38.

Die beiden machten sie wahnsinnig. Die eine zart und beschützenswert, die andere so treu und lieb wie ein dressierter Pudel. So eine Niederlage hatte Kathy sich noch nie eingestehen müssen – in Sachen Männer hatte sie sich bisher immer jeden nehmen können, den sie haben wollte. Wie reife Früchte waren ihr die Freunde ihrer Schwester oder ihrer Freundinnen vor die Füße gerollt. Sie hatte sie nur aufheben müssen, um sich mächtig und begehrenswert zu fühlen.

Jenna und Jeb waren seit ihrer Extratour auf der Ebene nicht mehr auseinanderzukriegen. Aber nicht wegen Jenna, sondern wegen Jebs unberechenbarem Temperament war es Kathy zu gefährlich, sich noch einmal an ihn ranzumachen. Tatsächlich hätte sie inzwischen große Lust, gegen Jeb um eines der Tore zu kämpfen. Sein Blick, wenn sie dann als Überraschung das Messer aus ihrem Hemdsaum ziehen würde…!

Kathy verzog ihre Lippen zu einem breiten Grinsen und konnte ein lautes Lachen, das in ihrer Kehle gurgelte, gerade noch unterdrücken.

Wenn nur die kleine Schlampe Mary ihren Mund hält.

Bisher hatte sie sich als verängstigt genug erwiesen, aber wer wusste schon, was in diesem zuckersüßen Köpfchen vorging?

Natürlich hatte Kathy längst bemerkt, dass Mary Leóns Nähe suchte. Machte einen auf sensibles, süßes Ding – und er hatte nichts Besseres zu tun, als ihr auch noch seine starke Schulter anzubieten. Kathy schnaubte laut auf. Zum Glück schliefen alle tief und fest, das Geräusch hatte keinen geweckt.

Nein, Kathy wollte sich um keinen Preis eingestehen, dass ausgerechnet die schwache Mary den unnahbaren León geknackt hatte. Und dass sie ihr sicheres Los um eines der nächsten Tore aufgeben musste.

Aber nicht, wenn ich dabei etwas mitzureden habe.

Vor ihr stand der Hund. Unheilvoll fixierte sein Blick jede ihrer Bewegungen. Mary begann, vor Angst zu zittern. Ein finsteres Knurren kam aus der Kehle des Tieres. Sie schaute sich um, entdeckte den Mann, dem der Hund gehörte, sah sein gieriges Grinsen.

Ich träume, dachte sie. Es ist nur ein Traum. Gleich werde ich aufwachen, dann ist alles gut. Ich bin in Sicherheit, mir kann…

Mit einem mächtigen Satz schoss der Hund vor, sprang sie an und biss sie in die Kehle. Schmerzen tobten durch ihren Hals, sie bekam keine Luft. Das schwere Gewicht des Hundes lastete auf ihr. Sie konnte sich nicht bewegen. Ihre Hände waren festgeklemmt.

Ich ersticke.

Aber kein Laut verließ ihren Mund. Der Druck um ihre Kehle nahm zu. Verzweifelt versuchte sie, Luft in ihre Lunge zu bekommen. Feuer brannte in ihrem Hals.

Sie erwachte von ihrem eigenen Röcheln und schlug die Augen auf. Zunächst war alles schemenhaft. Grau, Schwarz, Dunkel. Noch immer bekam sie keine Luft. Dann blitzten Augen im Lichtschein des Feuers auf. Grüne Augen. Nicht die gelben Augen des Hundes.

Kathy.

Sie saß auf ihrer Brust und würgte sie. Kathy war drauf und dran, sie – die einzige Zeugin ihres Mordes an Tian – zu töten. Sie war wahnsinnig. Komplett verrückt. Mary keuchte, versuchte, sich zu wehren, während es in ihr fieberhaft arbeitete.

Wie will sie den anderen meinen Tod erklären?

Doch jeder weitere Gedanke war unmöglich. Sie rang nach Atem. Panik überschwemmte Mary. Kathy abwerfen, irgendwie ihre Hände freibekommen, alles unmöglich, sie hatte keine Chance. Die Kräfte ließen nach. Rote Flecken tanzten vor ihren Augen. Während sie in die Schwärze glitt, begleitete sie Kathys Stimme.

»Stirb, du Miststück!«

Dann plötzlich lockerte sich der Griff um ihre Kehle. Kathy strampelte heftig mit den Beinen, Mary bekam einige Tritte ab. Sie konnte die Augen nicht aufschlagen, tiefe Schwärze hüllte sie ein.

Jetzt vernahm sie auch andere Stimmen. Mischa sagte etwas, Jenna schrie auf.

»Packt sie!«, keuchte León. »Haltet ihre Beine fest!«

Sie wollte etwas sagen, doch ihre Stimme versagte. Sie konzentrierte sich auf ihren Atem, während neben ihr das Handgemenge kein Ende nehmen wollte. Mischa gab Befehle und schließlich wurde es ruhig neben ihr.

»Verdammte Scheiße, Kathy! Was soll das?«, brüllte León und er klang vollkommen aufgelöst.

Jeb hatte die Schreie aus dem unteren Stockwerk gehört und rannte die Treppe hinunter. »Was ist hier los?«

»Keine Ahnung«, rief León. »Ich bin aufgewacht und sehe, wie Kathy versucht, Mary zu erwürgen.«

Jeb bückte sich zu Mary hinunter, die mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag und nach Luft rang. Ihr Brustkorb hob und senkte sich hektisch und ein keuchendes Rasseln erklang bei jedem Atemzug.

»Mary? Hörst du mich?« Er fasste nach ihrem Arm, aber sie reagierte nicht, keuchte nur weiter.

»Mary, was ist passiert? Kannst du mir sagen, was los ist?«

Sie schlug die Augen auf. Ihre Lider zitterten. »Sie hat Tian umgebracht«, krächzte sie rau.

Stille legte sich über den Raum.

»Tian ist abgestürzt«, sagte Jeb schließlich ruhig. »Das Seil ist gerissen.«

»Nein«, widersprach Mary mit rauer Stimme. »Sie hat es durchgeschnitten. Kathy hat ein Messer, hat es die ganze Zeit gehabt. Ich habe es gesehen.«

Jeb erhob sich, drohend blickte er auf Kathy herab. »Ist das wahr?«

Kathy starrte ihn nur verächtlich an.

»Durchsucht sie und lasst sie dann los!«

Kathy leistete keinen Widerstand. Kurz darauf zog León das Messer hervor, das sie in ihrem Hemd versteckt hatte. Nur zögernd gaben sie Kathy frei, die sich sofort aufrichtete und sie wütend anfunkelte.

»Du hast ein Messer«, stellte Jeb fest. »Und hast uns nichts davon gesagt.«

»Na und?«, antwortete Kathy zischend.

Jeb sah sie eindringlich an. »Hast du Tian getötet?«

Ihr Gesicht verzog sich hasserfüllt. »Er wäre so oder so gestorben. Dieser verdammte Schwächling hätte niemals das letzte Tor erreicht.«

Es war ausgesprochen. Einer von ihnen hatte ein anderes Gruppenmitglied ermordet. Das Unfassbare war geschehen. Gewalt und Tod drohten nicht mehr nur von außen. Dass jemand in ihrer Gruppe zu so etwas imstande war, hatte Jeb nicht für möglich gehalten.

»Es war nicht deine Entscheidung, ob Tian lebt oder stirbt«, sagte Jeb. Er konnte sich nur mühsam zurückhalten, Kathy nicht mit der Faust ins Gesicht zu schlagen. »Er hatte wie wir alle eine faire Chance verdient.«

»Eine Chance?«, lachte Kathy höhnisch. »Ihr solltet mir dankbar sein. Niemand musste um ein freies Tor losen.«

»Du bist eine Mörderin«, stellte Jenna erstaunt fest, als könne sie es immer noch nicht glauben.

Kathy lachte heiser. »Ihr hättet mal die Erleichterung in euren Augen sehen sollen, als Tian abgestürzt ist.« Sie warf ihr Haar über die Schulter, das braune Band blitzte hervor. »Ja, ihr habt zwar geflennt, aber seid doch mal ehrlich, ihr wart dankbar, dass es euch nicht mehr treffen konnte. Und du, Jenna? Sei lieber vorsichtig. Jeder von uns weiß, dass du das erste Opfer gewesen wärst, und wenn dich Jeb nicht in einem rührseligen Anflug von Sentimentalität bis zu den Toren geschleppt hätte, wärst du schon in der Steppe draufgegangen. Futter für diejenigen, die uns sterben sehen wollen. Du hast Glück gehabt, Tian eben nicht. Vor den Toren waren wir einer zu viel, ich habe dieses Problem für uns alle gelöst.«

»Und Mary?«, stieß Jenna zwischen den Zähnen hervor.

»Die kleine Schlampe hätte es eh nicht mehr lange gemacht.« Sie deutete auf Mary. »Schaut sie euch doch an. Verwöhntes Miststück!«

Der Schlag kam so schnell, dass die Bewegung nicht abzusehen war. Unvermittelt wurde Kathy zu Boden geworfen. León beugte sich über sie. »Halt dein Maul!«, zischte er gefährlich leise.

Jeb legte eine Hand auf seine Schulter. »Lass gut sein.«

León sah Kathy mit einem Blick an, der Jeb frösteln ließ. In diesen dunklen Augen tobte blanke Mordlust.

Betont ruhig sagte er: »Zieht ihr die Jacke aus, damit wir sie fesseln können, bis wir beschlossen haben, was wir mit ihr machen sollen.«

Kathy schwieg und ließ alles widerstandslos mit sich geschehen. Jeb schnitt die Riemen von Kathys Rucksack.

»Dreh dich um«, befahl er. »Hände auf den Rücken.«

Nachdem er ihre Hände und Füße gefesselt hatte, richtete er sie auf, sodass sie kniend mitverfolgen konnte, was nun kam.

»Setzt euch.« Die anderen gehorchten nur zögerlich seiner Aufforderung.

»Was soll das werden?«, tönte Kathy jetzt. »Eine Gerichtsverhandlung?«

Jeb zog ihr das Haarband von der Stirn und knebelte sie, sodass sie nur noch dumpfe Laute hervorstoßen konnte.

»Also, was machen wir mit ihr?«, fragte er in die Runde.

»Wir töten sie«, sagte León, ohne zu zögern. »Sie hat Tian umgebracht und nichts anderes verdient.«

Die anderen schwiegen erschrocken. Dann meinte Mischa: »Das würde auch aus uns Mörder machen. Wir wären nicht besser als sie.«

»Mischa hat recht«, sagte Jeb. »Das kann nicht die Strafe sein. Was meint ihr?«, wandte er sich an Mary und Jenna.

»Sie kann nicht bei uns bleiben«, erklärte Jenna. »Wir können ihr nicht mehr trauen. Wahrscheinlich würde sie wieder versuchen, einen von uns anzugreifen, und das Risiko können wir nicht eingehen.«

»Sie ist wahnsinnig«, sagte Mary, immer noch heiser. »Ihr hättet ihren Blick sehen sollen. Vollkommen irre. Und ich weiß: Sie würde es wieder tun.«

»Bei uns bleiben kann sie nicht länger.« Jeb klang unschlüssig.

»Lassen wir sie zurück.« Leóns Gesicht war angespannt.

»Gefesselt? Nein, das wäre ihr sicheres Todesurteil.« Jeb schaute in die Runde, als suche er Zustimmung. »Ich bin dafür, sie aus der Gruppe auszustoßen. Sie muss ab jetzt allein zusehen, wie sie zurechtkommt.«

»Das würde bedeuten, sie kann immer noch eines der Tore erreichen«, sagte León. »Findest du das fair nach dem, was sie getan hat?«

Jeb sah ihn ernst an. »Eigentlich nicht. Okay, dann schlage ich vor, dass sie ihre komplette Ausrüstung zurücklassen muss und nur ihre Kleidung behalten darf. Schlafsack, Wasser und Essen bleiben hier. Wir teilen das Zeug dann unter uns auf. Seid ihr damit einverstanden?«

Jenna nickte. Mary ebenso. Mischa zögerte, aber dann gab auch er seine Zustimmung. Lediglich León blieb regungslos. Schließlich wandte sich der tätowierte Junge flüsternd an ihn: »Jeb. Sie hat diese Chance nicht verdient. Tian hatte sie auch nicht.«

»Trotzdem, wir…«

León hob die Hand. »Schon gut, ich weiß, was du sagen willst, wir wären nicht besser als sie selbst. Aber vor dem Morgengrauen muss sie verschwunden sein, sonst überlege ich es mir noch einmal anders.«

León wandte sich an Kathy, die die Unterhaltung mit wachsendem Entsetzen verfolgt hatte. »Wenn es nach mir ginge, würdest du hier und jetzt sterben, aber ich respektiere die Entscheidung der Mehrheit. Sollten wir uns aber noch einmal begegnen, mache ich dich sofort alle. Hast du das verstanden?«

Kathy nickte hochmütig, der Anflug von Angst war schnell wieder aus ihrem Gesicht verschwunden. Jeb war erstaunt, mit welcher Schnelligkeit Kathy zwischen ihren Emotionen wechseln konnte. Vielleicht glaubte sie ja trotzdem, noch eine Chance zu haben. Aber Jeb wusste es besser. Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, dann stand er auf. »Es ist schon spät. Lasst uns nachschauen, ob der Stern mittlerweile irgendwo zu sehen ist.«

Froh über die Ablenkung stapften sie die Treppe ins Erdgeschoss hinauf und traten hinaus in die eisige Kälte der Nacht. Der Himmel war immer noch wolkenverhangen, aber zwischen einzelnen grauen Fetzen blitzte das Blauschwarz des Himmels auf.

Jeb drehte sich im Kreis. Er suchte den Himmel ab, auch die anderen reckten die Hälse. Minuten vergingen. Ihr Atem zerstob in weißen Wolken.

Plötzlich hörte er Mischas Stimme: »Da. Ich glaube, ich habe was gesehen.« Im schwachen Schein des Mondes war seine Hand nur als weißer Schatten auszumachen. Er deutete in den Himmel.

»Ja«, sagte Jenna. »Ich hab ihn auch gesehen.«

»Da ist er. Der Stern.« Mary trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.

Deutlich leuchtend trat er hinter einer Wolke hervor, um kurz darauf wieder im Dunst zu verschwinden. Jeb prägte sich die Richtung ein. Nun wussten sie wieder, wohin sie marschieren mussten.

Unsere Reise ins Ungewisse geht weiter.