26.
Das kann nicht wahr sein«, fluchte Mischa. »Verdammt, es darf einfach nicht wahr sein.«
Er stand wie die anderen am Rand einer tiefen Schlucht und starrte auf die andere Seite des Abgrunds. Dort drüben pulsierten die Tore in blauem Licht.
Es waren sechs Portale, jedes davon oval und ungefähr zwei Meter hoch. Woraus sie bestanden, war nicht zu erkennen. Das Licht der Tore wirkte verlockend. In einem gleichmäßigen Rhythmus, ähnlich dem menschlichen Herzschlag, nur langsamer, wurde es heller und dann wieder dunkler. Die Farbe blieb dabei ein leuchtendes Blau. Weithin sichtbar. Jebs Botschaft hatte die Wahrheit verkündet, alles darin stimmte mit der Wirklichkeit überein. Es gab die Tore tatsächlich und sie mussten nur über diese verdammte Schlucht kommen.
Die Schlucht, vor der sie nun standen, hatte sich völlig unerwartet – ja, wie aus dem Nichts – hinter dem letzten Anstieg aufgetan. Lange hatte die Gruppe die nur karg bewachsenen Berghänge erklommen, bis auf zerklüftete Felsen und vereinzelte Gräser und trockene Büsche hatte ihnen die Landschaft keine Abwechslung geboten. Sie waren auf direktem Weg dem Stern gefolgt, der immer wieder hinter einzelnen Wolken am ansonsten strahlend blauen Himmel aufgeflackert war. Ohne erkennbare Vorzeichen hatten sich jedoch Gewitterwolken über die Bergspitzen geschoben und hingen nun drohend über ihnen, jederzeit bereit loszubrechen.
Sie waren dem Stern immer näher gekommen, obwohl die Gipfel der Gebirgskette noch in weiter Ferne lagen. Hoffnung hatte sich in ihnen ausgebreitet, obwohl sie nicht wussten, was sie hinter den Portalen erwartete.
Und nun war ihnen überraschend der Weg abgeschnitten, die Schlucht hatte man aus der Entfernung nicht einmal erahnen können. Als ob sich der Berg erst vor wenigen Minuten geöffnet hatte. Dampf stieg aus dem Abgrund, es roch nach Gestein und Erde.
Der Abgrund war so tief, dass sie den Grund von der Kante aus nur erahnen konnten. Und gleichzeitig erstreckte sich die Schlucht scheinbar um das gesamte Bergmassiv herum. León und Mischa waren den Rand der Schlucht in entgegengesetzte Richtungen abgelaufen – ohne Erfolg. Es gab keinen Weg daran vorbei, sie mussten die Schlucht irgendwie überqueren.
Mischa war sehr blass von seiner Erkundungstour zurückgekehrt. Mary, Kathy und Tian fixierten mit ihren Blicken die Portale auf der anderen Seite. Die Kluft zwischen den beiden Seiten betrug selbst an der schmalsten Stelle mindestens dreißig Meter. Keine Chance, da einfach so rüberzukommen, und auch das Gelände bot keinerlei Hilfsmittel.
»Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte Tian weinerlich.
Kathy fuhr ihn wütend an. »Hör mit der Flennerei auf!«
»Es war alles umsonst. Die ganzen Qualen – für nichts.«
»Halt deine Schnauze! Ich kann dieses Gewinsel nicht mehr hören. Seit fünf Minuten plärrst du vor dich hin. Du gehst mir auf die Nerven.«
León hatte alles schweigend beobachtet. Seit sie den letzten Hügel erstiegen und die Schlucht entdeckt hatten, war kein Wort über seine Lippen gekommen, doch jetzt hob er die rechte Hand.
»Seid still. Alle!«
Aber da platze Mischa der Kragen. »Was? Hast du etwa auch hierfür einen Plan?«, zischte er wütend. »Ja? Dann verrat uns mal, wie wir über diesen beschissenen Abgrund kommen sollen. Umwandern können wir die Schlucht nicht. Das hast du ja selbst gesehen. Die Erdspalte reicht kilometerweit in beide Richtungen. So und jetzt kommst du.«
Mary, Kathy und Tian blickten erschrocken zu León, der sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließ: »Wenn wir nicht drum herum laufen können, müssen wir eben mittendurch. Auf dieser Seite runter und auf der anderen Seite wieder hoch.«
»Bist du jetzt vollkommen durchgeknallt?«, tobte Mischa. »Hast du dir überhaupt mal die Mühe gemacht…« Er deutete auf den Abgrund. »... da runterzuschauen? Weißt du, wie steil das ist? Es gibt fast keine Pflanzen oder Felsvorsprünge, an denen man sich festklammern kann. Da ist so gut wie nichts. Scheiße, verdammt noch mal. Du hast uns hierhergeführt…!«
»Reg dich ab«, sagte León und wirkte vollkommen entspannt. »Jeb hatte recht. Wir müssen die Materialien, die wir haben, nutzen. Wir haben ein Seil, mit dem wir jemanden in die Schlucht abseilen können. Derjenige klettert dann auf der anderen Seite der Schlucht hoch und befestigt dort das Seil. Dann können wir uns einer nach dem anderen auf dem Seil hinüberhangeln.«
Mischa schaute verblüfft in die Schlucht hinunter. »Könnte gehen«, meinte er dann. »Das könnte tatsächlich funktionieren! Wer hat das Seil?«
Eben noch außer sich vor Wut, war er jetzt voller Energie und Tatendrang. »Ich mach das«, sagte Mischa weiter. »Ich klettere in die Schlucht runter und drüben wieder hoch. Das schaffe ich.«
»Ich kann auch gehen… Was ist mit deinem Arm?«, fragte León.
»Nein, nein, der ist wie neu, schau. Ich packe das. Ich glaube, ich hab das früher schon mal gemacht. Kein Problem.« Er klopfte León auf die Schulter. »Vertrau mir. Nicht mehr lange und wir alle sind auf der anderen Seite und lassen diesen ganzen Mist hinter uns.«
Ihm war klar, dass er nur einen einzigen Versuch hatte. Denn nicht nur sein Leben hing davon ab.
Währenddessen hatte Tian unbemerkt das Seil aus seinem Rucksack geholt und ein Ende in die Schlucht hinabgeworfen. Nun baumelte es in seiner Hand. »Ich will euch ja nicht den Spaß verderben, aber…« Mit düsterem Blick wandte er sich an León und Mischa.
»Was?«, fragten Mischa und León wie aus einem Mund.
»Wir haben ein Problem.« Er zögerte, dann verzog sich sein Gesicht sorgenvoll. »Das Seil ist zu kurz!«
Es dauerte eine Weile, bis alle den Schock verdaut hatten. Auch Kathy und Mary waren an die Schlucht getreten und blickten ausdruckslos in den Abgrund. Ja, das Seil war zu kurz. Sein Ende baumelte weit über dem finsteren Boden der Schlucht. Das bedeutete, Mischa konnte zwar von dieser Stelle aus weiter nach unten klettern, aber er müsste dafür das Seil zurücklassen und hätte dann keine Chance, es an der anderen Seite zu befestigen. Natürlich könnten sie alle durch die Schlucht steigen, aber ohne Sicherung durch das Seil bedeutete selbst der kleinste Fehltritt den Tod. Ihr Vorhaben war mit einem Mal unmöglich geworden.
»Wenn ich mich richtig erinnere«, sagte Mary in die Stille hinein, »hatten wir doch zwei Seile.«
»Ja, richtig! Los, wer hat das zweite Seil?« Als sich eisernes Schweigen über die Runde legte, beantwortete Tian seine Frage selbst. »Jeb und Jenna. Niemand hat daran gedacht, dass wir es vielleicht brauchen könnten.«
Mary blickte nachdenklich in die Runde und sagte dann leise: »Findet ihr es nicht auch merkwürdig, wie jedes Teil in unserer Ausrüstung seinen Sinn hat? Feuerzeug, Seil, Messer, Verbandszeug. Und immer bei dem, der damit umgehen kann, lag es im Rucksack. Es war von Anfang an geplant, dass wir zusammenarbeiten, um zu den Toren zu gelangen.«
»Und wenn wir es zu den Toren geschafft haben?«, fragte Tian bitter, obwohl er die Antwort kannte.
»Sollen wir um die Tore kämpfen«, sagte León. »Die Schwachen bleiben zurück. Die Starken ziehen weiter.«
»In die nächste Welt. Zu weiteren Toren«, ergänzte Mischa.
»Verdammt, wer plant denn so einen Wahnsinn?« Tian warf den Kopf in den Nacken und schrie seine Verzweiflung laut heraus. »Hast du Spaß, ja? Wer immer du bist, du Arsch, kommst du jetzt auf deine Kosten? Gefällt es dir zu sehen, wie wir uns quälen? Ach, fahr zur Hölle!« Dann sank er in sich zusammen. Mischa seufzte innerlich, Tians Attacken und Anfälle waren auf die Dauer nur schwer zu ertragen.
Eine Weile lang waren alle in ihren eigenen Gedanken gefangen.
»Was machen wir jetzt?« Mary sah alle nacheinander an.
»Jeder von uns muss entscheiden, ob er in die Schlucht hinuntersteigen will oder nicht«, sagte León.
»Was gibt es da zu überlegen. Haben wir denn eine andere Wahl?«
Keiner antwortete. Sie alle kannten die harte Wahrheit.
»Wir könnten versuchen, hier zu überleben«, meinte Mary.
»Wir werden verfolgt, weißt du nicht mehr? Auch wenn ich mich schon die ganze Zeit frage, wo unsere Jäger geblieben sind.« León griff nach seinem Messer, das er in der Hosentasche verstaut hatte. »Sicher ist nur: Wenn sie kommen, haben wir ohne Waffen keine Chance.«
Mischas Blick wanderte unruhig durch die Landschaft. Er suchte nach einem Ausweg, nach einer Lösung, einem Weg, den sie vielleicht übersehen hatten.
»Wir ruhen uns ein wenig aus, dann beratschlagen wir, wie wir den Abstieg angehen«, sagte León.
Niemand widersprach ihm.
Tian begann still zu weinen.
Kathy ging am Rand des Abgrunds auf und ab. Unruhig wie ein Tiger im Käfig wanderte sie von rechts nach links und wieder zurück. Die Machtlosigkeit angesichts ihrer Situation hatte sie aus der Bahn geworfen. Irgendwo tief in ihr drin war ein Schalter umgelegt worden und durch ihre Adern floss reines Adrenalin.
Immer wieder wanderte ihr Blick zu den anderen. Wie sie da rumstanden, die Köpfe zusammensteckten und jammerten. Es war zum Kotzen. Und da wallte auch schon der inzwischen vertraute Hass in ihr auf.
Ihr seid schwach. So schwach.
Sie sah Tian weinen.
Schon wieder.
Warum flennte der Typ dauernd? Warum war er so ein Schwächling und tat nichts dagegen?
Reiß dich zusammen!
Kathy beobachtete, wie Mary tröstend einen Arm um Tians Schultern legte.
Ja, so ist es richtig. Haltet zusammen. Schwächlinge, vereinigt euch. Ihr habt es nicht verdient, die Tore zu erreichen. Steht dumm rum und glotzt auf die andere Seite. Ich werde da hinüberkommen, egal, was mit euch passiert.
Kathy spuckte in den Staub.
Ihr werdet sterben. Etwas anderes habt ihr nicht verdient.
Jeb und Jenna waren weiterhin den Zeichen gefolgt, die ihnen zuverlässig den Weg wiesen, und nun, fast einen Tag, nachdem sie den Wald betreten hatten, verließen sie ihn wieder.
Die Bäume standen lichter, der Abstand zwischen den Stämmen wurde größer. Sogar Gras wuchs hier wieder. Es gab Büsche und Sträucher. Von ihren Helfern hatten sie nichts mehr gesehen und auch kein weiteres Essen gefunden.
Als sie in die Graslandschaft hinaustraten, empfing sie greller Sonnenschein. Nach der Düsternis des Waldes dauerte es eine Weile, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Es war heiß. Jeb war durstig und brauchte eine Pause. Seit dem frühen Morgen trug er Jenna auf seinem Rücken. Jenna war es unerträglich, ihm so zur Last zu fallen. Er hatte seinen Gang an die Last angepasst, es ging ihm dabei besser als am Tag zuvor, das konnte sie spüren. Trotzdem fiel es ihm zusehends schwerer weiterzugehen und sie erkannte an seinem Gang, dass er Schmerzen hatte. Er brauchte eine Pause und musste alles einmal auslockern, sonst würde er bald keinen Schritt mehr vor den anderen setzen können. Seit einiger Zeit schon war der Weg angestiegen, und das hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. Sie deutet ihm an, sie abzusetzen.
Jeb ließ Jenna hinunter und lockerte seine Glieder.
»Gibst du mir mal das Wasser?«
Jenna kramte im Rucksack herum und reichte ihm die Flasche. Jeb trank langsam, genoss sichtlich jeden Tropfen, der seine Kehle hinablief. Im Moment hatten sie zwar noch ausreichend Wasser, aber jetzt auf der Ebene würden sie nichts mehr finden. Sie mussten sparsam damit umgehen.
»Jeb, ich glaube, ich sehe etwas«, sagte Jenna neben ihm. Sie hielt eine Hand schützend über die Augen und deutete mit der Hand zum Horizont. »Dort! Siehst du es auch?«
Jeb kniff die Augen zusammen und... schüttelte den Kopf. Doch dann erkannte sie an seiner Haltung, dass er schließlich auch das blaue Schimmern entdeckt hatte, kaum auszumachen in der flirrenden Hitze.
»Was ist das?« Er schien immer noch nicht zu begreifen.
»Das Leuchten ist zu unnatürlich für diese Gegend. Es sieht künstlich aus…« Sie seufzte auf einmal tief auf. »Wir haben die Tore gefunden.«
»Meinst du wirklich? Aber wenn das stimmt…« Er strahlte sie an. Dann machte er drei schnelle Schritte auf sie zu und wirbelte sie herum. »Wir haben es geschafft. Wir haben es tatsächlich geschafft!«
Jenna lachte. »Lass mich runter, Jeb!« Dann wurde sie schlagartig ernst. »Wo die anderen wohl sind?«
»Ob sie schon durchgegangen sind, was meinst du?«
»Möglich«, sagte Jenna.
»Dann ist nur noch ein Tor übrig.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, fügte er schnell hinzu: »Uns wird schon etwas einfallen.«
Jenna sah ihn ernst an. »Wir müssen darüber reden, das weißt du.«
Statt einer Antwort blickte er zu Boden, nahm einen kleinen Ast in die Hand und fing an, Kreise in den Staub zu zeichnen. Sie erinnerten Jenna an die Muster auf der Kleidung der Ureinwohner.
»Jeb. Was machen wir, wenn wir dort sind und es nur noch ein Tor gibt? Wenn nur einer von uns aus dieser Welt entkommen kann?«
»Lass uns später darüber reden, wenn es so weit ist.«
»Nein, wir reden jetzt darüber.« Jenna wirkte zornig. Ihre Stirn war in Falten gelegt. »Ich kann mir denken, was du vorhast. Du willst freiwillig zurückbleiben, damit ich durch das letzte Portal gehen kann.«
Aus den Kreisen wurden Figuren mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Sie hielten Speere in den Händen.
»Aber so läuft das nicht«, sagte Jenna. »Du hast mich bis hierher getragen, ohne dich wäre ich schon längst tot. Ich werde nicht zulassen, dass du dich für mich opferst.«
»Vielleicht sind noch mehr Tore übrig. Vielleicht hat es einer der anderen nicht geschafft oder wir können zusammen durch ein Tor gehen…«
»Du weißt, dass man das nicht kann!« Jenna beugte sich zu ihm herüber, fasste ihn an der Schulter. »Sieh mich an!«
Er hob den Blick und sah in Jennas Gesicht. »Wenn alles so ist, wie du es uns vorgelesen hast, und die anderen die Tore schon durchschritten haben, dann wirst du gehen. Alles andere ergibt keinen Sinn, sonst wäre alles umsonst gewesen, verstehst du?«
»Ich werde dich nicht zurücklassen. Niemals.«
»Doch, du musst, Jeb. Du musst. Kämpfe und überlebe für uns!«
»Jenna, ich kann nicht.«
Sie sah Tränen in seinen Augen. So viel hatte er auf sich genommen, um sie bis zu den Toren zu bringen. Stunde um Stunde hatte er sie getragen, nie über die Strapazen und Schmerzen geklagt. Selbst als sie beide kaum noch Hoffnung hatten, hatte er ihr Mut gemacht. So stark war Jeb, aber nun saß er vor ihr und weinte. Tränen liefen über sein verschmutztes Gesicht, aber er schien es nicht zu merken. Seine Hände hatten aufgehört zu zeichnen.
»Jeb, tu es für uns… für mich. Bitte nimm mir nicht diese letzte freie Entscheidung.«
Er schluchzte leise. Sein Kopf sank auf ihre Schulter.
Nachdem sie eine Zeit lang so dagesessen hatten, hob Jeb entschlossen den Kopf. »Wir brauchen darüber jetzt nicht reden, denn noch sind wir nicht bei den Toren. Wir müssen erst über diese Ebene. Dort sind wir wieder Freiwild für unsere Verfolger, die wir schon verdächtig lange nicht mehr gehört haben. Wenn wir es überhaupt zu den Portalen schaffen, werden wir sehen, wie viele noch da sind.« Jeb stand auf. »Lass uns weitergehen.«
Jenna wusste, dass sie ihn nicht umstimmen konnte. Nicht hier und jetzt, aber sie war nicht bereit, sein Opfer anzunehmen. Es gab nur eine letzte Hoffnung für sie beide: Wenn jemand aus der anderen Gruppe es nicht bis zu den Portalen geschafft hatte, gab es für sie beide einen Ausweg.
Und selbst wenn es nicht genug Portale gab, wusste Jenna, dass sie keinesfalls Jeb zurücklassen würde.