25.

Der Morgen zog herauf, aber es dauerte eine Weile, bis sein Licht in die Höhle drang und die Gruppe weckte. Noch war es kühl, aber schon jetzt war die drückende Hitze des Tages zu spüren. Die Sonne schien, sodass sie sich keine Gedanken um ihre Verfolger machen mussten.

Zum Glück hatten sie eine ruhige Nacht hinter sich, denn heute war der entscheidende Tag. Heute würden sie diese Welt verlassen. Obwohl sie noch müde und erschlagen waren, erfasste sie die Unruhe der kommenden Stunden.

Würden sie die Tore finden?

Sie durchschreiten?

Was erwartete sie dort?

Niemand sprach ein Wort. Sie rafften stumm ihre Sachen zusammen und stopften sie in die Rucksäcke. Das Feuer war erloschen, aber der Geruch kalter Asche lag noch in der Luft.

Mischa verließ als Erster die Höhle. Am Eingang blieb er stehen und sah zum Himmel. Deutlich sichtbar und scheinbar nah funkelte der Stern.

»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte er zu León, der hinter ihm auftauchte und ebenfalls den Stern suchte. »Was denkst du?«

»Der Stern führt uns direkt in die Berge – der Aufstieg wird ganz schön anstrengend werden.«

»Glaubst du, die Tore sind da oben?«

León zuckte mit den Schultern. »Ist eigentlich egal. Wenn es stimmt, was auf dem Zettel steht, werden die meisten von uns auf dieser Reise sterben, wenn es nicht stimmt, sind wir erst recht am Arsch.«

»Stimmt schon, aber immerhin machen die Portale ein wenig Hoffnung«, beharrte Mischa.

»Ja, denjenigen, die daran glauben wollen.«

»Und du? Was glaubst du?«

»Nichts. Vielleicht sind die Tore da, vielleicht auch nicht. Ich werde es herausfinden. Einfach nur herumsitzen und auf das Ende zu warten, liegt mir nicht. Lieber kämpfe ich.«

»Könntest du es? Ich meine, gegen uns um die Tore kämpfen, wenn es dazu käme?« Er schaute León von der Seite an.

León blickte ihm in die blauen Augen. »Es wird nicht dazu kommen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben wir schon zwei von uns verloren. Es wird also auch in einer angeblichen nächsten Welt keinen Streit um die Tore geben.«

Warum beruhigt mich das nicht?, dachte Mischa. Und warum spricht León diese Tatsache so aus, als wäre es ein großes Glück für uns alle?

Er fühlte sich von León abgestoßen und angezogen zugleich. In seiner Nähe war er wie elektrisiert. Warum er so empfand, wusste er nicht, aber es zog ihn immer wieder zu diesem merkwürdigen Jungen mit seinen noch seltsameren Tätowierungen, die ihn gleichzeitig hässlich und schön machten. Nicht zum ersten Mal schaute sich Mischa die Bilder auf Leóns Körper und Gesicht genau an.

Er sah die Rauten und Muster, die einen großen Teil der Haut bedeckten. Aber vor allem die Totenschädel, Fratzen und Verzierungen wirkten besonders bedrohlich – und faszinierend. Ebenso merkwürdig waren die Schriftzeichen, die Mischa nicht lesen konnte. Niemand konnte sie lesen, das hatten sie schon herausgefunden, selbst León nicht. Auf seiner Stirn standen zwei geschwungene Buchstaben, die mit zwei Zahlen ein ineinander verschlungenes Bild ergaben. Der erste Buchstabe erinnerte an ein Dach, das von drei Säulen getragen wurde. Daneben wand sich der zweite Buchstabe wie eine Schlange, die wiederum in die Zahlen überging. Mischa sagten sie überhaupt nichts.

Irgendwie spürte er, dass diese wenigen Zeichen auf der reichlich geschmückten Haut des Jungen die Lösung zu einem Rätsel waren, aber welches Rätsel konnte das sein? Hatte es etwas mit ihnen und dem Labyrinth zu tun? Lag darin eine verborgene Botschaft? Und Mischa hatte entdeckt, dass er solche Rätsel liebte. Zahlen waren für ihn fast einfacher zu verstehen als Menschen. Ständig wirbelten sie in seinem Kopf herum. Kamen und gingen, blinkten wie Leuchtfeuer aus einem anderen Leben. León war der einzige Tätowierte in ihrer Gruppe. Niemand außer ihm hatte Zeichen auf dem Körper, er musste etwas Besonderes sein. Denn hatte bisher nicht alles seinen Grund? Sie alle, Jeb und Jenna eingeschlossen, kannten die Worte, die andere aussprachen. Sie verstanden einander, obwohl sie sich äußerlich zum Teil sehr unterschieden. Tians Augen waren geschlitzt und sein Haar schimmerte teilweise in einem blauen Farbton, der nicht natürlich wirkte. León hatte gar keine Haare, dafür aber diese Tätowierungen. Es gab vieles, was sie voneinander trennte, aber noch mehr verband sie miteinander. Sie waren alle ungefähr gleich alt. Aus seinen Träumen und den Bildern, die ihm sein Geist vorspielte, wusste er, dass es ältere und jüngere Menschen gab. Warum waren sie also alle im gleichen Alter? Kannten sie sich vielleicht von früher und konnten sich auch daran nicht erinnern?

Das alles ergab keinen Sinn.

Warum sollten sie durch Welten hetzen, Gefahren bestehen, Hindernisse überwinden, wenn am Ende doch nur der Tod auf sie wartete?

Purer Überlebenswille treibt uns an. Wir können nicht anders als kämpfen. Um jeden Zentimeter Boden, um die Tore, um die Möglichkeit, einen weiteren Tag zu erleben.

»Worüber denkst du nach?«, fragte León. Hinter ihnen traten die anderen aus der Höhle und blinzelten ins helle Sonnenlicht.

»Nichts.« Mischa machte den ersten Schritt. »Los, gehen wir, es liegt noch ein weiter Weg vor uns.«

Jenna erwachte mit dem Gefühl, beobachtet zu werden, doch als sie die Augen öffnete und sich umsah, war niemand zu entdecken. Was nicht heißen musste, dass da nichts war. Die Einheimischen dieser Welt bewegten sich nahezu geräuschlos, tauchten auf und verschwanden wie Gespenster. Sie seufzte leise.

Neben ihr schlief Jeb. Jenna betrachtete ihn liebevoll, dann löste sie sich aus seiner Umarmung, in der sie die Nacht verbracht hatte. Sie stand auf und versuchte vorsichtig, den verletzten Fuß zu belasten. Ein brennender Schmerz durchzuckte ihr Bein. Nein, es würde noch dauern, bis sie den Fuß wieder benutzen konnte. Jeb würde sie einen weiteren Tag tragen müssen. Sie fluchte innerlich, aber es half nichts. Er würde sie nicht zurücklassen, sosehr sie ihn auch anbettelte. Jeb war stur und sie war ihm dankbar dafür.

Er regte sich neben ihr am Boden. Sie sah, wie er die Lider aufschlug und zu ihr aufblickte.

»Und?«, fragte er und gähnte herzhaft.

»Schon etwas besser, aber laufen kann ich noch nicht.«

»Das wird schon«, lächelte er. »Wahrscheinlich wäre mir sonst mein Rücken ganz leer vorgekommen.«

Jenna konnte nicht anders und strahlte zurück. Dabei wusste sie, dass seine Muskeln von der Anstrengung des vergangenen Tages total verkrampft sein und schmerzen mussten. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er Qualen litt, wenn er sie heute wieder durch den Wald schleppte, aber er ließ sich nichts anmerken. Zwar erhob er sich etwas steif, aber dann kehrte seine alte Geschmeidigkeit zurück, als er sich streckte und seine Muskeln dehnte.

»Haben wir noch etwas zu essen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wasser?«

»Hier.« Sie hüpfte auf einem Fuß zum Rucksack, bückte sich und zog die Flasche heraus. Er trank mit großen Schlucken.

»Wir sollten aufbrechen.« Jeb sah zu den Wipfeln der Bäume auf, die einzelne Sonnenstrahlen durchließen. »Die Sonne steht schon ganz schön hoch. Es wird Zeit.«

Jenna packte alles ein. Schlafsäcke, Jacken und die Wasserflaschen.

Jeb ließ sich mit den Knien auf den Boden sinken. »Mylady, wenn Ihr so weit seid.«

Jenna warf sich den Rucksack über die Schultern und kletterte auf seinen Rücken. Mit einem Ächzen erhob sich Jeb.

»Hast du letzte Nacht zugenommen?«, fragte er lachend.

Jenna lächelte und antwortete dann: »Nein, das sind wahrscheinlich nur unsere reichhaltigen Vorräte im Rucksack.«

»Na, dann mal los! Wir müssen aus dem Wald raus und uns orientieren. Wenn alles klappt, finden wir auch die Tore.«

»Ja, wenn…«, wiederholte Jenna. »Dir ist schon klar, dass wir uns wahrscheinlich total verlaufen haben.«

»Ich glaube, die Eingeborenen wussten genau, wohin wir wollen. Ich wette mit dir, es ist nicht mehr weit.«

Jeb setzte sich in Bewegung und Jenna wusste vor lauter Gedanken in ihrem Kopf nichts zu sagen.

»Wenn du möchtest…«, durchbrach Jeb ihr Schweigen.

»Was?«

»...kannst du ein Lied singen«, schlug Jeb vor.

Sie kicherte, dann gab sie ihm einen Klaps auf die Schulter. »Vielleicht sollte ich das tun. Ich bin mir sicher, ein Lied reicht und du lässt mich freiwillig zurück.«

»Das heißt, du kannst nicht singen?«

»Nicht einmal dann, wenn mein Leben davon abhängt.«

Jeb grinste. »Gut, dann erzähl mir eine Geschichte.«

»Was denn für eine Geschichte? Schon vergessen, ich erinnere mich an nichts.«

»Dann erzähl mir noch einmal, woran du dich erinnern kannst.«

Jenna holte Luft, dann begann sie mit leiser Stimme zu sprechen.

Sie waren nicht weit gekommen, als Jenna plötzlich einen Schrei ausstieß. Jeb zuckte erschrocken zusammen und hätte sie beinahe fallen lassen. Er hob den Kopf und suchte die Gefahr, vor der ihn Jenna offensichtlich warnen wollte.

»Sieh mal da vorn!«, rief Jenna.

»Was ist denn? Ist da jemand?«, keuchte er atemlos. »Ich sehe nichts.«

»Nein, schau doch.« Ihre Hand erschien in seinem Blickfeld und deutete auf eine Gruppe unscheinbarer Büsche. »Ich glaube, da liegt ein Rucksack.«

Mühsam stolperte Jeb darauf zu. Tatsächlich, zwischen all dem Grün lag ein Rucksack, der seinem eigenen bis ins Detail glich. Er ließ Jenna von seinem Rücken gleiten und bückte sich danach. Mit zitternden Fingern öffnete er ihn, wühlte darin herum. Was er fand, erstaunte ihn nicht, aber was er nicht fand, versetzte ihm einen Schrecken.

Ich muss mich täuschen.

Es kann nicht sein.

Jeb stülpte den Rucksack um und schüttelte den Inhalt auf den Boden.

Vor ihm lagen unangetastete Lebensmittelrationen und ein Schlafsack. Die gleichen, die er auch in seinem Rucksack gefunden hatte.

Aber keine Wasserflasche. Keine Kleidung.

Dafür ein Paar unbenutzter Socken.

Jeb nahm sie in die Hand.

Er blickte auf, sah Jenna direkt in die Augen.

»Das ist Leóns Rucksack. León hat keine Socken getragen, als wir ihm begegnet sind, erinnerst du dich?«

Jenna erbleichte. »Das kann nicht sein. Er hat ihn auf der Ebene verloren, zwei Tagesmärsche von hier entfernt.«

Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Etwas stimmt hier ganz und gar nicht.« Jeb seufzte. »Ich versteh das einfach nicht. Wie kommt der Rucksack hierher? Jenna, was ist hier los?«

Jenna hatte sich niedergelassen und packte den Proviant in ihren Rucksack. Dann richtete sie sich mühsam wieder auf.

»Ich weiß es nicht, Jeb. Ich weiß es doch auch nicht. Was passiert nur mit uns?«

Schweigend ging Jeb in die Hocke. Jenna legte ihm die Arme um den Hals und zog sich hoch. Dann gingen sie weiter.

Neben seinem Ohr flüsterte Jenna: »Für den Moment rettet uns dieser Fund das Leben. Aber ich fürchte, das müssen wir später teuer bezahlen.«