31.
Jennas Mund war trocken. Trockener als er ohnehin schon war, sie hatte seit Stunden keinen Schluck Wasser mehr getrunken. Sie war verwirrt, konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Ihr Kopf war wie leer gefegt.
Tian war tot.
Wie konnte das sein? Warum war das Seil gerissen? Jenna spürte, wie eine Träne ihre Wange hinunterlief.
Neben ihr stöhnte Mischa leise auf. »Sie kommen«, sagte er kaum hörbar.
Jenna hob den Blick. Die andere Seite der Schlucht flirrte im trüben Licht. Sie entdeckte Gestalten, die nach allen Seiten ausschwärmten und das Plateau absuchten. Doch dann sah sie noch etwas. Etwas, das nicht sein konnte, nicht sein durfte.
Eine der Gestalten richtete sich auf und blickte zu ihr herüber. Langes, blondes und verdrecktes Haar bewegte sich im Wind, umschloss ein schmales, ausdrucksloses Gesicht.
Jenna blieb stumm, aber innerlich schrie alles in ihr, als sie das Mädchen erkannte, das sie von der anderen Seite der Schlucht unverwandt anstarrte. Mit zitternden Fingern deutete Jenna auf die andere Seite der Schlucht und wich verängstigt zurück. Jeb folgte ihrem Blick und zuckte zusammen. Jenna hörte León leise neben sich fluchen – sie bildete sich das also nicht nur alles ein.
Das andere Mädchen sah blass aus, irgendwie leblos. Doch es gab keinen Zweifel: Dieses Mädchen sah aus wie sie, Jenna. Wie ein blasses Spiegelbild ihrer selbst bewegte sie sich auf den Abgrund zu. Ihr Gesicht zeigte keinen Ausdruck, nicht mal eine besondere Entschlossenheit, als sie sich nach dem Seil bückte, das drüben noch immer am Fels befestigt war. Sie zog ein paar Mal daran, dann kletterte sie mit schnellen Griffen am Seil hinab in die Tiefe.
Jenna schreckte abrupt zusammen, als Jeb sie an der Schulter rüttelte. »Wir müssen hier verschwinden!«, sagte er heiser.
Wie betäubt wandte sich Jenna vom Abgrund ab und sah ihn an. Mischa, Mary, Kathy und León standen bereits einige Meter weiter entfernt, direkt vor den immer stärker pulsierenden Toren.
Jenna zögerte. Sie wollte diesem Mädchen nicht begegnen und trotzdem konnte sie sie nicht einfach so zurücklassen.
Wer war sie? Warum sah sie ihr so ähnlich?
Widerwillig ließ Jenna sich von Jeb mitziehen. Ihr Geist war wie betäubt. Erst als sie sah, dass León direkt auf eines der Tore zusteuerte, kam sie wieder zu Sinnen.
Sie waren in großer Gefahr! Sie mussten weiter, egal, was sie auf der anderen Seite erwartete, egal, ob diese Tore Rettung oder noch größere Gefahr bedeuteten. Nein, sie wollte nicht herausfinden, wer dieses Mädchen war, das in diesem Moment das Seil hinabkletterte.
Die anderen hatten sich inzwischen vor den Toren aufgebaut und starrten auf das immer hektischer werdende Pulsieren.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Mischa. »Einfach so durchgehen? Ich trau den Dingern nicht.«
León griff nach Tians Rucksack und warf ihn durch den blinkenden Ring. Aber was immer sie erwartet hatten, sie wurden enttäuscht. Es gab keinen Energieblitz, kein Knallen oder sonst etwas, das gezeigt hätte, dass hier unbekannte Kräfte am Werk waren. Ernüchternd simpel plumpste der Rucksack auf der anderen Seite zu Boden.
»Wie funktionieren die Dinger überhaupt?«, fragte Mischa.
»Vielleicht reagieren sie nur bei etwas Lebendigem«, wandte Mary ein.
»Möglich«, sagte León. Er streckte seine rechte Hand aus. Das durchsichtige Energiefeld innerhalb des Tores warf bei seiner Berührung Wellen auf, die zum Rand strebten. Es war, als hätte man einen Stein in einen See geworfen, und ebenso wie der Stein verschwand auch Leóns Hand unter der spiegelnden Oberfläche. Kurz darauf zog er sie zurück und alles war wie vorher. Der Ring pulsierte und das Energiefeld wurde wieder unsichtbar. León hielt seine Hand dicht vor die Augen.
»Merkwürdig«, murmelte er.
»Was?«, fragte Mary.
»Es war ein komisches Gefühl, die Hand da durchzustecken, aber noch komischer war die Tatsache, dass es auf der anderen Seite kalt war. Fass mal meine Hand an«, forderte er Mary auf.
Mary berührte seine Finger. »Tatsächlich. Eiskalt. Wie kann das sein?«
Niemand hatte eine Antwort.
»Und jetzt?«, fragte Jenna in die ratlose Gruppe.
León sah sie an. »Das, was uns aufgetragen ist. Wir gehen durch die Tore.«
In einer einzigen schnellen und fließenden Bewegung drehte er sich um, sprang in das Portal…
…und war verschwunden. Ebenso das Tor, das er durchschritten hatte.
Wie die anderen starrte Jenna verblüfft auf die Stelle, an der eben noch das Portal gestanden hatte. Nun begannen die restlichen fünf Tore, unruhig zu flackern. Die Zeit wurde knapp. Jenna trat vor eines der Tore. Mischa, Jeb, Kathy und Mary ebenfalls.
Jenna holte tief Luft, dann schloss sie die Augen und machte einen großen Schritt…
…in eine andere Welt.