45.
Die beiden Männer blieben stehen, sagten etwas, dann schüttelten sie Mary unsanft aus dem Sack. Hart landete sie auf dem Boden.
Erleichtert schnappte sie nach Luft, aber der Gestank überwältigte sie. Im Raum waberte der schwere Geruch von ungewaschenen Körpern und Verfaultem. Flach atmend hob sie den Kopf und ihr Atem stockte. Ihr Blick wanderte über schmutzige, abgetragene Stiefel nach oben. Das Gesicht, das eben noch eine schwarze Maske gewesen war, wurde zu einem bärtigen Gesicht. Dunkle Augen stachen daraus hervor, blickten auf sie herunter. Sofort erkannte Mary ihn wieder. Der Mann mit dem Hund, in der Seitenstraße. Aus ihrer Angst wurde Panik. Sie begann, unkontrolliert zu zittern. Bilder tauchten in ihrem Geist auf.
Und die Erinnerung überrollte sie.
Es gab einmal eine Familie. Vater, Mutter, die kleine Mary und ihr kleiner Bruder. David.
Mary lag in ihrem Bett, nur die Nachttischlampe brannte und warf Schmetterlinge an die Wand, als er ins Zimmer kam und sich neben sie legte. Meine Kleine, du bist doch meine Kleine? Dann hat er sie berührt. Aber es war nicht Mary. Mary war ganz weit weg. Sie machte sich ganz steif, aber er zwängte seine Hand zwischen ihre Beine und sagte leise: Alles ist gut. Aber Mary wusste, das war es nicht. Sie weinte, und das nicht nur ein einziges Mal, sondern viele Nächte.
Nach vielen Nächten – zu vielen Nächten – kam Marys Vater nicht mehr zu ihr. Aber sie hörte, dass er in das Zimmer ihres Bruders ging. Sie hörte ihren Vater mit David flüstern und sie hörte, wie ihr geliebter kleiner Bruder wimmerte.
Aber Mary sagte nichts, sie war froh, dass es vorbei war. Dass sie nun vergessen durfte. Also schwieg sie und sagte zu niemandem ein Wort.
Und doch war er jetzt hier. Ihr Vater. Aus dem hageren, ausgemergelten Gesicht wurde sein Gesicht, das auf sie hinabblickte. Wie damals lächelte er nicht, verzog keine Miene, stand einfach nur da und glotzte sie an. Sein Blick hatte etwas Gieriges und Mary war wieder das kleine Mädchen wie in ihrer Erinnerung. Wie damals. Dann öffnete er den Mund und eine ganze Reihe fehlender Zähne wurde sichtbar.
»Steh auf«, befahl er kalt.
Als sie nicht sofort gehorchte, wiederholte er seinen Befehl. Und das in einem Tonfall, der Mary nur noch mehr Angst machte. Dieses Mal, so wurde ihr schlagartig klar, konnte sie sich nicht einfach unsichtbar machen. Nicht einfach wegdenken. Schnell rappelte sie sich auf.
Da erst erwachte sie aus ihrem Albtraum. Wo war sie hier? Nach dem langen Aufenthalt im Sack, in gekrümmter Haltung, merkte sie nun, dass ihre Muskeln verkrampft waren. Ihre Knie gaben nach und sie sackte zusammen. Einer ihrer Entführer packte sie an den Haaren und zog sie wieder auf die Beine. Mary schrie auf.
»Sei still«, sagte der Mann mit dem Gesicht ihres Vaters. Er fragte: »Hast du Essen?«
Die Frage überraschte Mary. Es dauerte einen Augenblick, bis sie den Sinn dieser Frage kapierte. Und sie hatte die kurze Hoffnung, dass dies nur ein Traum war, doch dieses Gefühl zerstob im Nichts, als sie in die kalten Augen des Mannes blickte.
»Ja.« Mary versuchte, sich ihre Angst nicht anmerken zu lassen, und deutete auf den Rucksack, den die Männer neben ihr auf den Boden abgestellt hatten. »Aber es ist nicht viel.«
Obwohl er danach gefragt hatte, schien der Inhalt ihn nicht zu interessieren. Er nickte seinen Männern zu, die sich sofort darüber hermachten und in einer Ecke verschwanden.
Mary versuchte unauffällig, sich einen Eindruck von dem Ort zu verschaffen, an den man sie verschleppt hatte. Sie musste sich unter der Erde befinden, denn es gab kein Fenster. Nur nackten Beton, von dem die Feuchtigkeit in kleinen Rinnsalen zu Boden sickerte. Der Raum war groß und nüchtern, durch Pappkarton und Bretter in viele kleine offene Abteile aufgeteilt, in denen dunkle Gestalten auf alten Matratzen hausten. Aber es waren nur wenige da. Mary sah Augen im Halbdunkel aufblitzen. Augen, die sie im Schein der an den Wänden angebrachten Fackeln neugierig musterten. Sie senkte den Blick. Auf dem Boden lagen überall abgenagte bleiche Knochen herum. Mary schluckte. Man hatte sie in einen Albtraum verschleppt. In ihre persönliche Hölle.
»Wie gefällt dir mein Reich?«, fragte der Mann, der offensichtlich der Anführer der Truppe war. Immer wieder flackerte in seinem dunklen Antlitz das Gesicht ihres Vaters auf. Sie beschloss, ihn nicht mehr anzusehen. So konnte sie vielleicht die Taubheit überwinden, die sie überall in ihrem Körper spürte.
Mary schwieg. Sie zitterte vor Angst und Erschöpfung. Fieberhaft suchte sie nach einer Fluchtmöglichkeit. Ihre Überlebensinstinkte waren erwacht, aber Mary wusste, dass es nur einen Ausweg aus dieser Situation gab. Er würde ihr nicht wieder alles nehmen können. Diesmal käme sie ihm zuvor.
»Denk nicht einmal daran«, sagte der Mann. »Du gehörst mir, das weißt du doch. Von hier gibt es kein Entkommen.«
Mary schnappte erschrocken nach Luft.
Er beugte sich zu ihr vor, nahm eine Strähne ihres Haares in die Hand und schnupperte daran. »Du riechst gut.«
Sein stinkender Atem schnürte Mary die Kehle zu. »Bitte, bitte nicht. Bitte nicht. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, dann… dann tut es mir leid«, stammelte sie leise.
Er lächelte sie zahnlos an. »Aber nein, du hast alles richtig gemacht. Du hast zu mir gefunden, auch wenn ich etwas nachhelfen musste.«
Mary schüttelte den Kopf. »Was immer Sie wollen, Sie werden es nicht bekommen.«
Sein Schlag kam überraschend. Eine Hand klatschte ihr ins Gesicht, warf ihren Kopf zur Seite. Mary stöhnte auf. Sie fasste sich an ihre Wange und begann zu weinen.
Wieder kam er ihr nahe. Seine Finger fuhren sanft über ihren Handrücken. »Du musst nicht weinen«, sagte er. Dann wurde seine Stimme gefährlich leise. »Aber wenn du weiter so widerspenstig bist, muss ich dir Manieren beibringen.«
Diese Worte. Wie oft hatte sie diese Worte von IHM gehört. Ihr Blick begann zu flackern. Die Bilder aus der Vergangenheit wollten sie mit sich reißen. Drohend stand ihr Vater vor ihr. Mary war wieder das kleine Mädchen der Erinnerung.
»Warum?«, flehte Mary. »Warum bist du hier?«
Er legte den Kopf schief. Der harte Ausdruck in seinen dunklen Augen verschwand. Dann grinste er und seufzte auf. Der Mann sagte etwas zu ihr, aber Mary hörte eine andere Stimme.
»Endlich habe ich dich wieder. Jetzt werden wir glücklich sein.« Er legte eine Hand unter ihr Kinn, die andere legte sich auf ihren Oberschenkel.
Von jetzt an war Mary nicht mehr Mary. Sie war weit weg.
Kathys Herz hatte einen kurzen Moment ausgesetzt, aber dann hatte sie erkannt, dass die Fackel an der Wand befestigt war und ihr niemand hinter der Tür auflauerte. Ihr Blick huschte umher. Niemand zu sehen.
Die Tür öffnete sich in einen weitläufigen Raum, dessen Decke von massiven, runden Säulen getragen wurde. Links von ihr führte ein steinerner Gang in höhere Geschosse, rechts von ihr ging es über eine Rampe in die Tiefe. Irgendjemand hatte sich vor langer Zeit die Mühe gemacht, die Fläche des Raumes in kleine, rechteckige Felder aufzuteilen und sie mit Zeichen zu versehen.
Direkt vor ihr befand sich ein metallener Kasten. Ungefähr mannshoch überragte er sie um einen Kopf. Das Metall war kühl und glatt, dabei merkwürdig unbeschädigt. Kathy fuhr mit der Hand darüber. Sie blickte auf ein mattes Feld aus Glas, in dem sich ihr Gesicht spiegelte, und zuckte zusammen.
Das war nicht ihr Spiegelbild. Das war nicht sie. Nicht Kathy. Was ihr entgegenblickte, war ein Monster, ein mit Blut und Asche verschmiertes Gesicht. Augen, die tief in den Höhlen lagen und matt wie abgenutzte Murmeln glänzten. Sie zog die Lippen zurück und bleckte die Zähne.
Ich bin ein Tier geworden. Nicht mehr ich selbst.
Plötzlich stiegen Tränen in ihr auf. Etwas zerbrach in ihr und sie begann, heftig zu weinen. Es ließ sich nicht zurückhalten und Kathy schluchzte laut auf, ungeachtet der Gefahr, entdeckt zu werden.
Bilder aus einem fernen Leben tauchten auf. Ließen sie noch heftiger weinen. Kathy sah einen Mann. Groß und schlank. Braun gebrannt, mit wilden, von der Sonne ausgebleichten blonden Locken. Ein Dreitagebart und das Grinsen eines frechen Jungen im Gesicht. Es war das Gesicht ihres Vaters. Ein Surfergesicht. Die Sonne Australiens hatte unzählige Falten hineingeschrieben und neben den Augenwinkeln zersprang die Haut in Tausende kleine Risse.
Dad? Wo bist du?
In ihrem Geist hörte sie seine Stimme.
Darling, komm. Das Meer ist wunderbar und die Sonne scheint. Lass uns surfen gehen.
Nein. Ich muss für die Schule lernen. Morgen schreiben wir einen Test.
Schule? Kind, du bist die beste Surferin, die ich je gesehen habe. Du wirst später dein Geld mit Surfen verdienen. Du hast alle Wettbewerbe auf dem Kontinent gewonnen. Die Welt steht dir offen. Vergiss die Paukerei. Ich selbst…
Ich weiß, unterbrach sie ihn. Du selbst hast die Schule auch geschmissen und bist trotzdem glücklich geworden.
Aber eigentlich dachte sie, dass er ein Versager geworden war. Jemand, der in den Tag hineinlebte, der glaubte, Kiffen und Surfen wären das wahre Glück. Ein Versager. Ihre Mutter hatte diesen Mann verachtet und ihn verlassen, als ihre Schwester und sie noch klein gewesen waren. Wortlos war sie gegangen. Nur mit einem Koffer in der Hand. Kathy hatte geweint, war ihr nachgelaufen. Ihre kleinen Hände hatten sich in ihrem Rock verkrallt, aber die Frau, die ihre Mutter gewesen war, war in die Hitze des heißen Tages verschwunden. Und ihr Vater? Der hatte zugedröhnt auf dem Sofa gelegen, während im Fernsehen eine dieser nervtötenden Talkshows lief.
Kathy hatte versucht, ihn zu wecken, wollte ihm sagen, dass Mum gegangen war, aber er befand sich gerade im Land der Drogenträume, aus dem er erst am späten Nachmittag zurückkehren würde.
Kathy ließ sich auf den schmutzigen Boden sinken. Lehnte sich mit dem Rücken gegen den Metallkasten, zog ihre Knie an und umschlang ihre Beine.
Mummy. Wo bist du?
Bitte komm zurück.
Bitte komm mich holen. Hier ist es schrecklich und ich habe Angst.
Aber die Bilder verblassten und die Sehnsucht nach ihrer Mutter verflog. Noch eine Weile blieb sie so sitzen, dann stand sie auf. Ihr Blick wanderte zu der Rampe, die nach unten führte. Sie hörte Marys Wimmern aus der Tiefe.
Mary. Sie wischte ihre Nase am Ärmel ab. Ihre Wut auf Mary war wie weggeblasen. Kathy wusste jetzt, dass ihr Marys Tod kein Vergnügen bereiten würde. Sie würde Mary weiter folgen, aber töten musste sie sie vielleicht nicht mehr. In ihrem Kopf herrschte Leere, ihre Gedanken waren vollkommen klar. Sie war Kathy und sie war einsam und verloren. Jemand hatte sie ihrer Welt entrissen und dazu gezwungen, hier in dieser unwirtlichen Welt um ihr Leben zu kämpfen, aber das war ein aussichtsloser Kampf, den sie nicht gewinnen konnte. Der Preis des Überlebens war einem der Jungs bestimmt. Wahrscheinlich León. Der Typ war zäh wie eine Ratte. Er hatte schon viele Kämpfe gewonnen und er würde auch diesen gewinnen.
Nein, es gab keine Chance für sie, also war es egal, ob sie durch den Schnee stapfte oder öde, heiße Ebenen überwand. Letztendlich war alles egal, es spielte keine Rolle mehr.
Ich hätte so gern noch einmal die Sonne gesehen, den Wind in den Haaren und die Wellen unter mir gespürt. Auf einem Surfbrett dem Strand entgegenzujagen. Eins zu werden mit dem unendlichen Ozean.
Aber das war unmöglich. Sie würde hier, an diesem kalten, schmutzigen Ort ihr Ende finden.
Kathy blickte auf das Messer in ihrer Faust und setzte einen Fuß in Richtung der Treppe, die in die Tiefe führte. Sie würde nicht allein sterben.