Les Neuf Sæurs

 
 

Französisch, so sagte Madame Goût, war eine unregelmäßige Sprache, eine geheimnisvolle Sprache, die Sprache der Wächter. Bei fast jedem Wort blieben die letzten drei Buchstaben stumm, was den seltsamen Effekt hatte, dass alle Wörter gleich klangen, egal, was sie bedeuteten. Alles drehte sich nur um Betonung, Aussprache, Darbietung, als wäre die ganze Sprache nicht mehr als eine Maske, hinter der sich ein jeder zwischen den anderen verbergen konnte.

Die anderen Mädchen nannten es romantisch, aber ich fand es einfach nur unaufrichtig. Dantes Latein gab mir das Gefühl, seine Liebe sei althergebracht und zeitlos, als könne sie niemals sterben. Ich merkte zunächst nicht, dass auch das Französische Tiefe hatte; der Trick bestand darin, die Worte zu hören, die nicht gesprochen wurden.

Unser Klassenzimmer lag unter dem Dach, wo es drückend heiß war, comme un état Vichy, wie unsere Lehrerin scherzte. Sie meinte, es könne unserer kehligen Aussprache nur förderlich sein.

Madame Goût war eine schlanke Mittfünfzigerin, die hohe Absätze und Kleider mit breiten Gürteln trug. Zwischen ihren Vorderzähnen klaffte eine große Lücke und sie sprach mit schwerem frankokanadischem Akzent. Ihr Lieblingswort war »Non«, was so entschieden vorgebracht wurde, dass wirklich keiner über die eigenen Fehler im Unklaren blieb.

»Im Lateinischen gibt es einfach zu viele Zeiten und Fälle. Da muss man viel zu viel nachdenken«, sagte sie unter wildem Gestikulieren. »Da steckt keine Liebe drin, kein Gefühl, keine joie de vivre! Aus dem Französischen quillt das einfach nur so heraus.«

Das Gurgeln in den Heizkörpern untermalte Madame Goûts Vortrag. Anya neben mir schrieb eifrig mit und schob sich immer wieder die roten Zöpfe zur Seite, wenn sie ihrem Stift im Weg herumbaumelten. Während die Lehrerin eine Liste von Pronomina an die Tafel schrieb, hörte ich, wie Clementine mit zwei Freundinnen tuschelte.

Madame Goût war das ebenfalls nicht entgangen, denn sie legte ihre Kreide ab und drehte sich auf klappernden Absätzen um. »Wenn Sie schon während meines Unterrichts herumflüstern müssen, hätte ich es gern, wenn Sie uns alle teilhaben ließen.«

Clementine wand sich auf ihrem Stuhl und sah Hilfe suchend zu ihren Freundinnen.

»Bitte, wir warten«, sagte die Lehrerin.

»Wir haben uns über die Île des Sœurs unterhalten. Über die Frauen, die dort die Untoten gefoltert haben.«

Madame Goût hob eine bleistiftdünne Augenbraue. »Folter? Von wem haben Sie das?«

»Monsieur Orneaux.«

Madame Goût stöhnte auf. »Natürlich muss Monsieur Orneaux wieder so etwas verbreiten. Er ist das, was wir einen homme pour les hommes nennen. Ein Mann für Männer. Und wie die meisten Männer hat er keinerlei Interesse für die Errungenschaften der Frauen«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Gar nichts weiß er«, murrte sie. »Ich habe denen schon hundertmal gesagt, dass er nicht qualifiziert ist, auf Schüler losgelassen zu werden.«

Eine peinliche Stille senkte sich über das Zimmer.

»Die Wahrheit ist, dass die ganze Wächtergesellschaft von Frauen gegründet wurde.« Madame Goût senkte die Stimme. »Und die Frauen, von denen Sie da sprechen, sind Les Neuf Sœurs oder die Neun Schwestern.«

»Wer war das?«, fragte Clementine.

Die Lehrerin drehte sich zur Tafel und wischte alle dort angeschriebenen Pronomina wieder ab. Dann griff sie sich ein Stück Kreide und schrieb in geschwungener Handschrift folgende Namen:

 

Gertrude Fine

Marie Champierre

Victoria Limon

Josephine Klein Prudence Beaufort

Hester Olivier

Chrisette Longtemp

Alma Alphonse

 

»Sie bildeten eine Geheimgesellschaft der Wächterinnen«, erklärte sie. »Eine Schwesternschaft.« Madame Goût zupfte ihren Rocksaum gerade, ging zur Tür und schloss sie. »Alles begann 1728 in Paris, als reiner Freundeskreis. Brillante Wächterinnen, jung, hochintelligent und alle unverheiratet, was damals sehr ungewöhnlich war. Sie nannten sich Les Neuf Sœurs, nach den neun Musen der griechischen Mythologie.«

»Was haben sie gemacht?«

»Man nimmt an, dass wir ihnen die meisten der frühen Wächterreformen verdanken – die Wächterschulen, Krankenhäuser, das Kloster auf der Île des Sœurs. Aber am bekanntesten sind sie dafür, ein Geheimnis gehütet zu haben.«

Jetzt hätte man eine Stecknadel fallen hören können.

»Ein Geheimnis? Was für ein Geheimnis?«, fragte Clementine.

Madame Goût faltete die Hände. »Darüber gibt es keinerlei Fakten, das ist alles reine Spekulation. Das hartnäckigste Gerücht besagt, dass sie das Geheimnis des ewigen Lebens entdeckt hätten.«

Mir glitt der Bleistift aus den Fingern und fiel zu Boden. Ich spürte Clementines Augen auf mir, wie sie meine Reaktion genau beobachtete. Mehr schlecht als recht verbarg ich meine Überraschung.

Madame Goût fuhr fort. »Die Überlegung an sich ist uralt: Wenn Kinder es schaffen, sich dem Tod über einundzwanzig Jahre zu widersetzen, könnte es doch für Erwachsene eine Möglichkeit geben, ihn für immer zu besiegen. Der Mythos der Unsterblichkeit hat eine unglaubliche Anziehungskraft.«

Unsterblichkeit. Das Wort wirbelte in meinem Kopf herum wie eine Feder. Das ist es, dachte ich. Das ist die Lösung, nach der Dante und ich gesucht haben.

»Der Sage nach entschlossen sich Les Neuf Sœurs dazu, das Geheimnis des ewigen Lebens niemals zu nutzen. Die Macht, die sie da in den Händen hielten, flößte ihnen Angst ein. Ewiges Leben ist eine Perversion, wider die Natur. Eine Welt ohne Tod ist sogar noch schrecklicher als eine Welt mit Tod. Die Schönheit, die Magie, das éphémère … das alles wäre verloren. Also schlossen die Sœurs vor ihrem Tode angeblich einen Pakt, dass sie ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen wollten.«

Es war so still im Raum, dass ich die Schritte des Lehrers im Klassenzimmer gegenüber hören konnte.

»Und das war’s?«, fragte Clementine. »Das Geheimnis ist verloren?«

Die Lehrerin trommelte mit ihren Fingern auf den Tisch. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Vielleicht drehte sich das Geheimnis auch gar nie um die Unsterblichkeit, vielleicht ging es um ein Familienerbstück oder ein dreckiges Gerücht. Es kommt immer darauf an, an was man glauben möchte.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte ich und sprach extra laut, um den gluckernden Heizkörper zu übertönen. »Wenn Les Neuf Sœurs eine Geheimgesellschaft waren, woher weiß man dann so viel über sie? Oder sind das alles Märchen?«

Madame Goût hob eine Augenbraue, als hätte sie auf meine Frage gewartet. »Aber keineswegs. Zuerst war gar nichts über sie bekannt.« Sie stellte sich hinter ihren Stuhl und stützte sich auf die Rückenlehne. »Bis zu ihrem Tod.«

»Was meinen Sie?«, warf Anya ein.

Madame Goûts Miene wurde ernst. »Sie wurden umgebracht. Jede Einzelne von ihnen ist zu Hause ermordet worden, im Frankreich des Jahres 1732. Und so sind ihre Identitäten gelüftet worden.«

Madame Goût wies auf die Namensliste an der Tafel und das Klassenzimmer wurde von einem Raunen erfüllt.

Doch als wir die Namen an der Tafel studierten, sagte lange Zeit niemand etwas.

»Das sind aber nur acht Namen«, brach ich das Schweigen. »Wer war die neunte Schwester?«

»Ach ja. Die neunte Schwester. Ich habe Ihnen gesagt, dass alle Schwestern in ihrem Haus ermordet wurden. Aber es wurden nur acht Leichen gefunden.«

»Was ist mit der neunten passiert?«, fragte Clementine.

»Das weiß keiner. Manche glauben, sie sei gestorben. Andere sind der Meinung, dass sie sich das Geheimnis zunutze gemacht hat. Dass sie am Leben geblieben ist, um das Geheimnis vor dem Bösen zu bewahren.«

Madame Goût machte eine dramatische Pause. Die Zeiger der Wanduhr über ihrem Kopf krochen Richtung zwölf.

»Niemandem ist es je gelungen, ihren Namen oder auch nur irgendeinen Anhaltspunkt zu ihrer Identität herauszufinden. Wenn man von dem hier absieht.« Mit klappernden Absätzen schritt sie zu ihrem Pult und zog einen dicken Wälzer aus der untersten Schublade. Sie blätterte ihn kurz durch, schlug ihn dann bei der Reproduktion eines Gemäldes auf und reichte das Buch am Tisch herum.

»Das ist das einzige Bild, das wir von den Neun Schwestern besitzen. Viele glauben, dass es nur Tage vor ihrem Tod fertiggestellt wurde. Es ist sehr berühmt; Sie finden es in jedem Buch über Les Neuf Sœurs.«

Als ich an die Reihe kam, ließ ich meinen Finger über jede einzelne der Sœurs gleiten. Sie standen in einer Art Wohnzimmer, in schlichte Hauskleider gehüllt, doch ihre schwarzen Augen bohrten sich geradezu durch das Blatt. Sie waren von unterschiedlichem Alter, manche in ihren Zwanzigern, andere nicht viel älter als ich. Ganz links stand ein Mädchen mit brauner Wuschelmähne und schmalen Augen. Sie schien die Jüngste zu sein. Eine Gesichtshälfte war ganz in Schatten getaucht. Auf ihrem Arm hockte ein gelbes Vögelchen.

»Das Mädchen links«, sagte Madame Goût. »Das ist die neunte Schwester. Die verschwundene Schwester. Viele Wächter haben nach ihr gesucht, aber keiner kannte mehr als die Hälfte ihres Gesichts, aus diesem Porträt. Und nach vielen fruchtlosen Jahren hat man schließlich allgemein angenommen, dass sie tot war.«

»Wer hat das getan?«, fragte Anya. »Wer hat sie ermordet?«

»Die Feinheiten werde ich Monsieur Orneaux überlassen. Ich denke, das ist sein Spezialgebiet. Schließlich ist Latein die Sprache der Untoten.« Sie beugte sich über ihr Buch und blätterte um. »Und nun zurück zum française.«

»Der Untoten?«, stieß ich heraus. »Untote haben sie umgebracht?«

»Papperlapapp«, sagte Madame Goût und hob einen warnenden Finger. »Das habe ich nie gesagt.«

»Aber wie kommt es, dass nie jemand nach dem Geheimnis gesucht hat?«, forschte Clementine.

»Natürlich hat man das getan. Es handelt sich um eine der umstrittensten Episoden in der Geschichte der Wächter. Zahllose Wächter haben Jahre ihres Lebens dafür geopfert, nach La Vie Éternel zu suchen, dem ewigen Leben. So nennen viele von uns ihr Geheimnis. Für die Wächter ist das wie die versunkene Stadt Atlantis. Der Heilige Gral. Der Quell der ewigen Jugend.« Madame Goût schüttelte den Kopf. »Und Sie wissen ja selbst, wie viele von denen sich als wahr entpuppt haben.«

In der Klasse setzte heftiges Geflüster ein.

»Ruhe bitte«, sagte sie und klopfte mit ihren Knöcheln auf den Tisch. »Das waren für heute genug der futilités

Während sie mit ihrem Vortrag über Pronomina und Genera fortfuhr, musste ich an meinen Flug mit Dustin denken, als ich einfach mit dem Wort Kanarienvogel herausgeplatzt war. Konnte das etwas mit den Neun Schwestern zu tun haben?

 

Als ich mir an jenem Abend im Speisesaal ein Glas Milch einschenkte, kitzelte mich plötzlich eine Stimme im Ohr. Vor Schreck ließ ich beinahe den Tetrapak zu Boden fallen.

»Du hast aber heute verdammt interessiert gewirkt, als es um die Neun Schwestern ging«, flötete mir Clementine über die Schulter. »Da frag ich mich natürlich, wieso jemand, der den Tod bereits überwunden hat, dermaßen fasziniert ist von einem Gespräch über das Geheimnis der Unsterblichkeit?«

»Und was möchtest du jetzt gerne von mir hören? Dass ich ein ganz stinknormaler Mensch bin und all die Gerüchte nur gelogen?«, sagte ich und reckte das Kinn nach oben, während ich zu den Gewürzen hinüberging.

Clementine folgte mir. »Nein. Weißt du, ganz normal finde ich dich auch nicht.«

»Du weißt nichts, aber auch gar nichts über mich«. Ich schüttelte sie ab und stolzierte zu dem Ecktisch, an dem Anya saß.

»Ich weiß, dass du was verheimlichst«, sagte Clementine, als ich sie links liegen ließ. »Und ich werd schon noch rauskriegen, wo du dieses Geheimnis begraben hast, und dann werd ich es ausbuddeln.«

Als ich nach dem Essen zurück in mein Zimmer kam, war es so still, dass ich hören konnte, wie sich auf dem Flur Schritte näherten und dann Clementines Tür aufgesperrt wurde. Ich legte gerade meine Tasche ab, da zog plötzlich eine eisige Brise durchs Fenster herein. In der Hoffnung, es wäre Dante, sprintete ich durchs Zimmer, aber natürlich war es Fehlalarm. Clementines Worte krochen mir durch den Kopf. Wenn sie jemals von Dante erführe … Ich wollte noch nicht mal daran denken, was dann geschehen würde.

Ich schloss das Fenster, ging zum Badezimmer und drehte die Dusche auf. Während ich noch am Waschbecken lehnte und darauf wartete, dass das Wasser heiß wurde, klopfte es an Clementines Tür. Wieder irgendwelche Freundinnen, nahm ich an – doch dann hörte ich überraschenderweise die Stimme eines Jungen.

»Noah«, sagte Clementine. Ihre Stimme klang anders. Sanft. Aufrichtig.

Noah?, dachte ich. Derselbe Noah, der mich mit dem Fahrrad angefahren und mit mir geflirtet hatte? Der Noah, der einen Narzissenstrauß quer über die Straße verteilt hatte. Für Clementine hatte er die gekauft?

Ich presste mich gegen die Wand und hörte zu, wie er ihr etwas zuflüsterte, wie sie zurückwisperte. Wie ein BH-Träger gegen nackte Haut schnalzte. Wie Clementine kicherte. Wie es still wurde, als sie sich küssten.

Mit geschlossenen Augen stellte ich mir vor, dass das da drüben Dante und ich waren, aber Noahs Stimme brachte alles wieder zum Einstürzen. Und aus welchen Gründen auch immer fing ich an zu weinen.

Nicht, dass ich eifersüchtig auf Clementine gewesen wäre, das war es nicht. Oder vielleicht doch. Als ich in die Dusche stieg und mich an den Fliesen abstützen musste, wünschte ich mir einen schwachen Moment lang, dass ich sie, dass Dante Noah sein könnte und dass er nebenan in meinem Zimmer schon auf mich wartete. Aber ich wusste, das würde ich niemals haben.

Der Duschvorhang wölbte sich, als ich mir über die Schulter fasste und vorsichtig das Mal auf meinem Rücken ertastete. Das war alles, was mir von ihm geblieben war. Und wenn er in fünf Jahren starb, würde ich nicht einmal mehr das haben – es sei denn, ich unternahm jetzt etwas, um mein Schicksal zu wenden. Als meine Hand schließlich zur Seite rutschte, legte ich meinen Kopf in den Nacken und ließ das heiße Wasser so lange an meinem Körper hinabrinnen, bis ich nicht mehr wusste, ob ich noch weinte, und der Dampf im Badezimmer das Atmen fast unmöglich machte.

In meinem Zimmer war es eisig, als ich die Badtür hinter mir schloss. Ich umklammerte mein Handtuch, ging direkt zu meinem Schreibtisch und zog mein Geschichtsbuch aus dem Regal. Ich blätterte es durch, bis ich den Abschnitt über die Neuf Sœurs gefunden hatte. Das Gemälde, das Madame Goût uns im Unterricht gezeigt hatte, starrte mir vom Blatt entgegen. Ich musterte das verschattete Mädchen mit dem Kanarienvogel und fragte mich, wer sie war, was ihr widerfahren war. Der Text war überhaupt keine Hilfe. Er erwähnte nur die wenigen Punkte, die wir schon von Madame Goût erfahren hatten, und der Rest des Kapitels handelte ihren Einfluss auf Kultur und Gesellschaft der Wächter ab.

Hatten sie wirklich das Geheimnis der Unsterblichkeit entdeckt? Ich musste es erfahren. Und wenn es existierte, musste ich es finden. Aber wo anfangen? Ich blätterte vor und entdeckte das Foto einer Steingravur ganz am unteren Rand der Seite. Das Bild war eher schlicht – ein kleiner, von Ranken umgebener Vogel –, doch sein Anblick reichte, um mir die Brust abzuschnüren.

Mein Atem wurde ganz flach und ich fiel in meinen Stuhl zurück. Ich konnte einfach nicht fassen, was ich da sah: genau denselben Vogel, der bei Dustin im Flugzeug vor meinem inneren Auge aufgeblitzt war. Das Kanarienwappen der Neun Schwestern, lautete die Bildunterschrift.

Mir versagte die Stimme. »Unmöglich.«

Ich knipste meine Schreibtischlampe an und betrachtete das Bild genauer, aber ich lag schon richtig: Es war exakt der Vogel, den ich gesehen hatte, bevor ich das Wort Kanarienvogel herausblökte.

Bedeutete das, dass die Visionen, die ich gehabt hatte, die Dinge, die ich auf einmal gewusst hatte, alle mit den Neun Schwestern zu tun hatten?

Wieder strömte eine kühle Brise ins Zimmer und brachte die Buchseiten zum Flattern. Hatte ich nicht eben das Fenster zugemacht? Ich stand auf. Das Fenster war tatsächlich noch geschlossen und trotzdem strömte Luft herein, wand sich um meine Handgelenke, meine Arme, meine Brust, bis ich seinen Namen wie einen Atemzug ausstieß. »Dante.«

Meinem Instinkt folgend eilte ich zur Wand und schaltete das Licht aus. Und als ich dann mitten im Zimmer stand, schloss ich die Augen und machte einen winzigen Schritt nach rechts, dann einen noch kleineren nach links, bis mir der Luftstrom die Beine emporkroch.

Ich warf mein Handtuch ab und zog mich so schnell an, wie ich konnte, kämmte mir das nasse Haar mit den Fingern durch und rannte die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. An den Schultoren kasperten ein paar Jungs mit dem Wachposten herum.

»Renée«, grüßte eine Stimme. Es war Brett.

»Ich – ich muss noch mal weg«, sagte ich und quetschte mich zwischen ihnen durch. Dann verschwand ich in den verwinkelten Straßen von Montreal.

Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, mich führte allein der eisige Luftzug, der mich mit Dante verband. Ihm zu folgen war nicht leicht. Immer wieder wollte mich der Tod in die Irre leiten, überall spürte ich seine Nähe: auf überfüllten Marktplätzen, in Krankenhäusern und in den Kirchen mit ihren schlichten Friedhöfen. Ich bog nach links ab, dann zweimal nach rechts, doch dann hatte ich Dante verloren. Ich machte kehrt und ging mit angehaltenem Atem den Weg zurück, den ich gekommen war, bis ich den Luftzug wieder spürte.

Schließlich fand ich mich am hintersten Ende des alten Hafens wieder, auf einem alten Fischereilandeplatz. Wie in einem Gefrierschrank war es hier, die Luft eisig und rau und erfüllt von den Geräuschen des nächtlichen Meers: die Brandung, die gegen das Dock klatschte; die schwankenden Boote am Kai, deren Leinen wie Glöckchen gegen die Masten klimperten.

Beim Landungssteg stand ein Lagerschuppen. Von der Decke baumelten frisch gefangene Fische, jeder an die zwei Meter lang. Ihre Schuppen reflektierten das Neonlicht in öligen Rottönen, in Orange und Purpur. Ein windgegerbter Mann in Gummistiefeln und Arbeitshandschuhen rollte ein Fass mit kleineren Fischen über das Dock. Ich senkte den Kopf und ging an ihm vorbei, sah zu, wie der Mond sich auf der welligen Wasseroberfläche spiegelte, als mich etwas Kaltes beim Handgelenk packte.

Ich wusste sofort, dass ich Dante gefunden hatte, erkannte es an der Art, wie seine Gegenwart mich umhüllte, in mich einsickerte, meine Lungen mit seinem besonderen Geruch füllte. Der Pinienduft war so stark, dass ich mich zum ersten Mal seit Monaten daran erinnern konnte, wie es war, in der Dämmerung durch einen Wald zu spazieren.

»Ist das hier sicher?«, stieß ich hervor, aber Dante legte mir einen Finger auf die Lippen.

»In dieser Stadt ist es überhaupt nirgends sicher.« Er zog mich ins Dunkel zwischen zwei monströsen Booten. Seine Hand lag auf meinen Rippen, sein Atem blies mir hinter das Ohr, während wir leise abwarteten, bis sich auch der letzte Arbeiter verzogen hatte.

Das Dock schwankte unter unseren Füßen, als Dante mich zum Ende der Plattform führte. Dort war ein kleines weißes Schiff aufgebockt, mit aufgerollten Segeln. The Sea Maiden.

»Wem gehört das?«, fragte ich, als Dante einen Fuß aufs Deck setzte.

»Heute Nacht gehört es uns«, sagte er. Und bevor ich wusste, wie mir geschah, hob er mich hoch, als wäre ich eine Feder, und trug mich ins Boot. Ich klammerte mich an seinem Hals fest, vergrub mein Gesicht in seinem Haar, in seinen Schultern, damit er mich nicht losließ.

»Du fehlst mir«, sagte ich, als wäre das alles nur ein Wunschtraum. »Du fehlst mir«, wiederholte ich und sah schon das Ende der Nacht voraus, wenn er wieder fort sein würde.

Er trug mich zur Mitte des Decks, wo eine kleine Treppe in die Kabine hinunterführte. Über einen Stapel Rettungswesten hinweg stieg er mit mir in den Bauch des Schiffes.

Er packte mich fester und legte den Lichtschalter um. Die Fensterränder waren mit winzigen Lichterketten gesäumt. Eine plüschige rote Bank führte die ganze mit dunklem Holz vertäfelte Wand entlang. Dante legte mich auf den Polstern ab, trat einen Schritt zurück und sah mich an.

Mir stieg die Röte ins Gesicht. »Was?«, flüsterte ich, plötzlich schrecklich verlegen.

Er kniete sich neben mich, hob mein rechtes Bein hoch, schnürte vorsichtig meinen Schuh auf und zog ihn mir aus. Dann ging er zu meinem linken Bein über, zog den anderen Schuh aus und stellte ihn auf den Boden.

Das Boot knarrte, als er zu mir aufblickte, eine verzweifelte Sehnsucht in den Augen. Seine Finger kitzelten meine Haut, als seine Hände meine Schenkel hinaufglitten, unter meinen Rock. Irgendetwas in mir schmerzte. Ich schloss die Augen und spürte, wie er mich aus der Strumpfhose herausschälte, erst ein Bein, dann das andere. Ich keuchte, als er meine nackten Knie küsste und die kalte Hafenluft meine Haut zum Kribbeln brachte.

»Darf ich?« Seine Stimme war ganz weich.

»Hör nicht auf«, sagte ich und meine Stimme brach, als ich meine Strickjacke aufknöpfte und sie mir von den Schultern rutschen ließ.

Er küsste mir den Nacken. Und langsam knöpfte er meine Bluse auf, ließ seinen Atem über meine Haut tanzen, bis ich nichts mehr trug außer einem Hauch von Baumwolle und Spitze.

Er lehnte sich zurück und verschlang mich mit seinen Blicken; seine Augen kletterten über meinen Körper. Wunderschön, bewegten sich seine Lippen, als handelten sie ohne ihn. Er senkte seinen Körper auf meinen hinab und ließ seine Hände über mich gleiten, fuhr mit seinen Fingern durch mein Haar, ertastete die glatten Kurven meiner Hüften, meines Rippenbogens, meines Schlüsselbeins.

Wie in einem selbstvergessenen Rausch hob ich meinen Kopf und zog sein Gesicht zu meinem herab.

Er drehte sich weg, gerade als unsere Lippen sich treffen wollten. »Vorsicht«, raunte er in mein Haar.

Und sogar auf dieser winzigen Couch, in einer engen Kabine im Bauch eines Boots, schien alles zusammenzupassen, als sei er mein Gegenstück. Die Ausbuchtung seiner Brust, die Kurve seiner Lenden, das Gewicht seiner Beine auf meinen – sie füllten den Hohlraum in mir und ich atmete ihn ein, bis ich die feuchte Luft, die staubigen Kissen unter uns und das Salz auf seiner Haut riechen konnte, als sein unrasiertes Kinn meinen Hals streifte.

Wir blieben bis tief in die Nacht wach, flüsterten, berührten uns, als hätten wir uns eben zuletzt gesehen, als wären die vergangenen zwei Wochen nichts gewesen als eine Pause mitten in einem langen, beredten Satz.

»Ich glaube, ich hab eine Antwort gefunden«, hauchte ich und meine Stimme war kaum zu hören, als ich ihm von Zinyas Prophezeiung, von den Neun Schwestern und vom Kanarienvogel berichtete. »Wenn an der Legende was dran ist, dann könnte ihr Geheimnis noch irgendwo da draußen sein. Wenn wir es finden, können wir dich damit wieder lebendig machen.«

Jetzt hätte Dante sich eigentlich an mich drücken und mir sagen sollen, dass wir gerettet waren. Aber nichts dergleichen geschah. »Das ist doch alles reine Spekulation«, sagte er endlich. »Woher willst du wissen, dass die neunte Schwester es nicht mit in den Tod genommen hat oder dass die Unsterblichkeit überhaupt existiert?«

Seine Worte trafen mich wie eine kalte Dusche und ich spürte, wie ich mich versteifte. »Weil es so sein muss. Im Flugzeug hab ich eine Vision von einem Kanarienvogel gehabt. Das muss doch was bedeuten. Zinya hat gesagt, die Visionen würden mich zur Antwort auf meine Seele führen. Was, wenn all meine Erscheinungen Hinweise auf das Geheimnis der Neun Schwestern sind?«

»Du hast mir neulich hinter der Kathedrale versprochen, dass du deinen Visionen nicht nachgehst.«

»Das hab ich nie versprochen«, sagte ich. »Und außerdem bin ich ein Wächter. Ich kann selber auf mich aufpassen.«

»Konnte Miss LaBarge auf sich aufpassen? Oder deine Eltern?«

Ratlos schlang ich mir die Arme um die Brust. »Warum sagst du so was? Willst du’s noch nicht mal ausprobieren?«

Er streckte die Hand nach mir aus, aber ich entzog mich.

»Na klar will ich das«, sagte er.

Ich sah ihm forschend ins Gesicht und versuchte zu begreifen, wieso er sich so anstellte. »Warum freust du dich dann gar nicht?«

»Ich freu mich ja«, sagte er, als wäre ich ihm auf die Füße getreten. »Ich will mich nur nicht in etwas hineinsteigern, was es wahrscheinlich gar nicht gibt.«

»Aber das ist alles, was ich habe«, sagte ich. »Wenn du weg bist, fühlt es sich so an, als würde ein Teil von mir fehlen. Was bleibt mir denn, wenn ich dich verliere?«

Dante legte eine Hand an meine Wange und führte mein Gesicht an seines heran. »Du wirst mich nicht verlieren«, sagte er. »Das würde ich niemals zulassen. Das verspreche ich dir.«

Er schlang seine Beine um meine, streichelte meine Schultern, liebkoste meinen Hals mit seinen Lippen. Draußen brauste der Wind; das Boot unter uns wiegte sich, zog unsere Körper auseinander und warf sie wieder zusammen, bis ich schließlich in seinen Armen eindämmerte. Irgendwann gegen Mitternacht rührte ich mich; hörte, wie er mir ins Ohr flüsterte. »Ich liebe dich«, murmelte er und glaubte wahrscheinlich, ich schliefe noch. Aber er musste es mir nicht sagen, ich wusste es sehr wohl.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und war allein. Ich setzte mich auf und betrachtete den Abdruck von Dantes Körper in den Kissen neben mir. Ich legte die Hand hinein, obwohl mir klar war, dass alles kalt sein würde. Das hätte mich nicht bestürzen dürfen; ich wusste, dass er vor Mitternacht hatte aufbrechen müssen, bevor die Wächter ihren Kontrollgang machten. Aber so sehr ich mich auch bemühte, ich würde mich nie an seine Abwesenheit gewöhnen. Ich wusste es einfach.

Draußen vor dem Fenster wartete ein trister Regentag. Ich sammelte meine Sachen zusammen. Unter mir knarrte das Boot, während ich die Balance zu halten und mich gleichzeitig anzuziehen versuchte. Schon im Gehen hob ich meinen Pulli vom Boden auf. Darunter lag ein Zettel.

Ich faltete ihn auseinander.

Ich verspreche es.

Ich lächelte und drückte ihn an meine Seite, sodass es mir vorkam, als würde Dante neben mir in den Nieselregen hinausklettern.

 

Nach meiner Rückkehr ins Wohnheim steuerte ich direkt auf Anyas Zimmer zu. Ich wollte gerade klopfen, da ging schon die Tür auf und sie stand vor mir in einem schwarzen Trägerkleid mit lila Strumpfhosen. Ihr rotes Haar war locker zusammengebunden.

»Ah, prima. Heute hast du mal dran gedacht.«

Wir hatten keinen konkreten Plan, als wir uns aufmachten. Ich nahm an, wir würden einfach meiner Vision folgen: einen Blumenstrauß kaufen, zur Anmeldung gehen und dort sagen, dass wir jemanden auf Zimmer 151 besuchen würden. Nicht wahnsinnig ausgefeilt, aber es war ja nur ein Krankenhaus. Was sollte da schon passieren?

Wir spazierten hin und Anya hielt einen klapprigen Regenschirm über uns beide, während wir durch die Pfützen stiefelten. Das Royal-Victoria-Krankenhaus sah genauso aus wie in meiner Erinnerung: Eine riesige Rasenfläche führte empor zu einem massiven Gemäuer, auf dessen Türmchen die Fahnen im Wind flatterten. Im Inneren des Gebäudes sah man hochglänzende Böden und schneeweiße Wände. An der Rezeption saß eine Reihe von Krankenschwestern tippend hinter Computern. Ohne Umwege ging ich auf sie zu, begleitet vom Quietschen von Anyas nassen Schuhen.

»Hallo«, sagte ich zu einer Schwester mit toupierter Betonfrisur. »Wir kommen jemanden besuchen.« Um meine Behauptung zu untermauern, platzierte ich meinen Blumenstrauß direkt auf dem Empfangstresen.

»Wen wollen Sie besuchen?«

»Äh – Zimmer 151.«

»Welche Station?«

»Kinderstation«, antwortete ich etwas zu steif.

Sie tippte etwas in ihren Computer und runzelte die Stirn. »Und der Name des Patienten, den Sie besuchen?«

Ich warf Anya einen panischen Blick zu. Das hätte nun gerade nicht passieren dürfen. »Äh –«

»Pierre«, sprang Anya mir bei. »Mein Cousin.«

Ich nickte. »Ihr Cousin.«

»Nachname?«, forschte die Schwester und sah uns misstrauisch an.

»LaGuerre«, platzte ich heraus.

Nach einer weiteren Eingabe in ihren Rechner lehnte sie sich zurück. »Pierre LaGuerre?«

Jetzt, wo sie es laut sagte, klang es total bescheuert. »Es gibt keinen Patienten dieses Namens und nach unseren Unterlagen gab es den auch nie.«

Mir brach der Schweiß aus. »Oh, ähm –«

»Sie heißen bitte?« Die Stimme der Schwester klang streng, als sie zum Bleistift griff.

Anya trat mich, bevor ich antworten konnte. »Unser Fehler«, sagte sie. »Wir müssen das falsche Krankenhaus erwischt haben.«

Die Schwester erhob sich, aber bevor sie etwas erwidern konnte, schnappte sich Anya meinen Arm und zerrte mich Richtung Ausgang.

»Was jetzt?«, fragte ich, kaum dass wir draußen waren.

»Wir gehen durch die Tunnel.«

Sie führte mich zu einem Einkaufszentrum, wo wir mit der Rolltreppe abwärts-, abwärts-, abwärtsfuhren, bis wir im Kellergeschoss herauskamen. Die Gänge waren grau gefliest und erstrahlten in derart grellem Neonlicht, dass ich mir die Augen zuhalten musste. Um uns herum schwirrte es vor Leuten, die einkauften, Kaffee tranken oder den Gastrobereich ansteuerten, von wo es nach heißem Fett stank.

Ich folgte Anya, die sich durch die Gänge wand, erst nach links und dann nach rechts, vorbei an einem U-Bahn-Eingang, einer Parfümerie und einem riesigen Supermarkt, bis wir schließlich einen Tunneleingang erreichten, der fast völlig mit Betonplatten verschlossen war.

»Ich glaub, hier ist es«, erklärte sie und stieg über eine orangefarbene Pfütze hinweg.

»Woher kennst du das hier?«, fragte ich und sog scharf den Atem ein, als ich mich an die Tunnelwand drückte und ihr nachging.

»Alle Russen hier wissen darüber Bescheid«, sagte sie und führte mich durch einen nasskalten Korridor. »Wir waren diejenigen, die sie gebaut haben. Also, nicht ich, aber du weißt schon. Russische Einwanderer. Als ich noch klein war, hat mein Vater mich immer durch diese Tunnel geschleift.«

Am Ende erwartete uns eine enge Treppe, die zu einer einsamen Tür führte. Anya drückte sie mit der Schulter auf. Dahinter befand sich ein geräumiger Lagerraum des Krankenhauses. Ich kickte eine Kiste aus dem Weg und stieg über ein wildes Chaos aus Krankenhausartikeln – Mullbinden, Einwegspritzen, Schachteln mit Gummihandschuhen –, bis ich es schließlich zur gegenüberliegenden, von einem hellen Lichtstreif umrandeten Tür geschafft hatte.

»Wir nehmen einfach die da«, sagte Anya und griff sich einen Bogen mit selbstklebenden Besucherschildchen. Auf eines schrieb sie Tanya und klebte ihn sich aufs Oberteil. Den zweiten Aufkleber beschriftete sie mit Dasha und heftete ihn mir auf die Brust. Gemeinsam kauerten wir hinter der Tür, lauschten auf die Schritte auf dem Gang und huschten schnell heraus, als sie verebbten.

Wir waren in der Geriatrie gelandet, einem trostlosen Ort, wo die Neonröhren in der Stille surrten. Leer und kalt fühlte es sich an, als würde hier der Tod persönlich hausen. Anya und ich taten besonders unauffällig und steuerten die Aufzüge an. Ein Glöckchen ertönte und schon waren wir drin.

Der Aufzug war gerammelt voll; zwei Pflegerinnen standen neben einem Mann auf einer Trage. Alt war er, aber auch kräftig, mit muskulösen Armen und eisgrauem Bart. Er war nicht tot, sondern nur im Tiefschlaf, denn erspüren konnte ich ihn nicht. Anya starrte ihn an, während ich den Knopf für den zweiten Stock drückte – Kinderheilkunde.

»Weißt du, der sah irgendwie gut aus«, erklärte sie, als wir ausstiegen.

Ich stöhnte auf. »Der könnte dein Großvater sein. Dein Urgroßvater.«

»Ich finde ältere Männer sexy«, fuhr sie fort. »Ihr Brusthaar. Gefällt mir total.«

Ich hob abwehrend eine Hand. »So genau will ich’s gar nicht wissen. Wir müssen uns konzentrieren.« Ich beäugte eine Krankenschwester, die gerade am Telefon hing.

Alles sah genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte: die Zeichnungen an der Wand, die Stifte und Bilderbücher im Wartezimmer, das Grundgeräusch aus piepsenden Maschinen, schnatternden Schwestern und Schuhsohlen auf Linoleumboden. Eine Reihe von Krankenzimmern.

Dann das Zimmer 151. »Da ist wer drin«, stellte Anya fest, die durchs Fenster linste. Auf Zehenspitzen spähte ich ihr über die Schulter. In der Zimmermitte stand ein einsames Bett und darin lag ein Junge, über dessen Beinchen eine Decke festgezurrt war.

Ich klopfte an. Als er sich nicht rührte, klopfte ich noch einmal, diesmal kräftiger, und drehte dann am Knauf.

Der schlafende Junge im Bett war der aus meiner Vision. Seine Ärmchen waren mit Pflastern und Schläuchen gespickt, als wäre er von innen nach außen gestülpt worden.

Anya stupste sein Bein an, aber er wachte nicht auf.

»Nicht anfassen!«, zischte ich leise.

»Warum nicht?«

»Lass – behalt ihn einfach nur im Auge, während ich unten nachschaue, okay?« Ich holte ein Stück Grafit und ein Blatt aus meinem Spiralblock hervor. Die Kunststofffliesen fühlten sich unter meinen Knien kalt und rutschig an.

Ich schob den Kabelsalat beiseite und glitt unter das Bett, der schmale Zwischenraum war gerade groß genug für mich. Ich tastete den Boden mit der flachen Hand ab, bis ich etwas Raues, Kühles spürte, wie Metall. Ich befühlte die Ränder: Es war kreisförmig. Und dann deckte ich es mit dem Blatt zu und fuhr mit dem Grafit darüber, um einen Abdruck der Oberfläche zu bekommen. Hoffentlich machte ich das richtig.

Niesend tauchte ich wieder auf. Wir beide erstarrten mitten in der Bewegung und warteten darauf, dass der Junge erwachte, aber er rührte sich nicht.

»Also, was ist es?«, fragte Anya und zupfte mir die Wollmäuse aus den Haaren, während wir uns beide über meinen Abrieb beugten. Es sah aus wie eine Art ovale Plakette, in die folgende Inschrift eingraviert war:

 

lass dich, um ihm nachzuspüren,

von des Bären Nase führen

hinab in feuchte Salzesnacht;

 

Unter den Worten saß ein Wappen, das ein Vögelchen zeigte. Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Das gibt’s nicht«, flüsterte ich und zerknüllte beinahe das Papier.

»Was?«, fragte Anya.

»Das ist ein Kanarienvogel.« Ich fuhr seine Flügel nach. »Das Wappen der Neun Schwestern.«

Bevor ich weiterreden konnte, bewegte sich der kleine Junge in seinem Bett. Anya und ich schreckten auf. »Lass uns woanders drüber reden«, flüsterte ich und wandte mich zur Tür.

»Also, was soll das sein?«, fragte sie, als wir auf den Aufzug warteten.

Ich spähte den Gang hinunter, ob uns auch niemand beobachtete, und zog das Blatt hervor. »Eine Art Rätsel. Wie eine Wegbeschreibung«, sagte ich und wies auf die erste Zeile: lass dich, um ihm nachzuspüren  Ruckartig blickte ich auf. »Vielleicht führt sie zum Geheimnis der Neun Schwestern.«

Ich sah Anya an und wartete auf ihren Adrenalinschub, doch stattdessen kam nur Skepsis: »Ich weiß nicht. Irgendwie scheint das zu einfach. Was hat das unter einem Krankenhausbett zu suchen?«

Ich sah zu, wie der Stockwerksanzeiger des Aufzugs zitterte, als die Kabine zu uns hinabsank.

»Die letzte Zeile endet mit einem Semikolon, nicht mit einem Punkt. Vielleicht ist es unvollständig.«

Anya wirkte nicht gerade überzeugt. »Aber dieses ganze Zeugs ist reine Legende. Wir haben keine Ahnung, ob da was dran ist.«

»Ich weiß, klingt weit hergeholt, aber das hier existiert doch schließlich, oder?«, fragte ich und starrte auf das Papier. »Wie soll man das sonst erklären?«

»Wie kannst du dir so sicher sein, dass es was mit den Neun Schwestern zu tun hat?«

Ich deutete auf den Vogel am unteren Blattrand. »Das ist haargenau das Wappen aus unserem Geschichtsbuch, unter den Neun Schwestern. Ich hab gestern Abend was über sie nachgelesen.«

Anya schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Das ist nachgemacht oder irgendein Wappen, das halt genauso aussieht.«

»Warum? Wieso kann es nicht echt sein?«

Sie beäugte das Papier, als jagte es ihr Angst ein. »Wie kannst du das in einer Vision gesehen haben?«

»Vielleicht, weil es mir vorbestimmt war, es zu finden?«

Während sie mich musterte, breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. »So einen Quatsch hab ich noch nie gehört.«

»Also, was schlägst du dann vor?«, fragte ich etwas angefressen. »Weiter so tun, als wär nichts?«

Sie kaute auf einer roten Haarsträhne herum. »Meinetwegen«, sagte sie. »Zeig’s noch mal her.«

Kaum waren die Aufzugtüren zugefahren, holte ich den Durchrieb hervor.

»Also, wir müssen der Nase des Bären in die feuchte Salzesnacht hinab folgen«, zitierte ich die letzten beiden Zeilen.

»Keinen Schimmer, was das heißen soll«, sagte Anya.

Ich verschränkte die Arme. Des Bären Nase. Damit konnte kein echter Bär gemeint sein. Vielleicht irgendeine Inschrift auf einem Gebäude oder eine Gesteinsformation, die aussah wie ein Bär … Und die feuchte Salzesnacht musste wohl das Meer sein 

»Aber laut Madame Goût haben die Neun Schwestern doch geschworen, dass sie das Geheimnis mit in den Tod nehmen, damit es nie entdeckt wird«, meinte Anya. »Warum sollten sie dann ein Rätsel hinterlassen, das dorthin führt?«

Darauf hatte ich keine Antwort, und bevor ich wieder den Mund aufmachen konnte, öffneten sich die Aufzugtüren im Erdgeschoss.

»Renée?«

Meine Augen wanderten über sein rechtes Hosenbein, um das er eine Manschette trug, als sei er gerade vom Fahrrad gestiegen, und dann hoch zu seinem offenen Hemdkragen und dem kastanienbraunen Wuschelschopf.

»Noah?« Er trug einen Kaffeebecher und ein Buch.

Sein Blick fiel auf mein Namensschild. Rasch rupfte ich es ab und zerknüllte es. Hoffentlich hatte er es nicht gelesen.

»Was sollte das denn?«

»Nichts«, sagte ich und schaute Anya an. Schnell tat sie es mir nach. »Was machst du hier?«

»Meine Großmutter besuchen«, erklärte er.

Ich musste schlucken und auf seine Grübchen starren. »Das tut mir so leid.«

»Nein, ist schon in Ordnung. Sie liegt schon eine ganze Weile hier. Ich schau immer mal wieder vorbei, auch wenn sie mich noch nicht mal hört. Neulich, als ich in dich reingefahren bin, war ich auch auf dem Weg hierher.«

»Ach so?«, fragte ich, seltsam erleichtert, dass die Blumen gar nicht für Clementine, sondern für seine Großmutter gewesen waren.

»Wen besucht ihr?«

»Ach, äh, niemanden eigentlich.«

»Niemanden eigentlich?«, lachte er. »Was treibt ihr dann hier?«

Während ich noch nach der richtigen Antwort suchte, mischte Anya sich ein. »Wir haben nur mal die Cafeteria ausprobiert.«

»Wir waren gerade am Gehen«, sagte ich. »Wir müssen zurück zur Schule zu …«

»Einem Clubtreffen«, beendete Anya meinen Satz.

Er trat rückwärts in den Aufzug. »Clubtreffen? Was für ein Club?«

»Nur für Mädchen. Ganz was Privates«, erklärte Anya und trieb mir die Schamesröte ins Gesicht.

»Hoffentlich geht’s deiner Großmutter besser«, sagte ich, gerade als sich die Türen schlossen. Zusammen rannten Anya und ich zurück zum St. Clément, platschten quer durch die Pfützen auf den Pflastersteinen und hinein ins Wohnheim.

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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