Die Prophezeiung

 
 

Die Seele ist nicht teilbar. Eine Seele kann nur einem Körper auf einmal innewohnen.

Das blieb das magere Ergebnis meines tagelangen Durchforstens der engen Bibliotheksmagazine am St. Clément. Die einzige Antwort auf die Frage, wie ich Dante noch retten konnte. Ich klappte das Buch zu und zog einen noch dickeren Wälzer aus dem Regal, der mit Die Kunst des Sterbens betitelt war. Der Klappentext bewarb ihn als Die umfassendste lieferbare Studie zum Tod und zu seinen Nachwirkungen. Ich prüfte den Index, blätterte mich zum Abschnitt über Seelen durch und überflog die Seite, bis ich den gesuchten Eintrag gefunden hatte.

Eine Seele lässt sich nicht aufteilen. Seine Seele aufteilen heißt sich umbringen.

Frustriert schloss ich das Buch und stopfte es wieder ins Regal. Wir würden nie eine Lösung finden. Ich ließ mich zu Boden gleiten und rieb mir über das Gesicht. Die Wahrheit sah doch so aus: Ich suchte ein Gegenmittel für den Tod. War es nicht zum Lachen, was für eine grausame Ironie hier am Werk war? Alle hielten mich für unsterblich, während ich auf dem Boden der Bibliothek hockte und hoffte, die Antwort auf die Unsterblichkeit in einem Buch zu finden. Als ob das so einfach wäre.

Ich spreizte meine Finger auf dem Boden und stellte mir vor, das Holz sei Dantes Rücken. So lange hatte er noch zu leben. Auf der anderen Seite des Raumes hörte ich, wie ein Stuhl über den Fußboden schabte. Jemand suchte sich einen Platz. Ich blickte auf und sah, wie Clementine ihre Bücher auspackte. Sie war allein und hatte mich nicht bemerkt. Leise räumte ich die Bücher zurück und schlich zum Ausgang.

Erst gegen Ende der Woche erwachte ich mit dem üblen Verdacht, dass ich irgendetwas vergessen hatte. Ich setzte mich auf und sah auf die Uhr. Acht Uhr früh. Pünktlich zum Unterricht. Meine Hausaufgaben waren auch erledigt. Pläne hatte ich keine, Freunde auch nicht, dachte ich kläglich, bis auf Anya, die nicht als Freundin durchging. Dante würde ich auch die ganze Woche nicht sehen. Blieb nur noch Dr. Neuhaus … und da fiel der Groschen.

Ich schleuderte die Decke von mir, sprang aus dem Bett und warf mir wahllos irgendwelche Klamotten über, die in meinem Zimmer verstreut herumlagen. Ohne Blick in den Spiegel rannte ich über den Campus.

Das Büro des Rektors befand sich im Hauptgebäude, über dem Torbogen. Meine Füße versanken im dicken Teppich des Flurs und mein Blick streifte die alten Stadtansichten von Montreal, mit denen die Wände dekoriert waren. Der Fluss und die Kanäle waren mit Dutzenden von Booten und Kähnen gesprenkelt.

Zwischen zwei dieser Zeichnungen befand sich eine lackierte Holztür mit einem Namensschild. JOHN LAGUERRE. REKTOR. Ich klopfte an, aber als niemand reagierte, setzte ich mich auf eine Holzbank auf dem Gang.

In diesem Moment erschien Rektor LaGuerre in der Tür. »Renée?«, fragte er und sah mich an.

Ich stand auf. Sein Lächeln entblößte eine beeindruckend weiße Zahnreihe. »Und ich habe schon geglaubt, Sie hätten mich vergessen«, sagte er.

»Rektor LaGuerre, es tut mir so leid«, sagte ich. »Ich weiß, es ist noch früh, aber mir ist eben erst eingefallen, dass ich zu Ihnen kommen sollte, und da dachte ich, ich tu es lieber gleich. Entschuldigen Sie bitte, dass ich nicht eher gekommen bin.«

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er und streckte seine Hand aus. »Ich bin John. Kommen Sie bitte rein.«

Er deutete auf einen grünen Ledersessel. »Setzen Sie sich.« So aus der Nähe wirkte er wie ein Mann der leisen Töne, mit weichem, unauffälligerem Akzent. »Ich habe gehört, dass Sie krank waren?«

»Jetzt geht’s mir wieder gut«, sagte ich und versuchte, meinen Rock glatt zu streichen.

»Bestens«, sagte er und knöpfte sich im Hinsetzen das Jackett auf. »Also, wie gefällt Ihnen St. Clément?«

Ich setzte mich auf meine Hände. »Es ist ganz in Ordnung.«

»Meine Tochter Clementine hat mir erzählt, dass Sie sich schon kennengelernt haben.«

»Oh.« Erstaunlich, dass sie mich erwähnt hatte. »Ja, haben wir wohl.«

Er faltete die Hände, musterte mich genau und lachte dann. »Warum so zaghaft?«

»Sie haben nicht zufällig Katzen, oder?« Ich ließ meinen Blick in seinem Büro umherschweifen. Zugegebenermaßen hatte es keinerlei Ähnlichkeit mit dem von Rektorin van Laark. Es war ein sonniges Erkerzimmer in hellem Holz, mit abgenutzten Dielen. Auf dem Fensterbrett wucherten riesige Zimmerpflanzen, bei denen ich mir fast einen minzeartigen Geruch vorstellen konnte.

Das brachte mir einen belustigten Blick ein. »Nein. Wie kommen Sie darauf?«

»Weil …«, sagte ich und schielte auf seinen Tisch, bis ich einen Schulordner mit dem Katzenwappen entdeckt hatte. »Weil eine Katze das Maskottchen von St. Clément ist.«

Er schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, bin ich ziemlich allergisch. Aber das bleibt unter uns. Wenn die Verwaltung davon Wind kriegt, schmeißen die mich noch raus.« Er zwinkerte mir zu und blätterte sich durch die Akten, bis er ein Blatt Papier gefunden hatte.

»Ich habe neulich übrigens kurz beim Einstufungstest vorbeigeschaut. Abgesehen von Madame Goût und Mr Pollet waren Sie die Einzige, die noch in der Turnhalle war. Ich habe Sie beobachtet. Sie standen in der Mitte der Halle und haben geschrieben.«

Er schob mir den Zettel über den Tisch. Es war die Karte, auf der ich meine Markierungen gemacht und acht der neun Tiere identifiziert hatte.

»Das hier ist unfassbar«, sagte er.

Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. War es das?

»Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich bringe Sie in Verlegenheit. Lassen Sie mich erklären. Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihnen zu Ihrem Ergebnis gratulieren wollte. Doch um ehrlich zu sein – nachdem ich Sie beobachtet und mir Ihre Ergebnisse angeschaut habe, wird Ihnen selbst dieser erste Platz gar nicht gerecht. Ihrer Fähigkeit, den Tod zu orten, ohne sich zu bewegen, ohne auch nur einen einzigen Schritt zu machen.« Er legte seinen Finger auf die Mitte der Karte. »Das ist eine Fähigkeit, nach der viele von uns trachten, die aber kaum einer je erwirbt, auch nicht nach Jahren der Übung. Wie haben Sie das gemacht?«

Wie hatte ich es gemacht? Lag es daran, dass ich ein kleines bisschen untot war, eine bessere Ausgabe meiner selbst? Das war meine Theorie, doch die erklärte noch lange nicht, wie ich es gemacht hatte. Am Gottfried war ich die Beste im Gartenbauunterricht gewesen, aber dort hatte ich nie gespürt, wie sich die Luft zu einem Pfad teilte, geschweige denn den genauen Fundort toter Lebewesen auf einer Karte einzeichnen können, ohne sie wirklich vor mir zu haben. Ich war einfach tumb in eine Richtung marschiert, bis ich dann irgendwann über ein totes Tier stolperte und mich durch Gekreische zum Gespött machte. Jetzt war alles anders. Die toten Tiere waren wie Gegenstände, die ich verloren hatte. Ich musste nur meine Schritte zurückverfolgen, bis mir einfiel, wo ich sie abgelegt hatte. Dabei hatte ich vorher noch nicht einmal gewusst, dass sie sich dort befanden. »Ich – ich –«

Der Rektor musste lachen. »Schauen Sie doch nicht so verschreckt drein. Ich erwarte mir gar keine Antwort. Ich wollte nur das Mädchen kennenlernen, das die Landkarte des Todes zeichnen kann.«

Ich lächelte ihn verlegen an. »Ich hoffe, das war jetzt keine Enttäuschung.«

Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. »Natürlich nicht«, sagte er und stand auf. »Also, vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.«

Ich griff mir meine Tasche und ging zur Tür, aber dann hielt ich inne. »Darf ich Sie mal was fragen?«

»Selbstverständlich.«

»Bei der Prüfung, welches Tier war das am Schluss?«

Rektor LaGuerre legte die Hände übereinander. »Ein Kanarienvogel.«

Meine Verwirrung musste offensichtlich gewesen sein, denn er fragte: »Stimmt was nicht?«

»Ich kapier das nur nicht. Wie konnte ich Erste werden, wenn ich noch nicht mal alle Tiere identifizieren konnte?«

»Weil das unmöglich gewesen wäre«, sagte er. »Von allen Tieren hat der Kanarienvogel die leichteste Seele. Seine Seele ist zerbrechlich, hohl, wie seine Knochen. Er stirbt derart schnell und plötzlich – fast, als wäre er kaum am Leben gewesen. Als wäre er kaum vorhanden in dieser Welt. Noch nie hat ihn ein Wächter richtig bestimmen können. Es ist schon ungeheuer eindrucksvoll, dass Sie ihn überhaupt orten konnten.«

Auf dieses Kompliment wusste ich keine Antwort und senkte den Blick. Eindrucksvoll fühlte ich mich nicht im Mindesten, nur völlig planlos.

Durchs Fenster kam ein Luftstoß und wirbelte die Papiere auf dem Rektorenschreibtisch durcheinander. »Sie sind als Einzige über das fünfte Tier hinausgekommen«, sagte er und musterte mich, als wollte er mein Geheimnis lüften. »Die meisten Schüler haben nur drei geschafft, dann war die Zeit um. Ist Ihre Frage damit beantwortet?«

Ein Kanarienvogel? Ich wiederholte das Wort im Kopf und musste daran denken, wie ich es im Flugzeug völlig grundlos herausgeblökt hatte, einfach so. War es Zufall, dass der Kanarienvogel das letzte Tier bei der Prüfung gewesen war? Nein, dachte ich. Auf keinen Fall.

»Gibt’s noch was?«, bohrte der Rektor nach.

Ich schüttelte den Kopf. »Ja. Ich meine nein«, sagte ich und rang mir ein Lächeln ab. »Danke schön.«

 

Als ich zurück auf mein Zimmer kam, wartete Anya mit genervtem Gesichtsausdruck vor meiner Tür. Am Leib hatte sie ein knallenges Nichts, das eher an einen Nachtclub als an die Kleiderordnung denken ließ. Ihr rotes Haar trug sie heute zu Zöpfen gebunden, mit straßenköterbraunen Haarwurzeln entlang des Scheitels.

»Warum bist du noch nicht fertig?«, fragte sie mit einem Blick auf mein zusammengewürfeltes Outfit.

Ich mühte mich mit dem Schlüssel ab. »Fertig für was?«

»Für einen Blick in deine Zukunft.« Sie zog ihre fransenbehangene Tasche zurecht.

»Heute? Aber ich hab Unterricht.«

»Ja, heute«, gab sie ungläubig zurück. »Und wir haben keinen Unterricht. Heute ist Samstag.«

Ich schaute auf die Uhr. Da war etwas dran.

»Und? Gehen wir?«

Ich hätte schwören können, dass wir nichts verabredet hatten, doch das war jetzt auch egal. Ich hatte ohnehin nichts Besseres zu tun. »Meinetwegen.«

Die Frau, die Anya kannte, lebte im Bezirk Mile End. Anya war dort aufgewachsen. Wir gingen zu Fuß dorthin und wanderten durch die Straßen der Innenstadt, bis wir am Mont Royal vorbeikamen. Der Berg erhob sich bedrohlich über dem Zentrum Montreals und verschluckte mit seinem Schatten die Westseite der Stadt.

Es war ein diesiger Morgen, der Himmel von einem zähen Orange. Während Anya den Weg wies, unterhielten wir uns. Sie war in Russland geboren, lebte aber in Montreal, seit sie zehn war. Ihr Vater hatte eine Drogerie; an den Wochenenden hatte sie ihm früher immer ausgeholfen und die Regale bestückt. So hatte sie auch gelernt, wie man sich schminkt und die Haare färbt: indem sie sich aus den väterlichen Regalen Ware »geborgt« hatte.

Obwohl sie jetzt schon zwei Jahre aufs St. Clément ging, hatte sie dort kaum Freunde. »Ich hab meine eigenen Leute. Russen«, erklärte sie. Aber über die sprach sie, wie ich über alle redete, die ich früher in Kalifornien gekannt hatte: als existierten sie nicht mehr. Sie stammten aus einer anderen Welt, einer Welt, in der es weder Wächter noch Untote gab, und ich konnte ihnen nicht sagen, wer ich war oder was ich tat.

Anya und ich bogen in eine krumm geschwungene Straße ein. Die Häuser hier sahen aus wie Mietskasernen. Die Leute, die an uns vorbeigingen, schienen alle Russisch zu sprechen. »Gegenüber von meinem Friseur ist es«, sagte Anya. »Schau, da.« Sie wies auf ein etwas heruntergekommenes, wasserfleckiges Klinkerhaus. Über dem Eingang hing ein Schild in überdimensionierten kyrillischen Buchstaben. Anya hielt mir die Tür auf und ich trat ein. Ein Gewürzladen. Der Geruch von Nelken, Muskatnuss und Paprika kitzelte mich in der Nase. Anya sprach den Mann hinter dem Tresen auf Russisch an. Er schien sie zu kennen, denn er lächelte und schenkte uns beiden einen Honiglutscher, bevor er uns durch eine Hintertür tiefer ins Gebäude vorließ.

Wir stiegen vier Stockwerke hinauf, bis wir zu einer Wohnungstür kamen, in die ein Auge eingeschnitzt war. »Da wären wir«, sagte Anya und läutete. Niemand reagierte. Anya klingelte noch einmal und versuchte, einen Blick durch den Türspion zu erhaschen.

»Vielleicht ist sie nicht da«, sagte ich und wand mich innerlich, als Anya gleichzeitig klopfte und den Daumen dauerläutend auf dem Klingelknopf liegen ließ.

»Nein, die sind da. Die sind immer da.«

Ein paar Augenblicke später hörten wir schwere Schritte auf dem Flur, dann das Klackern von Türriegeln, die beiseitegeschoben wurden. Als die Tür aufschwang, stand vor uns ein stark behaarter Mann mittleren Alters im Unterhemd und betrachtete uns prüfend. Anya erklärte ihm etwas auf Russisch. Er sah erst mich an, dann wieder sie, und dann schlug er uns die Tür vor der Nase zu.

»Zinyetschka!«, hörte ich ihn drinnen bellen.

»Was hat er gesagt?«, wollte ich wissen.

»Wir müssen hier warten, ob sie uns holen kommt. Wenn Zinya uns akzeptiert, lässt sie uns rein. Wenn nicht, war’s das.«

Während wir warteten, lugte ich aus dem Fensterchen im Treppenhaus. Ein groß gewachsener Junge in meinem Alter spazierte unten auf dem Gehsteig. Unter seinem Hemd bewegten sich breite Schultern, als er auf die Straße trat. »Dante?«, hauchte ich und trat eine Stufe hinab.

»Was siehst du da?«, fragte Anya.

Ich hörte sie kaum; ich sah zu, wie der Junge nach einem Taxi winkte. Beim Einsteigen hob er das Gesicht. Ich drückte mich gegen die Wand. Das war nicht Dante, niemals.

Bevor Anya mich löchern konnte, ging die Wohnungstür auf und im Türrahmen erschien eine Frau. Sie war kräftig gebaut, mit dünnem Haar und mächtiger Brust. »Ja?«, fragte sie mit tiefer Stimme. Ihre Hände waren rot gefleckt. Sie wischte sie an ihrer Schürze ab.

Anya sagte etwas auf Russisch zu ihr. Nachdem sie ausgeredet hatte, musterte mich die Frau von oben bis unten. »Was willst du von mir?«, fragte sie mit schwerem Akzent.

»Ich habe Träume und ich glaube, sie könnten Vorahnungen sein.«

Die Frau kniff die Augen zusammen. »Gib mir deine Hände.«

Nach kurzem Zögern legte ich meine Hände in ihre. Sie drückte ein wenig darauf herum, wie bei einer Massage. Ihre Finger waren feucht und kräftig. Dann ließ sie meine Hände fallen und sagte etwas auf Russisch zu Anya, bevor sie nach drinnen verschwand.

»Sie macht es«, übersetzte Anya und gemeinsam folgten wir ihr in die Wohnung.

Der Eingangsbereich war finster und mit Teppichen ausgelegt; die schmutzigen Fenster zeigten auf einen Notausgang und eine Ziegelmauer hinaus. Es stank nach Fleisch. Durch ein Labyrinth von Zimmerchen ging es durch zum hinteren Teil der Wohnung, vorbei an einem Jungen vor dem Fernseher, einer Nähmaschine und zwei nadelgespickten Schneiderpuppen, bis wir es ins Esszimmer geschafft hatten.

Zinya stützte sich schwer auf einen Stuhlrücken. »Kostet vierzig Dollar. Okay?«

Anya warf ihre Tasche auf den Boden und stieß wild gestikulierend einen Wasserfall russischer Worte aus. Sie prasselten so schnell, dass ich überrascht war, dass Zinya ihnen folgen konnte. Nachdem der Handel abgeschlossen war, wandte sich Zinya endlich mir zu und sagte: »Zwanzig.«

Ich nickte.

Eine Schmeißfliege brummte an den Fenstern herum. Ohne Vorwarnung griff sich Zinya eine Fliegenklatsche und machte kurzen Prozess. »Aber immer nur eine auf einmal«, fuhr sie fort und sah uns herausfordernd an.

»Geh du zuerst«, sagte Anya und musterte angewidert eine Gruppe Porzellanfigürchen. Als ich mich zierte, wiederholte sie: »Geh schon.«

Ich folgte Zinya in die Küche, die einen schmuddeligen Linoleumboden und einen Deckenventilator aufwies. »Wasch deine Hände«, sagte sie und ließ sich an einem runden Tisch nieder.

Neben der Spüle fand ich die Überreste eines Seifenklumpens neben einer Plastikwanne mit Roter Bete, die dort im Wasser einweichte. Ich drehte den Wasserhahn auf. Darüber hing eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von einem stocksteifen alten Ehepaar.

»Ich sag dir drei Dinge«, hörte ich Zinya hinter mir. »Eins über Vergangenheit. Eins über Gegenwart. Eins über Zukunft. Aber nicht mehr. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sie sind immer verbunden.« Sie machte eine energische Handbewegung. »Immer. Hast verstanden?«

Eigentlich hatte ich gar nichts verstanden, aber ich nickte trotzdem. Was blieb mir übrig?

»Jetzt wähl eine Rübe«, sagte sie und wies zur Wanne.

Sie war umschwirrt von Fruchtfliegen. Ich wedelte sie fort, tunkte nach einigem Zögern meine Hand in das lauwarme Wasser und zog eine kleine, unregelmäßige Knolle heraus. Sie war warm, wie eben gekocht. Ich brachte sie zum Tisch, wo eine Packung Backpapier und eine Schüssel standen. Zinya schob mir die Schüssel hin. »Jetzt schäl.«

Völlig perplex starrte ich auf die schmutzige Rübe in meiner Hand. Ich hatte ja noch nicht mal ein Messer. »Ich soll das hier schälen?«

Sie nickte, als wäre das völlig selbstverständlich.

»Klar.« Ich wendete die Rübe in meiner Hand und suchte nach einer guten Stelle, an der ich beginnen konnte.

Es war eine Riesensauerei; der Saft rann mir die Arme hinab, während ich dilettantisch Rübenhaut in großen Fetzen abrupfte und in die Schüssel warf, bis mir schließlich nur eine glitschige Kugel blieb.

»Gut«, sagte Zinya. »Gut.«

Als ich fertig war, legte sie vor mir ein Stück Backpapier auf den Tisch. »Quetsch Rübe über Blatt.«

Ich tat wie geheißen. Dunkelrosa Saft rann mir zwischen den Fingern hindurch und tropfte auf das Papier.

Zinya schob meine Hände beiseite, schnappte sich das Papier, faltete es in der Mitte und drückte es mit ihren Wurstfingern zusammen wie beim Teigkneten.

Dann legte sie es zur Seite und ließ mich die Rote Bete noch über zwei weiteren Bogen Backpapier ausdrücken. Ich sah zu, wie sie beide behandelte, sie immer wieder faltete und mit der Handfläche platt drückte, bis drei kompakte Quadrate vor mir auf dem Tisch lagen.

»Vergangenheit.« Sie faltete das erste Papier auf. Es trug ein verwirbeltes Muster, das an Wellen erinnerte. Sie glättete die Falten und drehte es herum, grunzte, wendete es noch einmal und fuhr dann mit dem Finger am unteren Rand eine Schmierspur nach.

Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her, dann blickte sie auf. Mit einem ganz neuen Ausdruck in ihren Augen nahm sie mich unter die Lupe, als entdeckte sie gerade etwas völlig Unerwartetes an mir. »Vergangenheit ist sehr dunkel.«

Unbeeindruckt lehnte ich mich zurück. Das war so schwammig, dass es praktisch auf jeden zutraf.

Sie folgte mit ihrem Finger einer Form in der Mitte des Flecks. »Da ist Frau in Boot. Du jagst sie.« Zinya sah mich bestätigungsheischend an.

Bei mir läuteten alle Alarmglocken. »Ja.«

»Du nimmst ihr Waffe, wirfst ins Wasser. Kann nicht wehren. Stirbt.«

Ich war dermaßen geplättet, dass ich mich nicht rühren konnte. Auch wenn sie noch so gebrochen klangen: Zinyas Worte hatten mich zurück in die neblige Nacht katapultiert, die in meiner Erinnerung noch so frisch war wie ein echtes Erlebnis. Das kalte, stille Wasser, das mich umgeben hatte; der Dunst, der sich über Miss LaBarge teilte, als sie mir den Spaten über den Schädel zog; das Splittern des Holzgriffs, als ich ihn ihr entwand, ihn fallen ließ, als er in den schwarzen Tiefen des Sees versank. Konnte Zinya recht haben? War Miss LaBarge gestorben, weil sie ihre Waffe nicht mehr gehabt hatte? Hätte ich sie retten können? Ich beugte mich vor und betrachtete die Flecken auf dem Papier, versuchte zu sehen, was sie sah. Aber für mich waren es nur rosa Wirbel.

Zinya stemmte ihre fleischigen Ellbogen auf den Tisch. Als sie aufblickte, waren ihre Augen feucht und irgendwie verständnisvoll. »Wir hören auf, wenn du willst.«

Hilflos schüttelte ich den Kopf. Sie faltete den zweiten Bogen auseinander. »Gegenwart.«

Es zeigte eine Reihe konzentrischer Ovale, unregelmäßig und von der Faltung verschmiert. Sie beäugte sie kritisch. »Deine Träume. Sind nicht Zukunft. Sind jetzt. Gegenwart.«

Eine Fliege summte um die Schüssel auf dem Tisch herum. Zinya scheuchte sie fort, während ich zu verarbeiten versuchte, was sie mir da sagte. In meinen Träumen hatte ich nicht die Zukunft gesehen, sondern die Gegenwart. Aber wieso? Das bedeutete, dass ich Miss LaBarge niemals hätte retten können. Was auch immer ich in meinen Träumen sah, mir blieben die Hände gebunden. Ich konnte sie nicht beeinflussen. Warum hatte ich sie dann?

Zinya faltete das dritte Papier auseinander und strich es auf dem Tisch glatt. »Zukunft.«

Das Muster war durch eine Schlangenlinie in zwei geteilt. Eine Seite war völlig weiß, die andere ein Chaos aus roten Punkten, die wie Blutspritzer und Geschmiere aussahen. Zinyas Gesichtszüge spannten sich an. Eine ganze Weile lang sagte sie nichts.

Schließlich hielt ich es nicht mehr aus. »Was ist los?« Meine Stimme klang panisch. »Was steht da?«

»In deinen Träumen du suchst nach etwas«, sagte sie und fuhr die Linie in der Blattmitte hinab. »Wenn du folgst, endet das mit Tod.« Sie deckte die saubere Hälfte des Backpapiers ab. »Und mit Leben«, setzte sie nach und schob ihre Hand beiseite.

Meine Augen jagten zwischen den beiden Blatthälften hin und her. »Tod und Leben? Beides kann es ja nicht sein. Also was? Wohin führt es mich?«

Sie deutete auf den unteren Rand des Blatts, wo sich die Spur zu beiden Seiten gabelte. »So steht es geschrieben.«

»Was soll ich also machen?« Mein Stuhl schabte mit einem hässlichen Geräusch über den Boden, als ich mich frustriert gegen die Lehne warf. »Soll ich meinen Visionen folgen oder nicht?«

»Nur wenn du wissen willst, wohin sie führen.«

»Was meinen Sie? Wo führen sie denn hin?«

Sie wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und hievte sich in die Senkrechte. »Die Antwort auf deine Seele.«

 

Ich musste beim Aufbruch noch ziemlich durch den Wind gewirkt haben, denn als Anya nach ihrer eigenen Sitzung mit Zinya wieder herauskam, starrte sie mich eine ganze Weile lang nur an, bevor sie mich dann schweigend nach draußen führte. »Was hat sie zu dir gesagt?«, fragte sie schließlich. Der Rückweg zur Schule führte uns gerade eine ziegelgepflasterte Straße mit winzigen Geschäften hinunter.

»Sie hat Dinge gewusst, die keiner wissen kann«, sagte ich und redete mehr mit mir selbst als mit Anya. »Sie hat von Miss LaBarge gewusst.«

»Ich hab dir gesagt, sie kann’s echt.«

»Sie hat von meiner Vision gewusst«, murmelte ich in meinen Bart. »Von der Schaufel.«

Anya sah mich verwirrt an. »Welche Schaufel?«

Ihre Frage drang fast nicht zu mir durch. »Sie sagt, meine Visionen zeigen die Gegenwart. Das heißt, ich sehe gar nicht in die Zukunft.«

»War mir klar. Hab ich’s dir nicht gesagt?«

»Sie hat gemeint, wenn ich ihnen folge, dann finde ich das Leben und den Tod.«

Anya erstarrte. »Du könntest sterben?«, sagte sie so laut, dass sich ein Pärchen vor uns umdrehte.

»Pssst!«, machte ich, obwohl ich mir nicht sicher war, vor welchen Lauschern ich Angst hatte. Weiter unten an der Straße lag ein ruhiges Café. »Los, komm«, sagte ich und schleifte sie hinter mir her.

Drinnen war es warm und angenehm schlecht besucht, bis auf ein paar alte Männer, die sich zum Klang der Kaffeemühle über ihre Zeitungen beugten. Am Tresen bestellte ich eine große Tasse Tee und setzte mich dann an einen Tisch in der hintersten Ecke, während Anya sich einen Teller mit Keksen aussuchte.

»Also könntest du sterben?«, wiederholte Anya, als sie mir gegenübersaß.

»Zinya sagt, ich würde beides finden, das Leben und den Tod. Aber auch, dass die Visionen mich zur Antwort auf meine Seele führen.«

»Was soll das bitte heißen?«

Dante, dachte ich und mein Herz setzte einen Schlag aus, bevor es wieder zu Leben erwachte. Sie musste gemeint haben, dass die Visionen mich zu einer Antwort darauf führen würden, wie Dante und ich zusammen sein konnten. Doch meinte sie, dass es für einen von uns den Tod bedeuten würde und für den anderen das Leben? »Weiß ich nicht. Glaubst du, sie meint das mit Leben und Tod wörtlich? Dass ich sterben und leben würde?«

»Die kommt vom Land. Die meint alles wörtlich.«

Ich fuhr mit dem Finger an meiner Untertasse entlang und dachte über die Visionen nach. Irgendetwas in mir schrie: »Folge ihnen!« Nur eins schien sinnvoll: sehen, wohin sie mich führten. Sonst würde ich es nie erfahren. Aber wenn Dante nun recht hatte? Was, wenn sie gefährlich waren?

»Wer ist Dante?«, fragte Anya und unterbrach meine Grübeleien.

»Was?«

Sie brach einen Keks entzwei und knabberte mit ihrem krümeligen Mund an einem Ende. »Grad hast du gesagt: ›Wenn Dante nun recht hat.‹«

Ich verzog ärgerlich das Gesicht. Mir war nicht klar gewesen, dass ich laut vor mich hin sprach.

Anya leckte sich die Fingerspitzen ab. »Ist das dein Freund?«

»Ich – äh – nein, wir sind nur befreundet. Also platonisch«, sagte ich, voller Sorge, dass mein Großvater oder irgendwer von den Wächtern Wind davon kriegen könnten, dass Dante und ich noch zusammen waren. Sie würden ihn begraben.

»Schicker Name«, sagte sie.

»Was weißt du über das Royal-Victoria-Krankenhaus?«, fragte ich, um das Gespräch zurück auf Zinya zu lenken.

»Dante.« Anya ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Was sagt mir das?«

Ich verschluckte mich an meinem Tee und musste husten. Gerade war mir klar geworden, dass sie den Namen natürlich von all den Gerüchten über das Gottfried und die Ereignisse des letzten Frühlings her kennen musste.

Anya hörte auf zu kauen. »O mein Gott. Mit dem bist du zusammen?«

Ich wischte mir den Mund mit einer Serviette ab. »Ich – äh – nein.«

»Es ist also wahr«, sagte sie ehrfürchtig. »Du triffst dich immer noch mit ihm. Aber wie? Das ist doch dermaßen gefährlich hier.« Als ich nicht reagierte, rückte Anya ihren Stuhl näher heran. »Ist was dran an den Gerüchten? Hat er wirklich den Mord an der Rektorin geplant?«

Weil ich befürchtete, dass sie aus meinem Gesicht alles herauslesen würde, richtete ich meinen Blick auf meinen Keks, den ich in der Hand zermahlen hatte. Bis auf Eleanor ahnte niemand, was letztes Jahr in jener Frühlingsnacht geschehen war. Ich hatte immer gern Geheimnisse gehabt, von der Sorte, die man den besten Freundinnen im Licht der Taschenlampe unter der Bettdecke erzählt. Dabei war es mir immer so vorgekommen, als würde ich einen Teil von mir selbst weitergeben, und danach wären wir dann für immer verbunden. Inzwischen hatte ich erkannt, dass echte Geheimnisse eine einsame Angelegenheit waren. Sie schlugen Wurzeln in einem und nahmen immer mehr Raum ein, bis man sich schließlich fühlte, als bestünde man aus nichts anderem – aus einem kleinen, einsamen Geheimnis im Gefängnis der eigenen Erfahrungen. »Er hat die Rektorin nicht umgebracht, aber mehr kann ich darüber einfach nicht sagen«, erklärte ich. »Ich wünschte, ich könnte es.«

Anya musterte mich, als stünde mir die Wahrheit ins Gesicht geschrieben, und lehnte sich dann zurück. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich verrat’s niemandem.«

»Danke«, sagte ich sanft und sah dem Dampf zu, der aus meiner Tasse aufstieg.

Anya schwieg einen Moment und faltete dann die Hände auf dem Tisch. »Also, was stellen wir jetzt an mit deinen Visionen? Sollen wir uns was ausdenken, wie wir ihnen nachgehen können?«

»Darüber muss ich mir noch ein bisschen den Kopf zerbrechen«, sagte ich. Mir hallte noch immer Dantes Stimme im Kopf, seine Bitte, mich nicht in Gefahr zu bringen. »Was, wenn genau das Gegenteil der Fall ist und die Träume eigentlich eine Warnung sind? Wenn ich sie nur sehe, um zu wissen, wovor ich mich hüten muss?«

Anya verdrehte die Augen, als sie in ihren Mantel schlüpfte. »Du hast von einem Krankenhausbett im Royal Victoria geträumt. Wie genau brauchst du’s noch?«

Da war was dran. Als wir auf die Straße hinaustraten, drehte ich mich zu ihr. »Wart mal. Ich hab noch gar nicht gefragt, was Zinya bei dir gesehen hat.«

Anya zögerte und begann, an den Fransen ihrer Tasche herumzuspielen. »Es bringt Unglück, mit jemand anderem über die eigene Zukunft zu reden.«

»Aber das hat dich auch nicht gestört, als ich dir von mei-«, wollte ich sagen, doch Anya würgte mich ab.

»Vergiss es, Renée. Das bringt nur Unglück.« Sie schob sich eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht. »Vielleicht ändere ich später noch meine Meinung.«

 

Die ganze nächste Woche schafften wir es nicht ins Krankenhaus. Als der Unterricht richtig begonnen hatte, waren Anya und ich zu beschäftigt mit Schularbeiten, um irgendetwas zu planen, und verschoben unseren Ausflug schließlich aufs Wochenende. In der Zwischenzeit wartete ich und ließ jede Nacht mein Fenster offen, aber die Tage verstrichen wie die Nächte ohne ein Zeichen von Dante.

Vor dem Unterricht am Montagmorgen strich ich mit dem Finger um das Mal an meinem Rücken und verbog mich vor dem Spiegel, um genau zu sehen, wie sich nach einer heißen Dusche seine Ränder rosa färbten. Es war gut zu wissen, dass es noch da war, eine Erinnerung daran, dass ein Teil von Dante in mir steckte. Nach dem Anziehen spazierte ich zum dépanneur, einem Minimarkt in der Nähe der Schule, und kaufte mir eine Tageszeitung. Ich sah mir jede Seite genau an, suchte nach Todesfällen, Vermisstenmeldungen, geheimnisvollen Erscheinungen – nach allem, was irgendwie mit Untoten zusammenhängen könnte. Und obwohl mir klar war, dass es wohl kaum in der Zeitung stehen würde, wenn die Wächter Dante aufgespürt und begraben hätten, ging es mir danach besser.

Ein Junge hielt mir die Tür auf, als ich zur Lateinstunde eintraf. »Danke«, murmelte ich und schaute ihn kaum an, während ich mich ganz hinten am Tisch niederließ. Als ich eben die aufgeschlagene Zeitung unter dem Tisch deponiert hatte, um in einem unbeobachteten Augenblick die Todesanzeigen zu studieren, hörte ich hinter mir eine Stimme.

»Irgendwelche Neuigkeiten von draußen?«

Brett zog den Stuhl neben mir hervor und hängte sein Jackett über die Lehne. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, sprach er von Dante.

»Nein.« Ich lächelte ihn traurig an.

»Wir haben uns lange nicht mehr unterhalten«, sagte er und senkte die Stimme. »Wie läuft’s denn so?«

Ich zuckte die Schultern. »Ging schon mal besser.«

»Klar. Ich hab gehört, wie die Mädchen sich beim Abendessen das Maul zerreißen. Aber darauf würde ich überhaupt nichts geben. Die Leute hier haben einfach keine Ahnung, was Sache ist. Die meisten von denen haben ja noch nicht mal einen Untoten zu Gesicht bekommen. Halt dich einfach im Hintergrund und mach deine Arbeit, alles andere erledigt sich schon von selbst.«

»Danke«, sagte ich. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie viel mir seine Worte bedeuteten.

Monsieur Orneaux, unser Lateinlehrer, saß schon am Kopf des Tisches, als hätte er einen Besenstiel verschluckt. Er war ein hagerer Mann mit dunklem, schwermütigem Blick und hohlen Wangen und sein steinerner Gesichtsausdruck schien sich von Stimmungen kaum beeinflussen zu lassen. Zu mögen schien er niemanden, aber für Frauen empfand er offensichtlich besonders heftige Abscheu.

»Latein ist eine Sprache der Strategie, uralter Kriege, heidnischer Götter und Opfergaben, und später die Sprache des Priestertums. Es ist eine Sprache, die seit jeher im Jenseits verankert ist.« Er hatte die Angewohnheit, sich jede Silbe aus dem Mund zu ziehen, als wäre sie dort ungenießbar geworden. »Und wie die Sprache, so die Sprecher. Die Untoten sind ein elendiger Haufen.«

Ich hatte nicht vor, mir das weiter anzuhören, denn im Gegensatz zum letzten Jahr war mein Latein jetzt praktisch perfekt. Plötzlich hatte ich Vokabeln verinnerlicht, die ich nie gelernt hatte, und konnte Verben konjugieren, ohne mein Hirn einzuschalten. Stattdessen widmete ich mich also der Zeitung auf meiner Tasche und überflog einen Artikel über den Tod zweier Touristen in British Columbia.

Der Lehrer unterbrach meine Gedanken. »Was fürchten die Untoten am meisten?«

Als sich in der Klasse Schweigen ausbreitete, kroch ein Schaudern durch meinen Körper. Plötzlich fror ich, der Schweiß brach mir aus, mein Herz wummerte schnell und unregelmäßig. Angst – sie war in mir, überwältigte mich, als wüsste ich, wovon der Lehrer sprach 

»Hey, alles okay mit dir?«, wisperte Brett mir zu. »Du siehst irgendwie blass aus.«

Bevor mir klar war, was ich da tat, platzte ich mit der Antwort heraus. »Die Île des Sœurs.«

Alle Köpfe schnellten in meine Richtung. Verwirrt ließ ich mich tiefer in meinen Stuhl sinken. Was hatte ich da gerade gesagt? Etwas Französisches? Ich konnte ja kaum Französisch und die Wendung, die da aus meinem Mund gekommen war, hatte ich vorher noch nie gehört.

Monsieur Orneaux nagelte mich mit seinem Blick fest. »Was haben Sie gesagt?«

Ich zerrte am Kragen meiner Bluse, der sich auf einmal feucht und viel zu eng anfühlte. »Ich – ich weiß es nicht mehr«, entgegnete ich. Meine Worte waren verschwunden, als hätte ein anderer sie geäußert.

Von der anderen Seite des Raums antwortete Clementine mit hochgezogener Augenbraue, wie um mich herauszufordern. »Sie hat gesagt, die Île des Sœurs.«

Der Lehrer ließ seinen Blick auf mir ruhen. »Das ist korrekt.«

»Was ist das?«, fragte Brett und ließ seinen Blick von mir zum Lehrer wandern. Ich versuchte, mein Gesicht hinter einem Vorhang aus Haaren zu verstecken, damit niemand bemerkte, dass ich keine Ahnung hatte.

»Das ist die Insel direkt vor –«, hob Arielle an, doch Monsieur Orneaux brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Für uns Wächter die Schwesterninsel«, übersetzte Monsieur Orneaux. »Dem Durchschnittskanadier als Nun’s Island bekannt. Eine Montreal vorgelagerte Insel, in der Wächtergeschichte vor allem deshalb von Bedeutung, weil dorthin die Untoten zur Bestrafung überführt wurden.

Es war ein barbarischer Ort. Er wurde ausschließlich von weiblichen Wächtern geleitet, die von einem alten Kloster aus die Fäden in der Hand hielten. Sie taten schreckliche Dinge. Folter, Isolationshaft, Exorzismus. Sie ließen die Untoten mit Blutegeln zur Ader, experimentierten mit medizinischen Instrumenten an ihnen herum im Versuch, sie vom Bösen zu heilen …« Während Monsieur Orneaux all diese Methoden der frühen Wächter zur »Heilung« der Untoten abspulte, verzog er keine Miene.

»Die Insel hat bei den Untoten einen gewissen Ruf, auch wenn das den wenigsten Wächtern bekannt ist.« Sein Blick traf meinen, als wollte er begreifen, wie ich die Antwort hatte wissen können. »Das ist einer der Gründe, weshalb sich selten ein Untoter nach Montreal verirrt. Neben der Tatsache, dass Montreal historisch gesehen eine Wächterstadt ist, selbstverständlich.«

»Davon hab ich schon gehört«, sagte ein Junge mit französischem Akzent. »Das Kloster ist noch da, aber es steht jetzt leer. In der Grundschule gab es so ein Gerücht, dass es da spukt, obwohl ich nie verstanden hab, warum. So eine Geschichte, dass jedes Kind, das dort durch die Pforte geht, für immer verschwindet. Wir haben Mutproben veranstaltet, wer sich da reintraut –«

Monsieur Orneaux ließ ihn nicht ausreden. »Das reicht. Das ist keine Geschichtsstunde hier.«

Gerade wollte er seinen Vortrag über Latein wieder aufnehmen, als Clementine aufzeigte. Monsieur Orneaux ignorierte sie, bis sie schließlich einfach unaufgefordert sprach.

»Warum wurde die Insel nur von Wächterinnen geleitet?«, fragte sie und hob das Ende ihres Bleistifts an ihre Lippen.

Monsieur Orneaux biss die Zähne zusammen. »Der weibliche Wächter ist nicht gerade mein Spezialgebiet. Wenn Sie sich für die Neun Schwestern interessieren, gehen Sie in Ihrer Freizeit in die Bibliothek.«

Clementine setzte sich auf. »Wer sind denn die Neun Schwestern?«

Monsieur Orneaux blinzelte und man sah ihm an, dass er die Worte am liebsten zurückgenommen hätte. »Genug jetzt«, wiederholte er und erhob zum ersten Mal die Stimme. »Latein. Zurück zu Latein.«

Und damit griff er sich seine Unterlagen und fuhr fort mit seinem Vortrag über Wortstämme und Verben und Deklinationen, die Untoten und was uns ihre Art zu sprechen über ihr Verhalten verriet.

 

Den Rest des Nachmittags verbrachte ich damit, in meinen jeweiligen Unterrichtsstunden aus dem Fenster zu starren und darauf zu hoffen, dass ich Dante spüren würde.

»Wenn Sie einen Untoten sichern wollen, muss Ihr erster Schritt der Schutz Ihres eigenen Mundes sein«, erklärte Rektor LaGuerre in »Strategie und Prognose« während seines Vortrags über die Kunst des Begrabens. Auf der Tafel hatte er eine Reihe von Skizzen angefertigt: ein Wächter, der einen Untoten von hinten angriff, ihn zu Boden drückte, dabei seine Arme und Beine festhielt und schließlich seinen Kopf mit Mull umwickelte, um einen Kuss zu verhindern. In meiner Vorstellung trugen sie alle Dantes Kopf und mir lief es kalt den Rücken hinunter. Wie konnten sich alle in diesem Zimmer so etwas einfach ins Heft zeichnen? War ihnen nicht klar, dass wir hier lernten, wie man Menschen umbrachte?

»Renée?«, fragte Rektor LaGuerre. »Wissen Sie, was unter Wächtern die häufigste Todesursache ist?«

Ich drückte den Rücken durch und spürte, wie ich rot anlief. »Ich – äh – nein.«

»Der Versuch, während des Begrabens noch mit dem Untoten zu sprechen«, sagte Clementine und grinste mich selbstgefällig an.

Ich gehöre hier einfach nicht her, dachte ich. Ich gehöre hier nicht her.

Als die Glocke zum letzten Mal klingelte, eilte ich die Treppe hinab und zum Schultor hinaus. Ich hatte noch einen Berg Hausaufgaben zu erledigen, aber das scherte mich nicht. Wohin ich genau wollte, wusste ich nicht, aber das St. Clément war sicher der letzte Ort, wo ich Dante antreffen würde. Wenn ich ihn also sehen wollte, hatte ich irgendwo draußen in der Stadt bessere Chancen.

Ich war erst ein paar Straßen weit gekommen, als ich einen Blick auf einen grauen Peugeot erhaschte; einen von der Art, in dem ich neulich Nacht Miss LaBarge gesehen hatte. Oder jemanden, den ich für Miss LaBarge gehalten hatte.

»Warten Sie«, rief ich, als das Auto vor mir links abbog. Ich schob mich an den Leuten auf dem Gehweg vorbei.

Es passierte, ehe ich zur Seite springen konnte. Ich trat auf die Kreuzung, ohne zu bemerken, dass die Ampel noch rot war. Vom Straßenrand aus brüllte mir eine alte Frau zu, ich solle stehen bleiben. Die Autobremsen quietschten und übertönten ihre Stimme und ich fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um etwas Metallenes auf mich zufliegen zu sehen. Das war’s, dachte ich. Genau wie Zinya es vorhergesagt hat. Ich werde sterben, noch bevor ich mich auch nur von Dante verabschiedet habe.

Ein scharfer Schmerz durchschoss meine rechte Körperhälfte; ein Fahrrad und ein Blumenstrauß wirbelten durch die Luft. Ich hielt die Hände über das Gesicht, stürzte nach vorn und landete auf etwas Weichem.

Einen sehr langen Augenblick später setzte ich mich auf. Zu meiner Überraschung stieß der Boden unter mir ein Stöhnen aus.

Ich lag auf einem Jungen. Einem großen, schlanken Jungen. Ich sah genauer hin. Einem süßen Jungen. Um uns herum lagen zerdrückte gelbe Narzissen verstreut. Er stöhnte noch einmal und ich sprang von ihm herunter.

»Bist du okay?«, fragte er und verzog das Gesicht, als er auf seine vom Asphalt aufgeschürften Handflächen sah. Sein Fahrrad lag ganz in der Nähe. Das Vorderrad drehte sich noch immer.

Ich nickte. Abgesehen von dem riesigen Bluterguss, der sich gerade auf meiner rechten Hüfte bildete, ging es mir gut.

Der Blick des Jungen traf meinen. Er war glatt rasiert, mit olivfarbener Haut und Haaren, die mich an die schöneren Seiten des Herbsts denken ließen. Mit seiner eckigen Brille wirkte er wie ein Student. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte er mit leichtem französischem Akzent.

»Es tut mir so leid.«

»Dass du mir das Leben gerettet hast?« Er lächelte. Er hatte drei kunstvoll platzierte Sommersprossen. Eine unter seinem Auge, eine auf dem Kinn, eine auf dem Hals.

»Ach – ach, nein«, stammelte ich. »Wart mal, was meinst du?«

»Ich hab die rote Ampel da nicht gesehen. Wenn du dich nicht in den Weg gestellt hättest, wäre ich einfach drübergefahren und von dem Auto erwischt worden.«

»Oh.« Ich wurde rot. »Das war ein Unfall.«

Er lachte und half mir auf.

»Du bist warm«, sagte ich, die nur Dantes Kälte gewöhnt war.

Er musterte mich. »Und du bist das Mädchen, das nicht sterben kann.«

»Du bist auf dem St. Clément?«, fragte ich überrascht.

»Ich sitze drei Plätze neben dir in Geschichte. Und wir haben zusammen Strategie und Prognose, und Latein. Ich hab dir heute die Tür aufgehalten?!«

»Oh.« Ich wurde noch röter, denn jetzt erinnerte ich mich an sein Gesicht. Ich kannte ihn sonst nur von der Seite.

Er grinste. »Schon okay. Du bist die Berühmtheit von uns beiden.«

Ich sah weg und wischte mir den Rock ab. »Das ist nur Gerede.«

»Oder vielleicht hat deine Unsterblichkeit auf mich abgefärbt.«

Ich lächelte. »Dann hab ich jetzt wohl was gut bei dir.«

»Was hast du gut?«

»Das weiß ich erst, wenn ich’s will.« Die Worte kamen ganz automatisch aus meinem Mund. Was redete ich da? Flirtete ich etwa mit diesem Jungen?

»Abgemacht.«

»Ich heiße übrigens Renée«, sagte ich.

»Noah Fontaine.«

Er streckte die Hand aus, doch ich zögerte, starrte nur darauf und musste an Dante denken. »Oh, Verzeihung«, sagte er, betrachtete seine Schürfwunden und rieb sich die Hand an seiner Jeans ab.

Ich blickte stur auf meine Füße und zwirbelte an den Knöpfen meiner Bluse herum.

Er bückte sich und las seine Tasche und den kläglichen Rest seines Blumenstraußes auf, der überall um uns herum verteilt lag.

»Tut mir leid mit den Blumen«, sagte ich.

»Oh, schon in Ordnung. Wird ihr wahrscheinlich gar nicht auffallen«, meinte er und hob einen welken Stängel auf.

Und obwohl ich bis vor Sekunden noch nicht einmal gewusst hatte, dass es diesen Jungen überhaupt gab, sank mir das Herz beim Gedanken an das Mädchen, für das er da gerade die Blumen aufsammelte.

Er richtete sich auf. »Glaubst du ans Schicksal?«, fragte er.

»Nein«, antwortete ich sofort und dachte dann noch mal nach. »Na ja, vielleicht.«

»Das hab ich auch grad gedacht«, sagte er. Und mit der Eleganz einer Katze hob er sein Fahrrad auf und strampelte davon, mit einem letzten Grinsen über seine Schulter, bevor die Menge ihn verschluckte.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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