Die Kleinschwester

 
 

Fahles Licht schimmerte durch den Nebel, der über dem See aufstieg. Ich watete ins Wasser und schwamm darauf zu, bis sich im Dunst ein rotes Ruderboot abzeichnete. Es knarrte, als sich eine weibliche Gestalt hinauslehnte, um in die Dunkelheit zu spähen. Jetzt konnte ich erkennen, wie ihre Hände sich um die hölzerne Kante krampften. Meine Bewegungen wurden ruhig. Kleine Wellen schwappten mir ins Gesicht, als ich tiefer ins Wasser sank. Alarmiert schob sich die Frau ihre Kapuze zurück und ließ ihr stumpfes Haar um die Wangen flattern.

»Wer sind Sie?«, hallte die Stimme von Annette LaBarge über den See. Suchend glitt der Lichtkegel ihrer Taschenlampe über die Wasseroberfläche, nur wenige Zentimeter vor mir.

Ich wagte nicht, mich zu rühren; jemand hätte uns beobachten können. Niemand durfte wissen, dass ich hier war.

Ihre Lippen bebten. »Zeigen Sie sich.« Ihre Augen schienen an mir hängen zu bleiben, auch wenn ihr Blick auf kein Ziel gerichtet war.

Ich hielt den Atem an. Ein schwacher Windstoß blies über die Wellen und setzte ihr Boot in Bewegung. Sie knipste das Licht aus, tauchte ihre Ruder ins Wasser und legte sich in die Riemen. Rasch hatte sie der Nebel eingehüllt, bis nichts mehr zu sehen war als die Wirbel im Wasser, die sich wie zwei dunkle Bänder hinter ihr herschlängelten. Lautlos folgte ich ihrer Spur.

Dann wurde das Wasser plötzlich ruhig und ich war allein. Abwartend schwamm ich auf der Stelle und versuchte, das Geräusch ihrer Ruder zu orten, aber es war nichts zu hören. Doch da, bevor ich aufblicken konnte, fuhr plötzlich etwas auf meinen Kopf nieder. Mit einer raschen Armbewegung packte ich den Spaten in Miss LaBarges Händen und entwand sie ihrem Griff. Um uns herum spritzte das Wasser auf; die Schaufel glitt mir aus den Fingern und versank in der Tiefe des Sees.

Miss LaBarge taumelte zurück und ich nutzte die Chance, krümmte meine Finger um den hölzernen Bootsrand und versuchte, mich aus dem Wasser zu hieven. Das Boot kippte mir entgegen.

»Halt!«, brüllte sie und blinzelte in die Finsternis. »Nicht näher kommen!«

Bevor ich etwas entgegnen konnte, hörte man in der Ferne ein Plätschern. Wir erstarrten beide und blickten forschend in die Dunkelheit. Der Wind trug ein Flüstern zu uns her. Um uns herum kräuselte sich das Wasser; irgendetwas ganz in der Nähe hatte es aufgewühlt.

Miss LaBarges Augen jagten in der Nacht hin und her und hefteten sich schließlich auf mich. »Wer sind Sie?«, rief sie. »Warum sind Sie mir gefolgt?«

Um uns herum schien das Wasser stärkere Wellen zu schlagen. »Still!«, sagte ich mit gesenkter Stimme und sah zu, wie es seitlich gegen das Boot schwappte. Ich musste sie erwischen, jetzt, bevor man uns entdeckte.

Durch den Nebel drang das Geräusch eines Beinschlags, als ob etwas auf uns zuschwamm. Miss LaBarge wandte sich herum; der Schal flatterte ihr ins Gesicht. »Mit wem sind Sie gekommen? Was wollen Sie?«

»Halten Sie den Mund«, sagte ich mühsam beherrscht und griff erneut nach der Kante ihres Boots. Sie wich vor mir zurück und brachte das Holz zum Knarren. »Und Schluss mit dem Gezappel!«

Panisch hantierte sie an ihrer Taschenlampe, während ich versuchte, mich zu ihr ins Boot zu ziehen, doch meine vollgesogenen Kleider waren bleischwer. Keuchend trat sie nach meinen Knöcheln und schälte meine Finger vom Holz, bis ich den Halt verlor. Meine Arme peitschten ins Wasser, die langen Haare klebten mir im Gesicht. Mit einem letzten Anlauf wollte ich mich ins Boot wuchten, aber es schnellte von mir weg und ich glitt zurück in den See.

Als ich wieder auftauchte, richtete mir Miss LaBarge den gelben Lichtkegel direkt in die Augen.

»Sie?«, fragte sie fassungslos. Als sie mir ins Gesicht starrte, spiegelte sich der Mond in ihren Augen und verlieh ihnen einen hellen Glanz. Doch bevor sie noch etwas sagen konnte, war da wieder das Plätschern, viel näher als zuvor. Sie warf einen Blick über ihre Schulter, ihre Züge von nackter Angst verzerrt.

Mir blieb keine Zeit zur Antwort. Miss LaBarge ließ ihre Taschenlampe in das Boot fallen und schnappte sich die Ruder. Sie ruderte wie besessen und verschwand erneut im Dunst.

Ich wischte mir über die Augen und suchte den See nach ihr ab, versuchte, ihre Position zu bestimmen. Dort ging ihr Atem, mühsam und gehetzt, im Gleichschlag mit ihren Rudern, die hinein- und heraustauchten, rein und raus, rein und raus. Immer dem Geräusch nach schob ich mich durch die Wogen, bis sich in dem Nebel eine kleine Felseninsel abzeichnete.

Die Brandung rollte landeinwärts, brach sich am Ufer und trug das winzige Boot an Land. Ich sah, wie Miss LaBarge ins Wasser sprang und dem Strand entgegenstapfte, ihr Boot im Schlepptau. Fast hatte ich sie eingeholt, da erhob sich vor mir eine dunkle Gestalt aus den Wellen. Einen Augenblick später erschien eine weitere, dann noch eine – es schienen Dutzende zu sein; dunkle, unregelmäßige Schatten, klein, glitschig. Mit hektischen, fieberhaften Bewegungen krochen sie auf den Strand und eilten dann über die Felsen auf Miss LaBarge zu. Durch die Finsternis tauchte ich dem Ufer entgegen. Als ich sie endlich fand, drosch sie schon wild mit dem Ruder auf die Kreaturen ein. Über unseren Köpfen hallte durch die Nacht ein gellender, ohrenbetäubender Schrei.

 

Das Läuten des Telefons riss mich aus dem Schlaf. Ich setzte mich im Bett auf und blinzelte. Wieder so ein nasser Augustmorgen, so früh, dass sich die Sonne noch kaum hinter den Wolken hervorgewagt hatte. So erleichtert war ich, mich in meinem eigenen Zimmer wiederzufinden, dass ich mich zurück in die Kissen plumpsen ließ und lauschte, wie der Regen gegen die Fensterscheiben meines großväterlichen Hauses prasselte. Schon den ganzen Sommer über hatte ich diese seltsamen, düsteren Träume gehabt, denen nur eines gemeinsam war: In jedem von ihnen suchte ich verzweifelt nach irgendwem.

Auf dem Kissen neben mir lag ein altes Buch meiner Mutter über die Geschichte der Wächter. Mein Großvater hatte mir zu Beginn des Sommers einen ganzen Stapel davon überreicht. Sie sollten mich lehren, was ich war, wie jeder in meiner Familie: ein Wächter; ein Mensch, dem das Talent in die Wiege gelegt worden ist, den Tod zu fühlen. Oder genauer gesagt, die Untoten. Nach Abschluss meiner Ausbildung würde es meine Pflicht sein, die Untoten aufzuspüren und sie durch Beerdigung zur Ruhe zu bringen. Diese Aufgabe verfolgte mich, seitdem ich von der Welt der Wächter und der Untoten erfahren hatte.

Ich warf einen Blick auf das Buch. Die Seite, die ich gestern Abend gelesen hatte, behandelte die Wanderung der Wächter in den Mittleren Westen, illustriert mit einem Foto des Eriesees. Bei seinem Anblick hatte mich eine solche Panik überkommen, dass es mir die Luft abschnürte. Auf einmal hatte sich alles schwer angefühlt und ich hatte es nicht ertragen, das Foto noch länger anzusehen. Das war das Letzte, woran ich mich vor dem Einschlafen erinnern konnte.

Noch einmal klingelte das Telefon und gab dann auf. Die Uhr auf meinem Nachttisch zeigte erst kurz nach halb sechs, früh sogar für das Personal des Herrenhauses. Zu dieser Tageszeit waren höchstens die Küchenhilfen auf den Beinen. Draußen eilte jemand den Flur entlang, dem Schlafzimmer meines Großvaters entgegen. Drei Klopfer an seine Tür, Schritte, dann Stimmen.

Ich warf die Decken ab, schlüpfte aus dem Bett und lugte auf den Flur hinaus. Die Tür meines Großvaters stand einen Spaltbreit offen und ließ einen schmalen Lichtstreif über den Teppich fallen.

Ich schlich den Gang entlang und postierte mich bei einem Wäscheschrank.

»Wen haben Sie gefunden?« Die Stimme meines Großvaters klang harsch. »Wo war sie?«

Stille.

»War sie hinter einem von ihnen her? Wo war ihr Partner?«

Ein Schatten zog an der Tür vorbei und verstellte dem Licht den Weg. Ich gab mir alle Mühe, mitzubekommen, um was es sich drehte, aber die Stimme meines Großvaters drang nur gedämpft hinaus. Er knallte den Hörer zurück auf die Station.

Ohne Vorwarnung flog die Tür auf und mein Großvater stürmte in den Flur, sich noch im Gehen den Mantel überziehend. Dustin, der Gutsverwalter, mühte sich hinter ihm mit dessen Aktenkoffer und Reisetasche ab. Ich duckte mich in den Wandschrank, hockte mich neben einen Korb mit Schmutzwäsche und wartete ab. Als ich mir sicher war, dass beide die Treppe hinuntergegangen waren, huschte ich zurück in mein Zimmer und eilte zum Fenster.

Durch die Jalousie wehte es feucht ins Zimmer. Von meinem Beobachtungsposten aus konnte ich Dustin sehen, wie er mit zwei Taschen jonglierte und zugleich einen Regenschirm über meinen Großvater hielt, während der zur Haustür hinauseilte, auf seinen Aston Martin zu. Dustin verstaute die Taschen im Kofferraum und ich sah zu, wie das Auto die Auffahrt hinabschlingerte, abbog und außer Sichtweite brauste.

 

Meine Versuche, wieder in den Schlaf zurückzufinden, endeten damit, dass ich wieder in meinen Traum hinein- und hinausglitt, verfolgt vom Gesicht von Miss LaBarge, meiner Philosophielehrerin am Gottfried-Institut. »Sie?«, hatte sie gesagt, als würde ich ihr Angst machen. Was hatte sie gemeint?

Ein Klopfen an der Tür riss mich zurück in den Tag. Draußen nieselte es noch immer; die Sonne war nur eine blasse Scheibe hinter den Wolken.

Ich zog einen Pulli über und öffnete die Tür. »Ja?«

Dustin trat ein, kahl und schlaff wie ein Ohrläppchen, und balancierte eine ausgefeilt arrangierte Servierplatte voller Eier, Pfannkuchen, Würstchen und Obst. Über seinem kleinen Wanst spannte sich der Anzug. Bei meinem Anblick erstarrte er. »Grundgütiger!« Er musterte mich mit gefurchter Stirn. »Sie sehen tatsächlich älter aus. Bemerkenswert.«

Vom Flur her zog es eisig herein und ich schlang meine Arme um mich. »Bitte?«

»Ach, kommen Sie schon. Erzählen Sie mir jetzt nicht, Sie hätten vergessen, was heute für ein Tag ist. Frühstück im Bett gefällig? Aus gegebenem Anlass habe ich Ihnen genau siebzehn kleine Gerichte zur Auswahl gebracht.«

Mein Geburtstag. Natürlich. Ich stützte mich gegen den Bettpfosten, während Dustin das Tablett auf meinem Nachttisch anrichtete. Vergessen hatte ich ihn nicht gerade, nur anders besetzt. Jetzt war es der Todestag meiner Eltern. Der Tag, an dem Dante gestorben war. »Ich hab Ihnen gesagt, dass ich nicht feiern möchte.«

»Ja, ja, freilich. Es ist ein trauriger Anlass, ich weiß.« Dustin faltete eine Serviette. »Aber Ihre Eltern hätten gewollt, dass Sie den Tag genießen. Sie sind jetzt siebzehn. So gut wie erwachsen.«

»Danke.« Ich rang mir ein dürres Lächeln ab, doch meine Gedanken kreisten nur um Dante. Er war untot – einer von denjenigen, die bei ihrem Tod jünger als einundzwanzig Jahre gewesen, weder begraben noch verbrannt worden und deshalb wiederauferstanden waren. Bis letztes Jahr noch war er dazu verdammt gewesen, auf Erden herumzuirren und den Menschen zu suchen, in dem seine Seele wiedergeboren worden war, um sie sich dann durch einen Kuss wiederzuholen.

Mich.

Wider alle Wahrscheinlichkeit waren wir uns über den Weg gelaufen – die ersten aktenkundigen Seelengefährten seit Menschengedenken. Das Problem an der Sache war nur, dass wir uns ineinander verliebt hatten. Den Untoten bleiben nach ihrem ersten Tod nur einundzwanzig Jahre auf Erden, bevor ihre Körper zerfallen, und heute begann Dantes siebzehntes Jahr. Bald würde er für immer verschwunden sein. Ich schloss die Augen, verdrängte den Gedanken aus meinem Kopf und blickte zu Dustin auf. »Wer hat da angerufen?«

Dustin verkrampfte sichtlich. »Ach ja, das Telefon.« Er wich meinem Blick aus und nestelte am Besteck herum. »Darüber brauchen Sie sich einstweilen keine Gedanken zu machen. Frühstücken Sie erst einmal.«

Das Essen sah sirupgetränkt und schön heiß aus, aber ich hatte keinen Appetit. Schon den ganzen Sommer nicht. »Teilen wir es uns?«

Dem überraschten Dustin schoss die Röte ins Gesicht. »Es wäre mir eine Ehre. Ich decke im Esszimmer für zwei.«

Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, entdeckte ich auf meinem Nachttisch, wo eben noch das Frühstückstablett gestanden hatte, einen Umschlag. Mit einem müden Lächeln nahm ich ihn an mich. Der Absender lautete:

 

Eleanor Bell

18 rue Châtel

55100 Verdun, France

 

Darunter befand sich ein Briefcode.

 

1 - 7 - 5 - 30 - 1 - 9 - 18 - 61 - 1 - 12 - 1 - 2

 

Ich zog die Karte aus dem Umschlag. Das Siegel war bereits gebrochen, aber ich war es schon gewohnt, dass mein Großvater meine Post kontrollierte. Eleanor, meine beste Freundin am Gottfried, reiste schon den ganzen Sommer mit ihrer Mutter durch Europa und schickte von jeder einzelnen Station Postkarten, die sie zum Schutz unserer Privatsphäre in Umschlägen versiegelte: aus Ascona in der Schweiz, Grasmere in England, Utrecht in den Niederlanden, Immenstaad in Deutschland, Frosses in Irland. Wächsern wirkende Landschaften zierten den Spiegel über meiner Frisierkommode und bildeten einen ebenso armseligen wie tröstlichen Ersatz für Eleanor. Diesmal war es die Ansicht eines schimmernden Sees, dessen blaues Wasser mit grünen Inselchen gefleckt war. Ich drehte sie um.

 

Renée,

 

bonjour aus Verdun in Frankreich, wo ich die nächsten Tage festgenietet bin! Meine Mutter schleppt mich zu einem abgelegenen See nach dem anderen, alle angeblich irgendwie wichtig für die Geschichte der Wächter. Außerdem wirkt sie völlig paranoid, als wären wir nirgendwo in Sicherheit. Sie macht sich Sorgen über Taschendiebe und Räuber, aber all diese Orte, die wir uns angesehen haben, sind völlig aus der Welt und praktisch unbewohnt und leer ich weiß nicht, wer da was klauen sollte. Total seltsam, wie besessen sie ist. Ehrlich gesagt glaube ich, dass sie sich eigentlich um mich sorgt. Sie will immer noch nicht akzeptieren, was ich bin; da blockt sie völlig ab. Scheint fast zu glauben, dass sie das Ganze irgendwie wieder rückgängig machen kann, wenn sie mich an all diese Wächter-Gedenkorte schleift. Ohne Dich macht das jedenfalls keinen Spaß. Hoffe, Du hast einen großartigen Geburtstag.

 

Alles Liebe

Eleanor D. Bell

 

Die letzten Zeilen las ich noch einmal. Ich wusste genau, wie ihr zumute war. Eleanor war ein Wächter gewesen, genau wie ich, bis sie letztes Jahr ertrunken und als Untote wiederauferstanden war. Jetzt konnten ihre Wächtereltern sie zur Ruhe bringen, wenn es ihnen beliebte. Diese Angst war mir nicht neu; ich hatte sie in Dantes Augen gesehen: eine kurze Erschütterung seines Vertrauens in mich. Als er begriffen hatte, dass ich ein Wächter war und irgendwo tief in mir das angeborene Bedürfnis schlummerte, ihn zu beerdigen.

Ich legte das Kuvert neben die Postkarte, griff mir einen Bleistift und begann abzuzählen, genau wie der Briefcode es vorgab. Ich notierte mir das erste Wort von Eleanors Nachricht, dann das darauf folgende siebte Wort, dann das fünfte danach, dann das dreißigste und so weiter, bis ich schließlich folgende Botschaft vor mir hatte:

 

Renée,

ich bin in Sicherheit aber leer ohne Dich.

Alles Liebe

D.

 

Beim Buchstaben D blieb ich eine Weile hängen, denn in mir breitete sich eine schmerzhafte Leere aus. Dante. Wie ich seinen Namen laut aussprach, begann mein ganzes Inneres zu rumoren, als wäre dort gerade etwas zum Leben erwacht. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen, seitdem er mich letzten Frühling im Feld hinter der Kapelle geküsst und mir im wahrsten Sinne des Wortes meine Seele zurückgegeben hatte. Danach hätte ich lebendig sein sollen, genau die Renée, die ich vor dem Kuss gewesen war, und Dante wieder untot wie zuvor. Aber irgendetwas stimmte nicht. Ich konnte mich kaum daran erinnern, was an jenem Tag im Feld geschehen war. Ich musste ihn wohl dort zurückgelassen haben, wie er es von mir verlangt hatte, denn ich wusste nur noch, wie die Lehrer mich umringt und in den Krankenflügel getragen hatten. Das war das letzte Mal gewesen, dass ich Blumen gerochen oder die Sonne im Nacken gespürt hatte. Ohne Dante war alles stumpf und farblos, eine Welt aus Pappe. Wie fühlte es sich an, an einem heißen Tag ein kaltes Glas Wasser zu trinken? Oder die Säure eines Sommerpfirsichs auf der Zunge zu schmecken? Selbst die Erinnerung an die allerschlichtesten Freuden schien mir inzwischen völlig entglitten.

Mein einziger Trost war die Erinnerung an Dante und die Hoffnung, dass ich schon begreifen würde, was mit mir, was mit ihm geschehen war, wenn ich ihn nur erst wieder vor mir hatte. War er lebendig? War er untot? Oder irgendwo dazwischen, wie ich? Den ganzen Sommer hatte er mir über Eleanor diese Botschaften zukommen lassen, alle knapp und ohne jede Information bis auf die, dass er in Sicherheit war. Ich wusste, dass er keine andere Wahl hatte. Er war untergetaucht, er musste sich kurzfassen. Aber wo blieb ich dabei? Ans Gottfried konnte Dante nicht zurück; die Lehrer verdächtigten ihn, letzten Frühling die Rektorin ermordet zu haben. Und obwohl er das nicht getan hatte, durfte er ihnen auch niemals die Wahrheit erzählen – dass er meine Seele genommen und sie mir wiedergegeben hatte –, denn auch das zählte als Mord. Kehrte er ans Gottfried zurück, würden ihn die Wächter erspüren, ihn finden und begraben. Wie also sollte ich ihn treffen können? Und was, wenn ich nie wieder von ihm hörte?

Ein letztes Mal las ich seine Botschaft, berührte das D mit meiner Fingerspitze und stellte mir vor, wie seine Stimme mit dem Regen durch das Fliegengitter am Fenster sickerte. Dann klemmte ich die Postkarte zu den anderen an den Spiegel auf meiner Kommode, ging ins Badezimmer und drehte die Dusche auf. Jetzt bereitete mir mein Geburtstag ein bisschen weniger Bauchweh. Während sich das Wasser aufheizte, warf ich einen Blick in den Spiegel. Nichts hatte mich darauf vorbereitet, was ich dort sah. Ich sah nicht nur älter aus, sondern auch anders, unwirklich. Meine Augen waren dunkler und tiefer, meine Lippen leuchteten, mein Gesicht war kantiger, eindrucksvoll und irgendwie traurig. War das über Nacht geschehen oder hatte ich es bis eben einfach nicht bemerkt? Aus der Dusche waberte der Wasserdampf und beschlug den Spiegel. Dante, schrieb ich mit einem Finger aufs Glas. Ich verfolgte, wie der Dunst auf der Oberfläche immer dichter wurde, bis von meinem Gesicht nur noch sein Name zu erkennen war.

 

Im Haus war es unnatürlich ruhig, als ich zum Frühstück die Treppe hinunterstieg.

»Hallo?«, rief ich und fuhr mit beiden Händen das Geländer entlang. Im Esszimmer angekommen, fand ich es leer. Der Kronleuchter war entzündet, aber der Tisch völlig kahl. »Dustin?«, rief ich. Ich machte mich gerade auf den Weg durch den Flur, da vernahm ich aus der Küche ein gedämpftes Geräusch.

Ich stieß die Türen auf. Aus der Ecke des Raums tönte eine kratzige Reporterstimme. »Diese erschütternde Tragödie hat viele hier schwer getroffen.«

Neben der Speisekammer drängte sich das komplette Küchen- und Hauspersonal, darunter auch Dustin, der besonders düster dreinschaute. Vor ihnen war auf einem Hocker ein winziges Fernsehgerät aufgestellt. In die Kamera sprach ein Reporter im Anorak.

»Heute Morgen hat ein Fischer einen weiblichen Leichnam entdeckt, der auf einer kleinen Insel im Eriesee angespült wurde. Die Frau ist identifiziert worden als Annette LaBarge aus Vermont, Philosophielehrerin am Gottfried-Institut, einer Privatschule in Maine. Ein enger Vertrauter berichtet, Annette LaBarge sei schon seit einer Woche abgängig gewesen.«

Mir entfuhr ein entsetzter Laut, woraufhin sich das ganze Personal zu mir umdrehte.

Betäubt blickte ich zu Dustin neben der Spüle, der zu erschüttert war, um sich zu rühren.

»Das Opfer wurde am Strand gefunden. Ihr Mund war vollgestopft mit einer weißen Textilie, die die Behörden für Mull halten. Auch wenn die Todesursache noch unklar ist, deuten erste Polizeiberichte darauf hin, dass ihr Körper zahlreiche Blutergüsse und Kratzer aufwies, möglicherweise von Fingernägeln. Diese Berichte scheinen den Verdacht auf Fremdeinwirkung dringend nahezulegen.«

Ungläubig starrte ich auf den Bildschirm. Hinter dem Reporter erblickte ich eine wohlvertraute Szenerie. Einen Felsenstrand, die Küstenwache, dichtes Buschwerk im Hintergrund. Seitlich, neben einer mit Absperrband markierten Zone, lag ein rotes Ruderboot.

»Das ist unmöglich«, murmelte ich, aber in der Küche schien mich niemand zu hören.

»Das Boot, das auf der Insel zurückblieb, stammt aus einem Verleih nur wenige Kilometer von hier entfernt. Der dortige Angestellte hat angegeben, dass Annette LaBarge allein gewesen war, als sie es letzten Freitag anmietete. Die Behörden sind sich noch im Unklaren, wieso die Frau zur Insel gerudert ist. Verdächtige wurden bis jetzt keine genannt.«

Mull im Mund. Genauso waren meine Eltern gestorben, ihre Seelen ausgesaugt von den Untoten, denen sie auf der Spur gewesen waren. Das war das Gefährliche an den Untoten – manche von ihnen raubten wahllos Seelen, um wenigstens kurz einmal das Leben zu spüren, ein schneller, flüchtiger Kick. Miss LaBarge war ebenso Wächter gewesen wie meine Eltern. War auch sie bei einem Wächterunfall zu Tode gekommen? War es das, was ich in meinem Traum gesehen hatte?

»Bei der Insel, im Volksmund die Kleinschwesterinsel genannt, handelt es sich um ein winziges, unbewohntes Felseneiland, in dessen Umgebung in letzter Zeit eine erstaunliche Zahl unbekannter, auf dem Wasser treibender Objekte gesichtet worden sind. Handelt es sich um Seeungeheuer? Mythische Kreaturen? Oder gar etwas viel Schrecklicheres als die Monster aus der Regenbogenpresse?«

Die Kamera vollzog einen wackeligen Schwenk zu einem Küstenstreifen, wo zwei uniformierte Männer eine schwere Tragbahre in ein Wasserpolizeiboot verluden. »Das kann sie nicht sein«, flüsterte ich und suchte fieberhaft den Bildschirm ab, um zu begreifen, was ich da sah. Wie sollte ich das zusammenbringen, diesen Körper auf der Bahre und Miss LaBarge? Die Frau, die English-Breakfast-Tee und Nietzsche liebte; die einzige Stimme der Vernunft, wenn für mich nichts mehr Sinn ergab, und die einzige Lehrerin des Gottfried, die mir eine Freundin gewesen war?

»Das muss ein Irrtum sein«, sagte ich und wandte mich Dustin zu. »Ich meine, sind die sich überhaupt sicher, dass sie es ist?« Er antwortete nicht, also legte ich nach. »Vielleicht haben sie die falsche Person identifiziert. Das klingt alles überhaupt nicht nach ihr. Wächter arbeiten immer zu zweit. Miss LaBarge wäre nie alleine da rausgefahren.«

»Möglich«, sagte er vage, aber er blickte mir nicht in die Augen.

Die Kamera fuhr zurück zu den Ereignissen am Strand. Mir lief ein Schauer über den Rücken, als sie einen winzigen Augenblick lang auf dem Zickzackmuster der Fußabdrücke verweilte, das wie eine Botschaft in den steinigen Sand gekritzelt war.

Wir klebten weiter am Fernseher und warteten auf irgendeine Erklärung, doch es wurde nur ständig die gleiche Geschichte wiedergekäut, die schließlich in fast anstößiger Alltäglichkeit in eine Werbepause und dann ins Tagesprogramm überging. Hatte ich geträumt, was wirklich geschehen war? Hatte ich auf irgendeine Weise Miss LaBarges letzte Momente vorhergesehen?

»Schalten Sie das ab«, sagte ich, aber meine Stimme war so leise, dass niemand mich hörte. »Schalten Sie ab«, wiederholte ich. »Bitte.«

Als sich keiner rührte, stürzte ich nach vorn und drückte den Einschaltknopf. Wie vom Donner gerührt glotzte das Personal mich an. Dustin streckte die Hand nach meinem Arm aus, doch ich wich zurück.

An das, was dann passierte, erinnere ich mich nur bruchstückhaft. Dustins Gerüttel an der Bibliothekstür, hinter der ich mich verschanzt hatte. Das Staubgefühl an meinen Händen, als ich reihenweise philosophische Werke über Träume und Tod aus der Sammlung meines Großvaters aus den Regalen zerrte und um mich herum auftürmte. Der raue Teppich, auf dem ich zwischen ihnen zusammenbrach. Meine ohnmächtige Erschöpfung, in der es mir schien, als wären sie alle ein trauriges Überbleibsel der Menschen, die ich einmal gekannt hatte.

Dort blieb ich, bis es auf dem Flur still geworden war. Der Traum beherrschte meine Gedanken: die Miene meiner Lehrerin, als sie mich mit ihrer Taschenlampe angeleuchtet und »Sie?« gesagt hatte; wie mir die Wellen ins Gesicht geschwappt waren, als ich hinter ihrem Boot hergeschwommen war; die Kreaturen, die vor meinen Augen an das Ufer geklettert waren. Wäre ich nicht aufgewacht – was hätte ich getan? Was gesehen? »Nichts«, sagte ich laut. Ich war ein Wächter; ich konnte den Tod wittern, ihn aber nicht vorhersagen. Das konnte niemand. »Einfach nur ein böser Traum.« Aber ob ich mir das abnehmen sollte, wusste ich trotzdem nicht recht.

Dustin, der anscheinend noch immer vor der Bibliothek lauerte, fragte durch die Tür. »Renée? Geht es Ihnen gut? Machen Sie mir auf?«

Ich gab ihm keine Antwort.

»Alles kommt wieder in Ordnung, Renée«, sagte Dustin mit sanfter Stimme. »Es war ein Unfall. Ein Wächterunfall. Wahrscheinlich hat der Untote, den sie gejagt hat, sie getötet. So etwas kommt manchmal vor.«

Ich starrte auf das Licht, das unter der Tür hervorblitzte, aber regte mich nicht.

Dustin seufzte. »Also, ich bin da.«

Da bin ich auch, dachte ich, doch letzte Nacht war ich irgendwo ganz anders hingeraten. War es ein Unfall gewesen? In meinem Traum hatte es nicht so gewirkt, als jagte sie irgendwen. Es hatte gewirkt, als jagte ich sie.

Ich schloss die Tür nicht auf. Stattdessen setzte ich mich unter dem Fenster an die Wand und lauschte dem Regen, der an den Hausmauern hinabrann, bis der Schlaf mich einholte.

Als ich wieder aufwachte, hatte der Regen aufgehört; im Haus herrschte Stille. Ich rieb mir die Augen und stand auf, entriegelte die Tür und stolperte beinahe über Dustin, der draußen auf dem Flur saß und neben einem Tablett mit einer Teekanne, zwei Tassen und einem Teller mit Butterkeksen eingenickt war.

»Renée.« Er schüttelte sich, um wach zu werden. Dann richtete er sich mühsam auf und griff nach dem Tablett. »Ich dachte mir, Sie brauchen vielleicht etwas zum Aufwärmen«, meinte er und trug es in die Bibliothek.

In der winzigen Lücke, die neben mir noch frei war, nachdem ich mich wieder an meinen alten Platz gesetzt hatte, faltete er seine Beine zusammen und ließ sich zwischen den Bücherstapeln nieder. Dort richtete er seine Anzugjacke und lächelte mich betrübt an. »Da haben Sie sich aber ein gemütliches Fleckchen ausgesucht. Und eine schöne Auswahl in der Leseecke«, sagte er und wies auf einen Stapel Aristoteles. Der Stapel wurde zum Tisch, als er mir eine kalt gewordene Tasse Tee einschenkte. »Wissen Sie, während ihrer gemeinsamen Schulzeit kam Annette LaBarge jeden Sommer mit Ihrer Mutter hierher nach Hause«, erzählte er und blickte aus dem Fenster hinaus auf den nassen, grünen Rasen. »Sie war ein wunderbares Mädchen.«

»Es fühlt sich an, als ob alle um mich herum sterben«, murmelte ich.

»Das passiert, wenn man älter wird.«

»Aber ich bin nicht alt.«

»Sie sind ein Wächter. Das war ich früher auch, wissen Sie, und schauen Sie sich an, was aus mir geworden ist.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht lagerte er seine Knie um. »Für uns vergeht die Zeit anders. Das Leben, der Tod – manchmal scheint alles nur ein Traum.«

Seine Worte ließen mich erschauern. »Ein Traum?«

Dustin nickte.

Ich wollte ihm erzählen, was ich in meinem Traum gesehen hatte, ihn fragen, was das bedeutete. Er hätte mir versichern sollen, dass es nicht meine Schuld, dass es ein Zufall war. Aber ich schaffte es nicht. Was, wenn er es meinem Großvater sagte? Dann hätte ich nur noch mehr Probleme.

Ich musterte seine fleischigen Hände, die von Altersflecken gesprenkelte Haut. »Sie waren ein Wächter?«

»War ich.« Er beugte sich vor und nahm zwei Kekse vom Teller, von denen er mir einen anbot.

Ich wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht, wie ich’s anfangen soll.«

Dustin runzelte die Stirn. »Was anfangen?«

»Weiterzumachen.«

»Und trotzdem werden Sie es tun, ganz gleich, ob Sie das wissen oder nicht«, sagte er. »Wir haben gar keine andere Wahl.«

Dead Beautiful - Unendliche Sehnsucht: Roman
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