48.
León riss die Tür auf. Auch er hatte das wilde Bellen gehört. Es war klar, dass sie entdeckt worden waren. Versteck spielen machte keinen Sinn mehr, ab jetzt musste es schnell gehen. Kaum hatte er die Tür geöffnet, stolperte Mary ihm entgegen, gefolgt von Kathy, die die Tür zuwarf und sich dagegenpresste. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Der Lichtschein der Fackel in ihrer Hand zuckte über ihr vor Schreck verzerrtes Gesicht, warf Schatten auf die Wände und machte alles noch unheimlicher.
León wollte sofort losrennen, aber Kathy packte ihn am Ärmel seiner Jacke.
»Wenn du jetzt mit Mary da rausstürmst, finden sie dich früher oder später. Mary hat nicht genug Kraft. Sie wird dein Tempo nicht lange halten können.«
Er wusste, dass sie recht hatte. Er schaute sie fragend an, als Kathy hastig weitersprach: »Geht die Treppe hinauf, so weit nach oben, wie ihr könnt, und versteckt euch. Niemand hat mich gesehen. Wenn sie entdecken, dass Mary verschwunden ist, werden sie denken, sie hat sich befreit. Ich renne zum Ausgang und hinterlasse deutliche Spuren. Denen werden sie folgen. Nun macht schon! Viel Glück!«
Aus dem Raum hinter der geschlossenen Tür drangen Rufe und wild gebrüllte Befehle. Der verdammte Köter hatte sich mittlerweile in Rage gekläfft. Es blieb ihnen keine Zeit für lange Abschiedsworte. Mary, León und Kathy jagten die Treppen hinauf in Richtung Ausgang. Kathy hetzte vorneweg. Dank ihrer Fackel konnten sie sich schnell fortbewegen.
Sie hatten gerade einmal ein Stockwerk hinter sich gebracht, als León hörte, wie unten die Tür aufgerissen wurde und gegen die Wand krachte. Dumpfe Schreie drangen nach oben. Mary rannte vor ihm her. Er hörte ihren keuchenden Atem. Ganz vorn erreichte Kathy bereits den Ausgang. Sie riss die Tür auf und kalter Wind wehte herein. Es hatte aufgehört zu schneien und im Licht des Mondscheins funkelte die eisige Welt der verlassenen Großstadt.
León merkte, dass Mary etwas sagen wollte, aber Kathy wirbelte herum und flitzte in die Nacht hinaus. Aus den Augenwinkeln sah er noch Kathys Spuren im Schnee, als er nach Marys Hand fasste und sie mit sich zog. Kathys Fackelschein, der wie ein wandernder Stern auf und ab hüpfte, war eine deutliche Spur. Es konnte klappen. Doch sie durften keine Sekunde verlieren. So leise wie möglich schlichen Mary und er die Metalltreppe weiter hinauf. Um sie herum herrschte ohne Kathys Fackel vollkommene Dunkelheit. Unter ihnen nahm das Gepolter zu. Schreie. Überall Schreie, die von den Wänden zurückgeworfen und tausendfach verstärkt wurden. Es klang, als wäre ihnen eine Armee mit einer ganzen Meute blutrünstiger Jagdhunde auf den Fersen. León bedeutete Mary, stehen zu bleiben. Sie hatten zwei Treppenabsätze hinter sich gebracht, es musste reichen. Die Treppe führte nur zu weiteren Stockwerken und vielleicht aufs Dach. Eine Sackgasse.
Schwacher Lichtschein drang nach oben. León hörte das Quietschen der Tür. Stiefel trampelten.
Dann plötzlich Ruhe.
Kein einziges Geräusch.
Nicht einmal Marys Atem war zu hören.
León griff nach ihrer Hand. Er spürte die weiche Haut ihrer Finger, die Wärme, die sie ausstrahlten. Noch nie war er einem anderen Menschen so nahe gewesen. Das Gefühl verwirrte ihn.
Sie warteten.
Irgendwann sagte León leise: »Komm.«
Und sie schlichen in die Nacht hinaus.
Kathy rannte, wie sie noch nie gerannt war. Der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln und die Gebäude flogen wie Schatten an ihr vorbei. Zunächst lief sie die Hauptstraße entlang, damit ihre Verfolger ihr leichter nachkommen konnten, dann bog sie in eine dunkle Gasse ab. Dort steckte sie die brennende Fackel in den Schnee, die mit einem leisen Zischen ausging. Ihr reichte das bleiche Licht des Mondes, um sich zu orientieren.
Kathy jagte die schmale Straße hinunter. An der nächsten Ecke blieb sie stehen und schaute zurück. Ihr Atem kam stoßweiße in kleinen weißen Wolken. Von ihren Verfolgern war noch nichts zu sehen oder zu hören, aber sie konnte sich nicht sicher sein, dass sie allein war, denn die Männer kannten vielleicht Abkürzungen, von denen sie nichts ahnte.
Kathy blickte sich um. Es gab einige Häuser und Gebäude, in die sie flüchten könnte, aber sie alle standen einzeln und hatten keine Verbindung zueinander. Wenn sie einmal drin war, gab es keinen Weg mehr hinaus. Sie würde in der Falle sitzen. Anderseits konnte sie nicht mehr lange auf der Straße bleiben. Den Männern mochte sie vielleicht davonlaufen, nicht aber dem Hund, der vermutlich längst ihre Spur aufgenommen hatte.
Kathy lauschte in die Nacht. Kein Bellen, aber das musste nichts heißen. Sie atmete noch einmal tief ein und aus. Die beißende Kälte brannte wie Feuer in ihren Lungen, aber Kathy drängte alle Gedanken an Schmerz zurück. Sie rannte weiter. Vor ihrem inneren Auge sah sie Tians Sturz in die Schlucht. Der Augenblick seines Todes. Den sie bestimmt hatte.
Ich habe nie etwas für andere getan. Ich war mir immer selbst das Wichtigste. Und wohin hat es mich geführt? In eine eisige, beschissene Welt. Aber vielleicht ist das ja auch die gerechte Strafe. Mein ganzes Leben habe ich verpfuscht. Nicht erst hier, schon viel früher. Und die, die mich jetzt jagen, werden all das rächen.
Ihre Flucht führte sie nun über eine große Kreuzung. Hier war die Schneedecke dünner, stellenweise vom Wind sogar ganz abgetragen. Der Boden unter ihren Füßen war sehr rutschig. Kathy schlingerte gleich mehrmals, aber jedes Mal gelang es ihr, sich wieder zu fangen. Dann stolperte sie über eine im Boden versenkte Metallschiene. Ihr rechter Fuß verkantete sich. Für einen winzigen Augenblick lag ihr Körper fast waagerecht in der Luft, dann krachte Kathy mit voller Wucht auf den harten Untergrund. Die Luft wurde ihr aus der Lunge gepresst. Vor ihren Augen tanzten schwarze Flecken, die für einen Moment lang alles überdeckten.
Kathy war zum Glück noch bei Bewusstsein, aber alles tat ihr weh, besonders die rechte Hand, mit der sie versucht hatte, sich abzufangen. Ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er in zwei Teile zerschlagen. Die Schmerzen raubten ihr den Atem. Kathy jaulte auf, als sie versuchte, sich aufzurichten.
Du musst hoch. Hoch auf deine Beine. Lauf weiter. Sonst kriegen sie dich.
Sie wälzte sich auf ihre linke Körperseite und versuchte erneut, sich hochzustemmen. Dabei biss sie sich auf die Backe, sodass es blutete. Sie stemmte sich mit dem linken Arm vom Boden hoch, zog die Beine an, endlich hockte sie auf den Knien und befühlte ihre Gliedmaßen. Nichts gebrochen. Auch ihre rechte Hand schien nur geprellt zu sein. Der Schmerz pulsierte durch ihre rechte Körperhälfte. Doch egal, wie viele Schmerzen sie hatte, dafür war jetzt keine Zeit. Sie stützte sich mit der linken Hand ab und richtete sich langsam auf. Als sie endlich gekrümmt dastand, entwich ihr angehaltener Atem mit einem Keuchen.
Kathy fühlte in einer zur Gewohnheit gewordenen Geste nach dem Messer an ihrem Hosenbund.
Das Messer. Es ist weg!
Es musste ihr beim Sturz aus der Hand geglitten sein.
Verdammt, ohne das Messer war sie vollkommen wehrlos. Sie suchte fieberhaft den Boden ab, doch im blassen Lichtschein waren nur Schatten auszumachen.
Ich muss weiter. Keine Zeit, das Messer zu suchen. Aber ich brauche es doch, wie soll ich mich sonst verteidigen?
Da zerriss plötzlich das Bellen eines Hundes die klare Luft. Es klang sehr nah. Das Biest würde jeden Augenblick um die Ecke jagen.
Sie brauchte das Messer. Und zwar sofort.
Ihr Blick blieb an etwas Glänzendem im Schnee hängen.
Sie ging einen Schritt darauf zu.
Da flog ein Schatten heran.
León sah Kathys Abdrücke deutlich im Schnee. Das fast neue Profil ihrer Stiefel unterschied sich deutlich von den glatten Sohlen ihrer Verfolger. Kathy war geradeaus, die Hauptstraße entlanggerannt, ihre Verfolger schnurstracks hinterher.
Im Schnee waren auch Pfotenabdrücke zu sehen. Verdammt, Kathy hatte keine Chance. Dieser Verfolger ließ sich nicht täuschen, nicht abschütteln.
Viel Glück, dachte er und sah zum Himmel. Der Stern lag in derselben Richtung, in die Kathy geflohen war, aber es war zu gefährlich, ihm auf direktem Weg zu folgen. Ihre Jäger konnten jederzeit umkehren, dann würden sie ihnen direkt in die Arme laufen. Er zog Mary mit sich in eine Seitenstraße, die nach zweihundert Metern in eine Parallelstraße zur Hauptstraße mündete. Dort bog er rechtwinklig ab.
Neben ihm stapfte Mary stumm durch den Schnee. Sie hatte noch kein Wort gesagt, hatte wie immer alles schweigend über sich ergehen lassen. Sicherlich war sie in Gedanken wie er bei Kathy, die um ihr Leben rannte, um sie zu retten. León hatte die Rothaarige nicht ausstehen können, aber er war ihr dankbar. Auch wenn er nicht verstand, warum sie all das für Mary und ihn tat.
Ist schon seltsam, erst versucht sie, Mary umzubringen, jetzt setzt sie ihr Leben für sie aufs Spiel.
Für ihn zählte allein, dass Mary frei war und neben ihm in Richtung der Tore ging. Er spürte ihre Hand in seiner. Es war ein ungewohntes Gefühl, das seinen Arm hinaufkroch, es fühlte sich richtig an. So als wäre ihre Hand schon immer dort gewesen.
León dachte nicht weiter darüber nach, warum Marys Berührung diese Wirkung auf ihn hatte. Er hatte das nächste Ziel vor Augen. Die Nacht war klar und der Schnee knirschte unter ihren Stiefeln, er war unendlich müde, und doch hätte er ewig so weitergehen können. Endlich spürte er so etwas wie Frieden in sich. Ein ganz und gar unbekanntes Gefühl. Er wusste, dieses Gefühl war trügerisch, denn sie beide schwebten noch immer in Gefahr, aber der Moment war alles, was zählte. Doch plötzlich entzog Mary ihm seine Hand. Erstaunt blickte er zu ihr hinüber. Sie hatte ihren herausfordernden Gesichtsausdruck aufgelegt, den, bevor sie wütend wurde.
»Warum hat Kathy das getan?«
Er blieb stehen, sah sie an, doch ihr Gesicht blieb im Schatten des Mondlichts verborgen. »Ich weiß nicht. Ist das wichtig? Sie hat es einfach getan, mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Für mich ist es schon wichtig. Ich will ihr nichts schuldig sein.«
Innerlich kochte Wut in León hoch. Wieso konnte es nicht ein einziges Mal einfach sein? »Kathy opfert ihr Leben für deins.«
»Ich hab sie nicht darum gebeten.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«
Mary hob neben ihm leicht den Kopf, doch er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Vor nicht einmal vierundzwanzig Stunden hat sie versucht, mich umzubringen. Sie hat Tian getötet. Soll ich das alles vergessen?«
»Nein, aber anerkennen, was sie getan hat.«
»Das fällt mir schwer.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah ihm fest in die Augen. »Aber ich danke dir, dass du gekommen bist, um mich zu retten. Warum tust du das immer wieder?«
León wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Verlegen wich er ihrem Blick aus.
Wie kann ich erklären, was ich selbst nicht verstehe? Ich…
»Hab ich was Falsches gesagt? Keine Sorge, ich werde dich schon nicht vor lauter Dankbarkeit küssen. Das passt nicht zu uns beiden, aber ich danke dir. Von Herzen.«
Die Worte schnitten wie ein Messer in seine Seele. Er wusste nicht, woher dieser Schmerz kam, und konnte sich nicht erklären, warum ihn Marys Worte so enttäuschten. Warum er sie gerettet hatte. Ja, warum?
Es war ihm sofort klar gewesen, dass er es tun musste. Nach dem Warum hatte er nicht gefragt. Er hatte sich eingeredet, dass Mary ihre Hoffnung auf ihn setzte und dass er diese Hoffnung nicht enttäuschen wollte. Aber jetzt fühlte er, dass er sich getäuscht hatte. Mary würde ihm nie auf Augenhöhe begegnen und immer noch empfand sie anscheinend höchstens Abscheu für ihn. Sie hatte es ihm in der Ebene offen genug gezeigt und ihn ihre Verachtung spüren lassen. Wie hatte er nur so dumm sein können zu glauben, dass sich etwas ändern würde?
Du bist ein Idiot!, beschimpfte er sich stumm. Du warst schon immer allein und du wirst es auch bleiben. Sieh dich doch an mit all diesen Tätowierungen, wer könnte sich in jemanden wie dich verlieben. Respekt, ja, den kannst du dir verdienen. Furcht bekommst du kostenlos obendrauf, aber du bist kein Jeb oder Mischa, nicht einmal ein Tian. Die anderen werden immer Distanz zu dir halten, weil du anders bist. Ein wildes Tier in Menschengestalt. Jemand, den man immer dann braucht, wenn es ums Kämpfen geht, aber alles andere – nein. Das nicht.
»Was ist mit dir?«, fragte Mary.
León riss sich zusammen. Sie sollte ihm die Enttäuschung nicht anmerken. »Nichts. Es ist nichts.«
»Du wirkst plötzlich… irgendwie zornig.«
»Ach was«, wiegelte er ab und versuchte, seine verkrampften Kiefermuskeln zu lockern. »Komm, wir sollten uns beeilen.«
»Habe ich was Falsches gesagt?«
Nein, nur die Wahrheit. Aber jetzt ist wieder alles zwischen uns klar.
Er machte schweigend Schritt um Schritt, nichts anderes zählte mehr. Der Schnee unter seinen Stiefeln funkelte im Mondlicht, aber die Welt erschien ihm noch düsterer als zuvor.