfetzen: Miss LaBarges Nasenspitze im Sarg; Brett, der sein Krabbenbrötchen mampfte; die Brösel auf seinem Kinn, als er mich nach Dante ausquetschte.

Ich presste meine Finger gegen die Fensterscheibe, die jetzt ganz kühl war von der Nachtluft, und stellte mir vor, ich würde Dante berühren. Ich öffnete das Fenster einen Spalt und ließ mir die eisige Luft unter das Nachthemd wehen. Draußen an der Auffahrt wanden und wiegten sich die Bäume und ihre Schatten tanzten über die Steine. Ich schaute hinaus und wartete darauf, dass Dantes Gesicht sich in der Dunkelheit abzeichnete, bis schließlich am Horizont die Sonne aufging.

Die Post kam früh. Die Türglocke weckte mich mit einem Schlag; mein Hals war ganz steif – ich war im Sessel eingeschlafen. Durch das Fenster konnte ich einem schlaksigen Briefträger dabei zusehen, wie er sich auf der Vortreppe die Schultertasche richtete und dabei die Fassade des Anwesens bewunderte. Unten hörte ich Dustin zur Tür schlurfen und ihn begrüßen.

Ich warf mir eine Strickjacke über und lief hinunter. Dustin stand in der Eingangshalle und unterschrieb etwas auf einem Klemmbrett. Dann überreichte ihm der Briefträger ein einziges Kuvert.

»Was ist das?«, fragte ich, als Dustin es in der Hand wendete und die Tür schloss.

Er zuckte erschrocken zusammen. »Ach, Renée.« Schon hatte er sich wieder gefangen. »Wie praktisch. Das hier ist für Sie.«

In der Hoffnung, er sei von Eleanor, griff ich nach dem Brief und wusste sofort, dass ich enttäuscht würde. Der Umschlag war aus elfenbeinfarbenem Büttenpapier. Mein Name war in zierlichen Blockbuchstaben geschrieben. Der Absender: Gottfried-Institut. Ich brach das Siegel auf.

 

Liebe Schüler des Gottfried, liebe Eltern!

 

Tief betrübt geben wir bekannt, dass die Gemeinschaft des Gottfried ein weiteres Mitglied verloren hat.

Annette LaBarge, Absolventin und hochgeachtete Philosophielehrerin unseres Instituts, ist verstorben. Vielen von uns hier war sie eine Freundin, Kollegin und Mentorin, und unser Mitgefühl gilt ihrer Familie und denen, die sie geliebt haben.

Durch diese Tragödie sehen wir uns gezwungen, die jüngsten Ereignisse am Gottfried neu zu bewerten. Nach dem traurigen Verlust unseres Schülers Gideon DuPont und unserer Rektorin Calysta van Laark durch einen Unfall im letzten Frühjahr und nach dem zwei Jahre zurückliegenden beunruhigenden Todesfall von Benjamin Gallow, einem geschätzten Mitglied unserer Schülerschaft, sind wir zur Auffassung gelangt, dass das Gottfried-Institut unseren Schülern kein sicheres und gesundes Lernumfeld mehr bieten kann. Nach sorgfältiger Abwägung haben wir die schwierige Entscheidung getroffen, die Tore des Gottfried zu schließen. Das Institut wird nur einer kleinen Anzahl von Schülern mit besonderen Bedürfnissen zugänglich bleiben.

Hinsichtlich Fragen zur Einschreibung an unserer Schwesterschule, dem Lycée St. Clément, oder zum vertraulichen Austausch über die kürzlich erlittenen Verluste unserer akademischen Familie möchte ich Sie ausdrücklich ermuntern, mit mir oder jedem anderen Mitglied des Gottfried-Lehrkörpers Kontakt aufzunehmen. Unsere Gemeinschaft und jeder Einzelne von uns bleibt weiterhin der Gesundheit und der erfolgreichen Zukunft unserer Zöglinge verpflichtet.

 

Mit herzlichen Grüßen

Professor Edith Lumbar

 

Aus dem Fenster blickte ich dem Postlieferwagen nach, der hinter den Bäumen verschwand. Tief im Innersten hatte ich gewusst, dass das Gottfried würde schließen müssen; ich hatte nur nicht daran geglaubt, dass es wirklich so weit kommen würde. Aber als ich meinen Blick senkte, lag der Brief noch immer in meiner Hand und die Worte waren immer noch dieselben.

Dustin warf mir einen Blick zu, bevor er ein Tablett mit Kaffee und Scones griff. »Es tut mir so leid, Renée.«

»Haben Sie schon vorher davon gewusst?«

Dustins Gesicht wurde lang. »Aber nein. Ich … äh … Warum sprechen Sie nicht einfach mit Ihrem Großvater.« Er enteilte auf den Flur, um dem Hausherrn das Tablett ins Arbeitszimmer zu tragen. Ich folgte ihm auf den Fersen.

Dustin klopfte an. »Herein«, sagte mein Großvater und nahm die Lesebrille ab, als er mich wahrnahm.

»Stimmt das?« Ich reichte ihm den Brief.

Er nahm ihn mir ab und überflog ihn.

»Ja«, sagte er. »Und nein.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wie bitte?«

»Du wirst nicht ans Gottfried zurückkehren«, sagte er und schleuderte den Brief beiseite. »Ich schon.«

Ich muss so verwirrt dreingeschaut haben, dass er weiter ausholte. »Ich werde meine Funktion als Rektor wieder aufnehmen. Das Gottfried wird eine Erziehungsanstalt für die Untoten werden, an der wir sie ungehindert überwachen und bei Bedarf zur Ruhe bringen können, ohne dass etwas an die Öffentlichkeit dringt. Das Institut kehrt zu seinen Wurzeln zurück – wie es unter Dr. Bertrand Gottfried und seinen Krankenschwestern einst begann.«

Mein Stuhl ächzte, als ich mich in ihn zurückfallen ließ. Das also waren die »besonderen Bedürfnisse« aus dem Brief. Aber wo sollte ich hingehen? Und wohin alle anderen? An eine normale Schule konnte ich jetzt nicht zurückkehren, nicht nach all dem, was ich gesehen und getan hatte. Ich dachte an Eleanor, an das Wächterkomitee und an die Kamine und den Wandertag. Sie waren das Einzige gewesen, was mir nach dem Verlust meiner Eltern Halt gegeben hatte. Sie waren mein Leben geworden. Wie sollte ich jetzt ohne das Gottfried weitermachen?

»Du wirst deine Studien am Lycée St. Clément weiterführen, der Schwesterschule des Gottfried, einer Schule nur für Wächter.«

Auf dem Flur schlug die Uhr neunmal. »Eine Schule für Wächter?«, wiederholte ich. Wie sollte ich dort Dante sehen? Wie würde ich ihm mitteilen, was los war, wohin ich ging? Es wäre schon schwer genug geworden, ihn auf dem Gottfried zu treffen, aber dort hätte er wenigstens gewusst, wo er mich finden konnte. Und dort hätten die anderen Untoten von ihm abgelenkt. Wir hätten uns fern vom Schulgelände treffen können; wir hätten schon einen Weg gefunden. Doch an einer Wächterschule, wo keine anderen Untoten Dantes Anwesenheit verschleierten, würden ihn die gesamte Schülerschaft und der komplette Lehrkörper spüren können. Würden lernen und lehren, ihn zu erspüren.

»Viele deiner Schulkameraden werden mit dir nach St. Clément wechseln. Die Leute aus deinem Gartenbaukurs … Es bedeutet keine große Umstellung«, fuhr mein Großvater fort. »Natürlich werden die Untoten am Gottfried verbleiben. Und der Rest, nun ja, wer weiß. Ich denke, sie werden eine normale Schule –«

Ich fiel ihm ins Wort. »Wo ist dieses Lycée St. Clément?«

»Montreal, Kanada. Eigentlich nur über die Grenze. Überhaupt nicht weit.«

»Kanada?« Ich hätte bestürzt sein sollen, doch stattdessen hatte ich nur Bretts Worte im Ohr: Es heißt auch, dass Dante auf der Flucht ist, nach Kanada. Bestand die Möglichkeit, dass Dante in Montreal schon auf mich wartete?

»Du bist aufgewühlt.« Mein Großvater lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Es war nicht meine Entscheidung, das Gottfried auf seine untoten Schüler zu beschränken. Aber wir können die Vorfälle des letzten Jahres unmöglich ignorieren, nicht wenn das Wohlergehen der Schüler auf dem Spiel steht, und das der Lehrer gleichermaßen.«

Ich versuchte, meine Miene gleichmütig zu halten, als ich zu ihm aufblickte. »Gut«, sagte ich vorsichtig, während ich mich an den einzigen Strohhalm klammerte, der mir geblieben war: dass das Schicksal es gut mit mir meinte und Dante sich irgendwo in Kanada aufhielt. »Wann fahre ich?«

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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