Wanderlust

 
 

Danach ging ich Noah aus dem Weg. Zumindest versuchte ich das. Der November war zu einem farblosen Dezember versteinert, die Stadt grau und leblos. Spürte ich im Unterricht Noahs Blick auf mir, dann zwang ich meinen in die andere Richtung. Hastete er nach der Pausenglocke im Gang hinter mir her, ließ ich ihn abblitzen, indem ich ein Treffen mit einem Lehrer oder irgendein Gruppenprojekt vorschob. Ich wusste, dass ich ihm wehtat. Das verrieten mir seine Augen, die in meinen nach irgendeiner Erklärung suchten. Aber was blieb mir anderes übrig? Clementines Drohung hing wie eine schwarze Wolke über mir und ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie Dante auffliegen ließ. Doch Noah auf Abstand zu halten war schwieriger, als ich gedacht hatte. Das sollte mir in Strategie und Prognose klar werden.

»Renée?«, fragte der Rektor und unterbrach seine Vorführung zu Mumifizierung und der Kunst, einen Körper in Mull einzuwickeln. »Sie sind heute ungewöhnlich still.« Wir standen auf einer frostbedeckten Wiese, ein paar Meilen außerhalb von Montreal.

»Ach, äh, ich fühl mich nur nicht so gut.«

Ich linste kurz hinüber zu Noah, der mich musterte, als wollte er meine Gedanken erraten. Um meine Füße trieb der Schnee. Ich schickte ihm eine stumme Entschuldigung und sah schnell weg.

Nach dem Unterricht setzten Anya und ich uns im Bus nach ganz hinten und hörten einander Französischvokabeln ab, während uns der Rektor zurück zur Schule chauffierte. Auf dem Weg zum Wohnheim rief mir Noah auf einmal über den Hof nach.

Ich stellte mich taub und legte einen Zahn zu.

»Du willst noch nicht mal stehen bleiben?«, fragte Anya.

Ich schüttelte den Kopf und steuerte die Tür an, als er uns einholte und mich am Arm festhielt.

»Ich kapier das nicht. Warum ignorierst du mich?«

Ich ließ die Tür los, trat zurück und hielt auf dem Hof nach Clementine Ausschau. »Du solltest lieber hinter wem anderen herlaufen«, sagte ich leise. Anya stand unbehaglich auf dem Treppenabsatz und gab vor, nicht zu lauschen.

Seine Schultern sackten ein wenig ab.

»Was willst du von mir?«, fragte ich.

»Ich weiß es nicht«, sagte er endlich. »Ich möchte einfach in deiner Nähe sein. Brauchst du’s unbedingt komplizierter?«

Ein paar Mädchen gingen an uns vorbei, gafften und begannen zu tuscheln. Ob sie jetzt gleich Clementine berichten würden, dass Noah mit mir sprach?

»Das Leben ist halt kompliziert. Wenn uns die Leute zusammen sehen, glauben sie Dinge, die gar nicht stimmen.«

»Seit wann scherst du dich drum, was andere Leute denken?« Noah zog seine Mütze ab. Das Haar darunter war feucht und völlig wirr. »Du kennst mich doch. Du weißt, wie es ist. Das ist doch das Einzige, was zählt.«

Der Brunnen neben uns war von einer glänzenden Eisschicht überzogen. Noch vor einem Jahr hätte ich das schön gefunden, aber jetzt löste es gar nichts in mir aus. Die letzten Monate hatte ich nur mit Warten auf Dante zugebracht. Im Unterricht hatte ich kaum zugehört. Und ich hatte es sogar geschafft, mir einen der beiden Menschen am St. Clément vom Leibe zu halten, mit denen ich wirklich gern Zeit verbrachte: Noah.

»Renée?«, fragte er nach. »Bist du okay?«

Ich fing mein Halstuch ab, das mir vor dem Gesicht herumflatterte. »Anya und ich gehen jetzt ins Café, lernen. Willst du mit?«

Sein Gesicht entspannte sich. »Klar.«

Wir spazierten nur ein paar Straßenzüge weiter, dann streifte sich Anya die Stiefel an der Fußmatte ab. Als Noah mir die Tür aufhielt, fegte ein eisiger, beißender Windstoß durch die Häuserschluchten und riss mein Tuch mit.

Ich schnappte ins Leere und musste zusehen, wie das Tuch davonflog und erst vom Wartehäuschen einer Bushaltestelle aufgehalten wurde. Ich lief hinterher und zupfte es von der massiven Glaswand. Mein Spiegelbild äffte mich nach, wie ich mir das Tuch wieder um den Hals wickelte. Aber als ich meine Mütze zurechtzog, bewegte sich das Spiegelbild nicht.

Ich legte meine Hand ans Glas und trat näher, bis meine Nase die eisige Oberfläche streifte. Auf der anderen Seite stand jemand, jemand mit meinem Gesicht, nur in aschfahl. Sein Haar war zu einem Knoten zusammengebunden.

»Dante?«

Erstaunt stolperte ich rückwärts und schoss um die Glaswand herum, ohne ihren Rand loszulassen. Doch als ich auf der anderen Seite stand, war da nur ein großer alter Mann mit faltiger Haut und grauem Pferdeschwanz. Er zwinkerte mir zu, als er mich so starren sah.

»Oh – tut mir – Verzeihung.«

»Renee?«, rief Noahs windverzerrte Stimme von weiter hinten.

Ich hielt mir die Mütze auf dem Kopf fest und rannte zurück zum Café.

Weihnachtliche Lichterketten säumten das Straßenfenster und beim Eintreten begrüßte mich eine lange Glasvitrine voller Kuchen und glasierter Törtchen.

Eigentlich sollten wir für unsere Geschichtsklausur lernen, aber das diente uns nur kurz als Alibi, um möglichst rasch zu Ophelia Cœur und dem letzten Teil des Rätsels überzuschwenken. Dazu vertilgten wir einen Riesenteller ungarischer Kekse und bedeckten unsere Bücher mit einer Schicht aus Bröseln und Puderzucker.

»Nur die Daten passen nicht zu Ophelia Cœur«, sagte ich. »Aber wenn sie nicht die neunte Schwester ist, wer dann?«

Noah rührte seinen Kaffee um. »Keine Ahnung. Es scheint schon viel auf sie hinzudeuten. Das vernarbte Gesicht – deshalb könnte sie einfach niemand erkannt haben, selbst wenn alle nach ihr suchten. Und ihre Wasserforscherei, besonders das mit den Inseln und dem Salzwasser …« Er schüttelte den Kopf.

»Ich weiß.« Ich trommelte nervös auf dem Tisch herum.

Anya fuhr mit dem Finger durch den übrig gebliebenen Zucker auf dem Teller und leckte ihn ab. »Also, ganz so zwangsläufig finde ich das nicht. Das Mädchen auf dem Gruppenbild ist sowieso kaum zu erkennen, da ist das mit dem vernarbten Gesicht auch schon egal. Und wie viele Krankenschwestern gab’s wohl am Royal Victoria? Viele, viele.«

Noah lehnte sich zurück. »Da ist was dran«, sagte er und trank einen Schluck Kaffee.

Anya fuhr fort. »Ich gebe zu, die Verbindung mit dem Eriesee ist komisch, aber das ist auch der einzige Punkt, der wirklich passt. Der Rest muss gar nichts heißen.«

»Und was jetzt?«, fragte ich.

Anya versuchte noch, sich beim Niesen die Hand vors Gesicht zu halten, doch es war zu spät, sodass der ganze Puderzucker über den Tisch stob.

»Wir suchen einfach weiter«, sagte Noah und bot ihr seine Serviette an. »Wir finden den letzten Teil des Rätsels.«

»Aber wie?«

Noah zuckte die Achseln. »Vielleicht wieder durch eine Vision?«

Ich stützte meinen Kopf auf die Handfläche. »Weiß nicht. Die letzte ist jetzt schon Monate her. Vielleicht bin ich damit durch.«

»Oder sie kommt, wenn du es am wenigsten erwartest«, sagte Anya. »So läuft das doch, oder?«

 

Ein paar Tage darauf betrat Dr. Neuhaus unser Psychologieklassenzimmer, ohne ein Wort zu sagen. Er sah nur kurz auf die Uhr über der Tür, schaltete das Licht aus und ging ans Ende des Raums. Dort legte er einen Schalter um. Ein Filmprojektor warf ein helles Lichtquadrat auf die Leinwand vor uns. Ein paar Augenblicke später erschienen dort die Worte:

 

KIND UND TOD

INTERVIEWS VON F. H. NEUHAUS

OKTOBER 1998

 

In der Bildmitte hielt eine Hand ein kleines weißes Schild in die Höhe, auf dem PROBAND 003 stand. Als es hinabsank, blickten wir in ein Klassenzimmer. Alle Tische waren verwaist, bis auf einen ganz vorne, wo ein Junge saß und an einer Sammlung von Gummibändern an seinem Handgelenk herumzupfte.

Irgendwer außerhalb des Bildes hustete. »Wie alt bist du?«, ertönte die Stimme von Dr. Neuhaus hinter der Kamera.

Der Junge schwieg, als hätte er die Frage nicht gehört. Dr. Neuhaus wiederholte sie in etwas schärferem Ton.

»Hab ich vergessen«, sagte der Junge und nestelte an seinem Hemd herum. Hinter ihm hing eine Weltkarte an der Wand.

»Bist du sieben?«, fragte Dr. Neuhaus. Der Junge antwortete nicht. »Bist du sieben Jahre alt?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Viel älter.«

»Warum hast du letzte Woche versucht, wegzulaufen?«, fragte Dr. Neuhaus.

»Hier gefällt’s mir nicht.«

»Hier an der Schule?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Wo gefällt es dir nicht?«

»Ich fühl mich falsch«, sagte der Junge.

»Könntest du bitte in die Kamera schauen, wenn du antwortest?«

Der Junge sah zum ersten Mal auf und starrte auf irgendetwas unmittelbar links von der Linse. In der Klasse erhob sich ein Raunen. Das Gesicht des Jungen war eingefallen und verhärmt, mit schwerem Blick, als wäre er ein viel älterer Mensch, der im Körper eines Kindes feststeckte.

»Was hast du gestern gemacht?«

Der Junge antwortete nicht.

Dr. Neuhaus wiederholte: »Was hast du gemacht?«

»Ich hab jemandem die Seele genommen.« Seine Stimme war kaum zu hören.

»Wem hast du die Seele genommen?«

»Meinem Bruder.«

»Warum hast du das getan?«

Der Junge zögerte und kaute auf seinem Finger herum.

Dr. Neuhaus wiederholte die Frage.

»Weil er mir nicht verraten hat, wo er meinen Laster versteckt hat.«

»Aber warum solltest du ihn deshalb umbringen?«

»Weil ich’s wissen wollte.« Der Junge sagte es, als wäre das doch offensichtlich.

»Warum hast du ihn nicht einfach gefragt?«, fragte Dr. Neuhaus.

»Hab ich doch und er hat’s mir nicht verraten. Also hab ich’s eben selbst rausgefunden.«

Die Kamera hielt noch kurz auf ihn drauf, dann kam ein Schnitt. Die Hand mit dem Schild erschien wieder: PROBAND 005.

Wieder saß ein kleiner Junge im Klassenzimmer. Er war deutlich jünger als der letzte, nicht älter als sechs. Im Schneidersitz saß er auf dem Boden, mit wildem Haarschopf und sommersprossigem Gesicht. Seine Augen hatten begonnen, sich am Rand einzutrüben, genau wie bei Dante.

»Wie alt bist du?«, fragte Dr. Neuhaus.

Der Junge dachte darüber nach, während er am Finger nuckelte. »Zwanzig«, sagte er schließlich in angeberischem Ton.

»Verstehe. Das ist ja ziemlich alt für so einen kleinen Menschen.«

Der Junge reagierte nicht.

»Wie viele Jahre bist du schon an der Schule?«

Der Junge dachte nach. »Zehn.«

»Kannst du mir sagen, weshalb man Leute nicht auf den Mund küssen darf?«

Der Junge sah ihn verwirrt an.

»Ist es böse, jemandem die Seele zu nehmen?«

Der Junge schien die Frage gar nicht zu registrieren. »Ich hab Hunger«, sagte er stattdessen.

»Ich habe nichts zu essen da außer ein paar Butterkeksen. Möchtest du einen?«

Der Junge zögerte. Ohne Vorwarnung sprang er auf die Kamera zu und ging auf Dr. Neuhaus los. Jemand schrie auf. Die Kamera wackelte und fiel dann zu Boden, wo die Linse noch einige Stuhlbeine einfing. Laute Stimmen. Ein Stuhl, der über den Boden schabte, und dann plötzlich ein Krachen.

Zwei bestrumpfte Beinpaare schritten durchs Bild. Und dann hob jemand – vermutlich Dr. Neuhaus – die Kamera auf und richtete sie auf zwei Krankenschwestern, die den wild um sich tretenden Jungen auf einem Stuhl festhielten. Sie fixierten ihn, bis er sich beruhigt hatte, und blieben auch dann noch an seiner Seite, als wieder Ruhe eingekehrt war.

Nach einer langen Weile fragte Dr. Neuhaus: »Warum hast du das getan?«

Der Junge sagte nichts.

»Warum hast du das getan?«

Seine Augen fuhren hektisch nach links.

»Schau mich an«, befahl Dr. Neuhaus scharf.

Doch bevor Dr. Neuhaus eine weitere Frage stellen konnte, schnellte der Junge aus seinem Sitz und warf den Stuhl um, während er auf die Schwester zu seiner Linken losging. Dr. Neuhaus legte die Kamera ab, sprang ins Bild und drückte den Jungen zu Boden.

»Okay, das reicht«, sagte Dr. Neuhaus, von dem man jetzt nur noch die Beine sah. Er warf seine Anzugjacke auf den Boden und beugte sich über den Jungen. »Wir bringen ihn zurück auf sein Zimmer.«

Schnitt, und die Hand hielt ein neues Schild hoch: PROBAND 067. Vor uns saß ein Mädchen. Sie sah gepflegt und folgsam aus. Sie saß ganz vorn auf der Stuhlkante und hielt die Knie zusammengepresst.

Sie starrte aus dem Fenster, auf irgendeinen Punkt in der Ferne. »Ich kann noch immer nicht fassen, dass ich das getan habe.«

»Was hast du getan?«, fragte Dr. Neuhaus.

»Ich hab gemacht, was man von mir wollte.«

»Und das war?«

»Ich hab jemanden umgebracht.«

Eine lange Pause folgte.

»Wen hast du umgebracht?«

»Ich hab einen Buben umgebracht, einen kleinen Buben.«

»Wie hast du das gemacht?«

»Ich bin ihm nach, dann hab ich ihn eingefangen und dann hab ich ihn begraben.« Sie blinzelte.

»Belastet es dich, was du da getan hast?«

»Wächter ist mein Beruf«, sagte sie.

»Aber belastet es dich?«

»Ich hab mein ganzes Leben lang darauf hingelernt, Wächter zu werden. Ich muss das machen.«

»Wo schaust du hin?«, fragte Dr. Neuhaus freundlich.

Sie stierte auf ihre Knie, wo ihre Hände einen festen Knoten bildeten. »Ich schau gar nirgends hin.«

»Würdest du mal in die Kamera gucken?«

»Das möchte ich lieber nicht.«

Und wieder ein Schnitt. Wir sahen noch einige mehr und vom Lichtwechsel zwischen den einzelnen Probanden taten mir die Augen weh. Im Schatten der Dunkelheit bemerkte ich, wie Noahs Augen über mich glitten. Ich traf seinen Blick. Einen winzigen Moment lang hielt er ihn und sah dann weg, während hinter uns der Projektor summte und der Film schließlich zu Ende war. Die Stimme von Dr. Neuhaus dröhnte aus der Dunkelheit, als stünde er noch hinter der Kamera. »Ich habe Ihnen das gezeigt, damit Sie begreifen, was von Ihnen verlangt wird. Sie müssen verstehen, wer Sie sind.

Was können wir aus diesen Interviews lernen?«, fragte er und knipste das Licht wieder an.

»Warum sahen ihre Augen so aus?«, fragte Brett. »Ich hab vorher schon Untote getroffen und bei denen waren sie ganz anders.«

Dr. Neuhaus spulte zurück bis zum zweiten untoten Jungen, hielt den Film an und trat dann zur Leinwand. »Sie meinen das hier?«, fragte er und wies auf die Regenbogenhaut, die gerade mit dem Weißen im Auge zu verschwimmen begann. Genau wie bei Dante. »Wenn die Untoten altern, werden sie hinfällig und verlieren ihre Sinne. Mit anderen Worten: Der Junge hier erblindet.«

»Was?«, murmelte ich, obwohl nur Anya mich hören konnte. Dante wurde blind? Davon hatte er mir nichts erzählt.

Dr. Neuhaus deutete auf das Standbild des untoten Jungen. »Wie Sie sich erinnern werden, war er zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre an der Schule. Aber als ich ihn fragte, ob das Seelennehmen schlecht sei, hatte er immer noch keine Ahnung, wovon ich rede. Darum sind sehr junge Untote so gefährlich. Stirbt ein Kind und steht wieder auf, bevor es die nötige Reife erlangt hat, Gut und Böse zu unterscheiden, dann wird es den Unterschied nie begreifen. Dieser Junge war bei seinem Tod sechs Jahre alt. Geistig wird er immer sechs Jahre alt bleiben, egal wie viele Jahre er noch hat. Diese untoten Kinder sind wild, unbelehrbar und völlig amoralisch. Sie nehmen sich, was sie wollen, ohne Scham, ohne Schuldbewusstsein. Und wie Sie gesehen haben, sie sind flink.«

Das Gespräch wanderte von dem Jungen zur kleinen Wächterin, die gerade ihr erstes Begräbnis hinter sich gebracht hatte. »Sie ist genau wie wir«, hörte ich von allen. Aber mich interessierte sie nicht.

Leise hob ich meine Hand. Durchs Stimmengewirr hindurch rief Dr. Neuhaus mich auf.

»Ja, Renée?«

In der Klasse wurde es still.

»Im ersten Interview hat der untote Junge gesagt, er hätte die Seele seines Bruders genommen, weil er seinen Laster finden wollte«, sagte ich langsam und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Er hat gesagt, sein Bruder wollte es ihm nicht verraten, also hätte er es eben selbst rausgefunden.«

Clementine wollte schon dazwischenfahren, doch Dr. Neuhaus streckte die Hand aus und ließ mich ausreden.

»Was hat er damit gemeint?«, fragte ich.

Dr. Neuhaus faltete die Hände. »Wie wir alle wissen, erhält der Untote einen kleinen, vorübergehenden Lebensschub, wenn er eine menschliche Seele nimmt.«

Alles nickte.

»Es gibt aber darüber hinaus eine umstrittene Auffassung, nach der beim Kuss des Untoten noch mehr ausgetauscht wird als Lebenskraft. Vereinzelte Stimmen in der Wächterforschung meinen, dass beim Absorbieren der menschlichen Seele durch den Untoten auch einige der menschlichen Erinnerungen in den Untoten gelangen. Mit anderen Worten: Der untote Junge in dem Interview hat die Seele seines Bruders genommen, um die Information aufzunehmen, die er brauchte.«

Ich krallte mich in die Armlehne meines Stuhls. Erinnerungen aufnehmen? Das klang entsetzlich vertraut. Neben mir wisperte Anya: »Bist du okay? Du bist so rot im Gesicht.«

Ich atmete durch und dann noch mal, aber meine Brust war wie zugeschnürt. »Alles okay«, sagte ich schnell, doch je länger ich über Erinnerungen und Absorption nachdachte, desto übler wurde mir. Mir brach der Schweiß aus und ich presste die Lippen aufeinander. Es war, als wollte ein Geheimnis aus mir ausbrechen. Meine Kehle fühlte sich völlig trocken an, wie mit Mull ausgestopft. Ich schluckte.

»Dieses Phänomen nennt man –«

»Wanderlust«, platzte irgendwer heraus und beendete Dr. Neuhaus’ Satz.

Ich blickte um mich, um den Sprecher ausfindig zu machen, da wurde mir klar, dass ich es selbst gewesen sein musste.

»Ja«, sagte der Doktor und musterte mich überrascht. »Würden Sie bitte der Klasse erklären, worum es sich dabei handelt?«

Eine Welle der Übelkeit überrollte mich und ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Erklärung dafür, das Wort war aus dem Nichts gekommen.

»Ganz wörtlich genommen ist das der deutsche Begriff für die Freude am Reisen. Für uns Wächter jedoch bezeichnet es den Drang der Seele, von einem Körper in den anderen zu wandern. Und das tut sie, wann immer man ihr Gelegenheit dazu bietet. Es gibt zwei Arten von Wanderlust. Was Sie im ersten Interview gesehen haben, war die weitaus häufigste Variante. Dabei werden triviale, unzusammenhängende Informationsfetzen transferiert.« Er reckte einen Finger empor. »Das funktioniert allerdings meist nicht wirklich richtig, denn die Informationsübertragung ist völlig willkürlich. Der untote Junge aus dem Interview hat seinen Laster nie gefunden. Er hat es mal versucht und jetzt ist dieses Stückchen Information für immer verloren.«

»Was –«, fragte ich mit brechender Stimme. »Was ist die andere Art von – von –«

»Wanderlust?«

Ich nickte kläglich.

Über sein Gesicht huschte so etwas wie freudige Erregung. »Ich zeige es Ihnen.«

Er spulte vor und auf der Leinwand erschien eine Hand mit dem Schild PROBAND 043.

Im gleichen Klassenzimmer saß nun ein Mädchen in einem ausgeleierten Pulli und umklammerte ihre Knie. Nach einer Weile hob sie den Kopf zur Kamera. Bei ihrem Anblick begannen meine Mitschüler, unruhig auf den Stühlen herumzuruckeln. Sie schien in unserem Alter zu sein, obwohl ihr glanzloses, sprödes Haar wie Stroh aussah. Die Iris ihrer Augen war wie von Wolken umgeben; ihre Pupillen wirkten grau, ihr Blick ziellos, als starrte sie ins Nirgendwo.

»Wie alt bist du?«, fragte Dr. Neuhaus’ Stimme.

»Siebzehn«, sagte sie und nagte an ihren Fingernägeln.

»Und seit wann bist du tot?«

Sie bewegte ihre Finger und zählte, begann dann aber von Neuem, als habe sie den Faden verloren. »Neunzehn Jahre.«

»Und wie fühlst du dich?«

»Ausgedörrt. Stumpf. Leer.«

»Und wie hast du dich gefühlt, nachdem du deinen Arzt umgebracht hast?« Er sagte es freundlich, doch die Frage schien sie aufzuwühlen. Sie wand sich auf ihrem Stuhl, blickte von der Kamera zu Dr. Neuhaus und dann zu Boden.

»Ich wollte ihn nicht umbringen. Ich wollte nur mit ihm reden. Wir waren gute Freunde. Er war der Einzige, der mich verstanden hat. Ich konnte einfach nicht aufhören …«

»Warum hast du ihm Mull in den Mund gestopft?«, fragte Dr. Neuhaus sanft.

»Der lag schon da«, sagte sie. »Der war in seinem Büro. Ich hab ihn nicht selber mitgebracht.«

»Das weiß ich«, sagte er. »Aber warum hast du ihm den in den Mund gestopft?«

Das Mädchen rang die Hände. »Weil ich ihn nicht umbringen wollte. Ich wollte ihm einfach nahe sein. Ich hab so was gehört, dass man mit dem Mull verhindern kann, dass die Seele komplett übertragen wird. Wenn man es richtig anstellt. Aber das hab ich nicht.«

»Wer hat dir das erzählt?«, fragte Dr. Neuhaus mit deutlich festerer Stimme.

»Die Leute sagen, dass die Brüder das machen, um aus den Leuten Informationen rauszubekommen.«

Langes Schweigen.

»Hast du versucht, aus dem Doktor Informationen rauszubekommen?«

»Nein«, sagte sie ausdruckslos.

Dr. Neuhaus wartete ab und schließlich verbesserte sich das Mädchen. »Ich wollte nur wissen, ob er für mich das Gleiche empfindet wie ich für ihn. Mehr nicht.«

»Und was ist dann passiert?«

»Ich hab ihn geküsst und er – er ist zusammengeklappt und dann hab ich kapiert, was ich getan habe. Aber dann hab ich mich … innen drin voll gefühlt.«

»Kannst du das genauer erklären?«

»Es hat sich angefühlt, als hätte ich ihn in mir drin. Ich hab mich an Dinge aus seiner Vergangenheit erinnern können. Wie er’s in der Grundschule mal nicht mehr auf die Toilette geschafft hat oder an seinen ersten Kuss. Als er sich das erste Mal verliebt hat. Und wie wütend und traurig er war, als sein Vater gestorben ist.«

»Konntest du dich auch an andere Sachen erinnern? Zum Beispiel, was er am Abend zuvor gegessen hat?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf und sah aus, als würde sie in Tränen ausbrechen, wenn sie nur gekonnt hätte.

Dr. Neuhaus legte den Schalter wieder um und das Licht auf der Leinwand erlosch.

»Übertragung detaillierter Erinnerungen«, sagte er und schaltete das Deckenlicht ein. »Nachdem sie die Seele ihres Arztes genommen hat, hat sie seine stark emotional besetzten Erinnerungen in sich aufgenommen – Scham, Angst, Liebe, Glück … Das ist eine seltenere Erscheinungsform der Wanderlust; eine, die eher bei Untoten im Teenageralter auftritt als bei jüngeren Kindern.«

»Und der Mull?«, fragte Anya neben mir. Sie dachte an die Neun Schwestern, doch in meinem Kopf war nur Raum für meine Eltern und Miss LaBarge.

»Ich sage Ihnen, was ich glaube«, antwortete er zögerlich, »und ich bitte Sie dabei dringend zu beachten, dass es dafür bisher keine wissenschaftlichen Belege gibt. Das Ausstopfen des Mundes eines Opfers mit Mull vor dem Seelenraub kann eine Methode der Untoten sein, Informationen oder Erinnerungen aus ihren Opfern herauszuziehen, ohne sie sofort zu töten. Oder, mit anderen Worten: Wenn man es richtig anstellt, kann das Füllen des Mundes mit Mull verhindern, dass mit nur einem Kuss die ganze Seele genommen wird.«

Mein Atem war ganz flach geworden, als ich Dr. Neuhaus’ Worte zu verarbeiten versuchte. War das der Grund, weshalb die Neun Schwestern mit Mull im Mund gestorben waren? Warum meine Eltern und Miss LaBarge auf die gleiche Weise gestorben waren – weil die Untoten Informationen aus ihnen hatten herausholen wollen?

Dr. Neuhaus fuhr fort mit einem Vortrag über den Umgang der Untoten mit dem Tod, aber ich hörte nicht mehr zu. Woher hatte ich das Wort Wanderlust gekannt? Und wie irgendeine andere der Antworten, die ich das ganze Semester über im Unterricht herausgeblökt hatte? Zum Pausenklingeln hing ich immer noch tief in meinen Gedanken fest.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Noah mich anstarrte, während Clementine auf ihn einflüsterte. Ich warf meine Bücher in die Tasche, warf ihm einen kurzen Blick zu und ging.

Ich rannte über den Hof zurück auf mein Zimmer und schmiss die Tür hinter mir zu.

Das ganze Semester lang hatte ich mich gefragt, woher die Informationen in meinem Kopf kamen. Woher die Visionen stammten. Konnte es einfach Wanderlust sein?

Ich tigerte auf dem Teppich auf und ab und dachte daran, was Dr. Neuhaus im Unterricht erklärt hatte: Nimmt ein Untoter die Seele eines Menschen, dann gibt es zwei mögliche Formen der Übertragung – Informationsbrocken und ausführliche Erinnerungen. Ich hatte anscheinend von beidem etwas abgekriegt.

Hatte ich nicht letztes Frühjahr mit Dante die Seele ausgetauscht?

Hatte ich bei unserem Kuss nicht wieder die Erinnerungen an unsere erste Berührung im Schullabor durchlebt oder an unsere Nacht im Lateinklassenzimmer oder an unser Treffen im Garten, kurz bevor wir zum letzten Mal ins Büro von Rektorin van Laark zitiert worden waren?

Und hatte ich nicht auch Ereignisse durchlebt, die gar nicht meine gewesen waren? Wie seine Schwester die Lungenentzündung bekam. Seine Familie im Flugzeug. Der Absturz über dem Meer. Dante, der ertrank.

Die Wahrheit wickelte mich ein wie ein eisiger Windstoß. In Schockstarre lehnte ich mich gegen den Bettpfosten. Als wir letztes Frühjahr die Seele getauscht hatten, hatte ich einige von Dantes Erinnerungen absorbiert. Ich hatte Dantes Vergangenheit wieder durchlebt und Fetzen seines Wissens in mir aufgenommen, ohne es zu merken. Deshalb war mir Wanderlust ein Begriff gewesen, deshalb hatte ich die Île des Sœurs gekannt und den Kanarienvogel beim Kreuzworträtsel erraten. Weil Dante all diese Dinge wusste.

Keine Ahnung, wie lange ich dastand und all das in meinem Kopf hin und her wälzte. Wenn ich Dantes Erinnerungen absorbiert hatte, hieß das, dass auch meine Visionen von ihm stammten?

Dr. Neuhaus hatte gemeint, dass es bei Wanderlust darum ging, Erinnerungen aufzunehmen, doch meine Visionen waren nicht Dantes Erinnerungen. Ich hatte sie lange Zeit nach unserem Kuss gesehen und es schien, als würden sie sich jetzt abspielen, nicht in der Vergangenheit. Aber wir waren eben auch Seelenpartner, bei uns lief alles anders.

»Meine Schwe-«, hatte ich zur Krankenschwester in der Royal-Victoria-Vision gesagt, bevor ich mich zu »Bruder« korrigiert hatte. Dante hatte eine Schwester gehabt. Und der Friedhof. Dante war direkt nach meiner Vision da gewesen; er hatte genau gewusst, wo die Wächter begraben lagen, und er hatte den Grabstein gesehen, bevor ich darüber gestürzt war.

Ich dachte zurück an die Nacht vor meinem Geburtstag, als ich die erste Vision gehabt hatte. Hatte Dante Miss LaBarge durch die Fluten des Eriesees gejagt? »Sie?«, hatte sie gesagt. Konnte sie Dante gemeint haben? In der Vision hatte ich lange Haare gehabt. Das traf auch auf Dante zu. War es möglich, dass er ihr die Schaufel abgenommen und sie getötet hatte?

Jetzt konnte ich mich nicht länger beherrschen und begann zu zittern. Nein. Vielleicht hatte ich ihn in meinen Visionen gesehen, aber jemanden umbringen, dazu war er nicht fähig. Ich musste einfach daran glauben, dass er niemals jemanden verletzen würde. Er hatte es mir selbst gesagt, und dass er mir nie … Nun, jetzt hatte er mir wehgetan. Und Miss LaBarge war tot. Wie wollte er mir das erklären?

Draußen ging der Tag in die Nacht über und durch das geöffnete Fenster kamen winzige Schneeflocken mit einer kühlen Brise ins Zimmer geweht. Ich machte es noch weiter auf und wollte mir das Gesicht waschen gehen. Aber als ich am Türknauf der Badtür drehte, war sie wieder verriegelt.

»Hau ab«, brüllte Clementine von drinnen, doch diesmal klang ihre Stimme anders. Ohne Mädchengekicher im Hintergrund, ohne Getuschel.

Sie schnäuzte sich. Leise drückte ich mein Ohr gegen die Tür. Sie weinte leise.

»Ich kann dich hören«, schrie sie plötzlich. »Verzieh dich!«

Erschrocken fuhr ich zurück. Und ohne nachzudenken schlüpfte ich in meinen Mantel, wollte einfach nur weg. Egal wohin.

Als ich die Zimmertür öffnete, stand Noah direkt vor mir, einen Arm wie zum Anklopfen gereckt.

»Noah«, schrak ich hoch. »Was machst du hier?«

Sein Gesicht war rot und angespannt und er wirkte komplett durcheinander. Aber als er mich sah, wurde sein Ausdruck weicher. »Ich wollte gerade zu dir.«

Verwirrt kratzte ich mich am Kopf. Im Hintergrund hörte ich, wie Clementine im Bad das Wasser aufdrehte.

»Was ist los mit dir? Bist du auf dem Sprung?« Beim Anblick meines Mantels und Schals bekam seine Stimme einen panischen Unterton.

»Ich – bin okay«, sagte ich. Eine bessere Antwort brachte mein benebeltes Hirn jetzt nicht zustande. »Ich geh nur kurz spazieren.«

»Kann ich mit?«

Ich warf einen Blick auf Clementines Tür. Das fehlte mir noch, dass Clementine mich hier beim Plausch mit Noah ertappte. »Okay.«

»Okay.«

Wir gingen schweigend, beide in Gedanken versunken, und die Ampel vor uns sprang lautlos um. Als wir am Straßenrand auf eine Gelegenheit zum Überqueren warteten, drehte sich Noah zu mir. »Ich hab mit Clementine Schluss gemacht.«

Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen. »Das tut mir so leid«, sagte ich aus reiner Hilflosigkeit.

»Danke.«

Mehr kam nicht von ihm und ich fragte nicht nach.

Nachts war die Stadt ganz anders. Ziellos wanderten wir durch die Straßen, vorbei an Sexshops, Headshops, Tattoostudios und Peepshows. Die schmutzverschmierten Fenster der Lokale waren teilweise eingeschlagen; andere leuchteten neonhell.

Als wir an einem 24-Stunden-Café vorbeikamen, blieb ich stehen. Durch die Scheibe sah ich jemanden in einer hellbraunen Anzugjacke, die mir sehr bekannt vorkam.

»Da ist Dr. Neuhaus«, sagte ich.

Unser Psychologielehrer saß einsam an einem Tisch und starrte gedankenverloren auf einen vollen Teller.

Es war ein verrauchtes französisches Bistro, das billigen Wein ausschenkte. Im Fernseher lief ein Hockeyspiel. Es war ziemlich leer, bis auf zwei ältere Männer mit Zigarren und ein paar Collegeschüler, die sich an die Kellnerin ranmachten.

»Warum ist der so spät noch allein unterwegs?«, murmelte ich und beobachtete, wie er in seinem Essen rumstocherte.

»Weißt du über ihn Bescheid?«, fragte Noah hinter mir.

»Über was?«

»Der war einer der besten Wächter in seiner Klasse. Mein Vater hat gemeint, er sei absolut furchtlos gewesen, hat sich immer als Erster freiwillig gemeldet und ist als Erster der Spur eines Untoten gefolgt. Ganz früher waren sie mal befreundet.

Irgendwann hat er dann geheiratet und einen Sohn gekriegt. Anscheinend war ich mit dem Kind auch befreundet, als wir klein waren, aber ich erinnere mich überhaupt nicht mehr daran.«

»Habt ihr gar keinen Kontakt mehr?«

Noah schüttelte den Kopf. »Er ist mit zehn gestorben. Im Vorgarten vom Baum gestürzt.«

Meine Hand fuhr zum Mund.

»Aus lauter Trauer hat Dr. Neuhaus sich entschlossen, abzuwarten, bis sein Sohn wiederaufersteht, statt ihn zu begraben. Das war der Anfang vom Ende der Freundschaft zwischen ihm und meinem Vater.«

»Was soll das heißen?«

»Dr. Neuhaus hat beschlossen, ihn zu Hause zu unterrichten. Angeblich wollte seine Frau den Jungen begraben, aber Dr. Neuhaus hat es nicht über sich gebracht. Das hat dann wohl auch die Familie zerstört – nicht der Tod an sich, sondern Dr. Neuhaus’ Unfähigkeit, damit umzugehen.«

»Wie, hat die Familie zerstört?«

Im Restaurant wurde Dr. Neuhaus gerade von einer mageren Kellnerin angesprochen, doch er schien zu weggetreten, um sie zu hören. Erst als sie ihn am Arm berührte, drehte er sich um.

»Seine Frau hat sich scheiden lassen und ihm die Pflege für den untoten Sohn überlassen.« Noah zuckte die Schultern. »Wohin das führt, weißt du. Fehler über Fehler und schließlich musste er ihn doch begraben. Seinen eigenen Sohn. Kann man sich das vorstellen?«

Durch mein Spiegelbild im Fenster starrte ich auf Dr. Neuhaus. »Wann ist das passiert?«, fragte ich mit wackliger Stimme.

»Vor zehn Jahren etwa, vielleicht mehr. Danach ist er Psychologe geworden.«

»Ich muss hier weg.« Ich riss mich vom Fenster los. »Ich will hier nicht mehr sein.« Obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich damit hier vor dem Café meinte oder hier in Montreal oder hier ganz im Allgemeinen. Das alles war einfach zu kompliziert.

»Ich auch nicht«, sagte Noah und sein Atem löste sich in der Nacht auf. Ich folgte seinem Blick, dorthin, wo über den Vordächern die Leuchtschilder eines Kinos hinausragten. »Hey – wollen wir uns einen Film ansehen?«

Das Einzige, was nach Mitternacht noch lief, war ein Schwarz-Weiß-Film über einen Mann, der den Mord an seiner Frau plante. Mich schauderte, als ich die trüben Farben des Filmposters betrachtete. Wollten die sich über mich lustig machen? Aber bevor ich mich versah, wartete ich schon auf Noah, der zwei Eintrittskarten, eine Tüte Popcorn und zwei große Cola erstand. Wir waren die einzigen Zuschauer und setzten uns genau in die Mitte.

»Ein Klassiker«, sagte Noah. »Wirst du lieben.«

Erst als es losging, wurde mir klar, dass alles auf Französisch war, ohne Untertitel.

»Die reden so schnell, ich krieg kaum was mit«, flüsterte ich Noah zu, als er mir das Popcorn reichte.

Nach einem Moment der Verwirrung begriff er. »Oh nein«, sagte er. »Hab ich total vergessen.«

Er räusperte sich, lehnte sich näher an mein Ohr und begann, mit tiefer, deutlicher Stimme zu übersetzen. Ich rutschte tiefer in meinen Sitz, lachte trotz allem da draußen und süffelte meine Cola, während sich unsere Schenkel gegeneinanderpressten. Irgendwann zwischen einer Frau, die in kratzigem Französisch herumgurrte, und einer Fliege, die es sich auf der Linse des Projektors bequem machte, schlief ich ein. Mein Traum war ein chaotischer Wirbel aus Mord und Verrat, mit Noah und mir in Schwarz-Weiß, wie wir lächelnd und Händchen haltend in ein weißes Licht rannten.

Stunden später stupste mich ein mit Besen und Kehrblech bewaffneter Mann sanft in die Wirklichkeit zurück. Ich blinzelte. Die Leinwand leuchtete weiß und das Popcorn lag um unsere Füße verstreut. Noahs Kopf ruhte auf meiner Schulter und seine schwitzige Hand lag auf meiner. »Renée«, murmelte er im Schlaf. Er träumte von mir, genau wie ich von ihm geträumt hatte.

Da wurde mir klar, dass meine Träume zum ersten Mal seit Monaten nur meine eigenen gewesen waren.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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