16.

Mary war weit zurückgefallen. Sie trottete hinter den anderen her und wurde zusehends langsamer. León ging zurück, bis er auf gleicher Höhe mit ihr war.

Marys Gesicht glühte vor Anstrengung. Sie schnaufte unablässig, obwohl seit der Trennung von Jeb und Jenna nicht viel Zeit vergangen war.

»Du musst schneller gehen«, sagte León.

»Ich gebe mein Bestes.«

»Das reicht aber nicht.«

»Und was kümmert dich das? Jenna hast du doch auch zurückgelassen.«

»Sie war verletzt, das ist etwas anderes. Es gab keine andere Möglichkeit.«

»Das ist eine Lüge. Du bist ein beschissener Lügner! Wir hätten sie tragen können. Abwechselnd.«

»Und wären alle dabei draufgegangen.«

Wütend starrte sie ihn an.

Wut ist gut. Wut gibt ihr Kraft. Ich muss sie zornig machen.

»Geh schneller!«, forderte er.

»Lass mich in Ruhe, León!«

León machte einen Schritt auf sie zu und sie wich zur Seite aus. »Ich sage es ein letztes Mal, geh schneller oder du wirst den Tag verfluchen, an dem wir uns begegnet sind.«

»Das tue ich jetzt schon.«

Er hob die Hand, so als wolle er sie schlagen.

»Wage es nicht«, zischte Mary.

León sah den Zorn in ihren Augen. Zufrieden wandte er sich ab. Mary würde ab sofort nicht mehr zurückbleiben.

»Ich sag’s euch, etwas stimmt nicht mit Jeb«, sagte Kathy zu Mischa und Tian.

»Wie meinst du das?« Tian strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und sah sie an.

»Na, das ganze Gequatsche über das Labyrinth und so.«

»Du glaubst ihm immer noch nicht?«, fragte Mischa verblüfft.

»Doch, ich denke, er sagt die Wahrheit, aber es ist nur eben so viel Wahrheit, wie er uns mitteilen will. Irgendetwas verbirgt er vor uns, vielleicht gibt es noch eine weitere Botschaft.«

»Alles, was er gesagt hat, scheint zu stimmen. Der Stern, Ängste, die uns irgendwie verfolgen. Ich wette, die Tore werden auch dort so sein, wie er es uns versprochen hat«, meinte Mischa.

»Er hat uns gar nichts versprochen«, zischte Kathy.

Keiner der beiden anderen reagierte darauf. »Eigentlich lässt er uns im Dunkeln tappen. Habt ihr euch schon mal gefragt, warum er schon vor uns im Labyrinth war?«, sprach Kathy weiter. »Und warum ist er bei Jenna zurückgeblieben?«

»Er ist einfach ein guter Mensch«, sagte Tian.

Kathy sah ihn verächtlich an. »Glaubst du das wirklich? Wie naiv bist du eigentlich? Warum sollte er sich für jemanden opfern, den er nicht kennt? Wenn es stimmt, was er sagt, dann gibt es in jeder Welt ein Tor weniger, als von uns noch am Leben sind. Nur einer von uns wird durch das letzte Tor gehen, alle anderen sterben vorher. Warum sich also opfern, warum jemanden retten, der sowieso dem Tod geweiht ist?«

»Weil er nicht anders kann!«

Ohne dass sie es bemerkt hatten, war León herangekommen und hatte ihr Gespräch mit angehört.

»Du glaubst also, er hat einfach ein Helfersyndrom?«, fragte Kathy verächtlich.

»Nein, ich halte ihn für einen Idioten, weil er sein Leben für jemand anderen riskiert, aber im Gegensatz zu dir respektiere ich sein Opfer.«

»Opfer, wenn ich das schon…«

»Halt deine Klappe, Kathy. Halt einfach mal deine Klappe.« Leóns Stimme ließ die anderen frösteln. »Wir alle wissen, warum du nicht gut auf Jeb zu sprechen bist. Also mach ihn nie wieder schlecht, sonst stopfe ich dir persönlich dein Maul.«

»Sag mal, wie redest du…?«

Er ließ sie nicht zu Wort kommen. »Ich will nichts mehr von dir hören. Kein einziges beschissenes Wort mehr oder ich schwöre dir, dass ich mich vergesse.«

Hinter ihnen in der Ferne erklang das gefürchtete Heulen und Kreischen. Sie zuckten zusammen. Tian fing an, Unverständliches zu stammeln und mit den Füßen zu stampfen. Die anderen blickten ihn sorgenvoll an und hofften, dass er sich wieder abregte.

»Scheiße«, knurrte León. »Hört ihr das? Warum kommen sie uns hinterher und nicht Jeb und Jenna?«

»Vielleicht sind sie schon tot«, bemerkte Mischa.

León knirschte mit den Zähnen.

»Nein. Jeb hat wie immer schon einen Schritt weitergedacht. Irgendwie hat er es geschafft, dass sie unserer Spur folgen und nicht seiner, der verdammte Mistkerl.«

Jeb, du bist cleverer, als ich dachte.

In diesem Moment schmiss sich Tian auf den Boden, presste abwechselnd die Fäuste auf die Ohren und schlug sich auf den Kopf: »Mach, dass es aufhört. Bitte! Ich ertrag das nicht mehr, es macht mich wahnsinnig. Jemand soll dieses Geräusch stoppen. Bitte tut doch etwas. Es soll aufhören. AUFHÖREN!«

Das verzweifelte Gebrüll Tians vermischte sich nun mit den kehligen Rufen ihrer Verfolger und die Spannung in der Gruppe war unerträglich und ließ sie alle in Reglosigkeit verharren.

Dann trat Kathy zu León und verlangte so resolut nach seinem Messer, dass er es ihr augenblicklich reichte. Dass sie dabei Mary warnend anblickte, fiel in diesem Moment niemand auf. Sie schnitt vom unteren Rand ihres Hemds einige Zentimeter ab, knotete es zusammen und streifte es Tian über den Kopf. Als der sich wehrte und nicht aufhörte, weinerlich zu stammeln, verabreichte sie ihm eine schallende Ohrfeige. Abrupt war Ruhe und Tian kam wieder zu sich. Er schob das braune Band sorgfältig über seine Ohren und legte die Hände darüber. Für einen Moment schloss er die Augen. »Danke, Kathy«, keuchte er.

León steckte sein Messer wieder ein.

»Ab jetzt gibt es keine Pausen mehr. Wer nicht mehr kann, bleibt zurück.«

Jeb schwitzte aus jeder Pore, während er langsam, den Blick zu Boden gerichtet, auf den Wald zumarschierte. Mit der linken Hand umfasste er Jennas Bein, mit der rechten stützte er sich auf Leóns Speer.

Seit einiger Zeit hatte er das Gefühl, dass sich das Kreischen hinter ihnen entfernte. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, würde er jetzt zufrieden grinsen, aber er war inzwischen ziemlich am Ende. Nachdem er die erste halbe Stunde zügig voranmarschiert war, drückte ihn nun die Last auf seinem Rücken beinahe zu Boden. Nicht nur der heutige Marsch saß ihm in den Knochen, sondern auch die Anstrengungen der letzten Tage. Hinzu kam die nervliche Anspannung, die ihm ebenfalls die Kraft raubte.

Vielleicht werde ich krank, überlegte er. Sein Gesicht glühte, aber bei der Hitze war das kein Wunder. Er hob kurz den Kopf. Was er sah, gab ihm neuen Mut. Sie waren dem Wald deutlich näher gekommen und der Anblick versprach Erholung und Schatten. Sie mussten dringend Wasser finden, denn seine Zunge klebte am Gaumen.

Wie es wohl Jenna geht?

Seit dem Aufbruch hatten sie kein Wort miteinander gesprochen. Jenna schien zu spüren, dass er seine volle Konzentration brauchte. Still drückte sie sich an ihn. Nicht ein einziger Laut war von ihr zu hören. Auf Dauer so getragen zu werden, war bestimmt unangenehm und inzwischen musste das Blut sich in ihren Beinen stauen, sodass ihr verletzter Fuß wahrscheinlich höllisch schmerzte. Trotzdem jammerte sie nicht.

»Ich glaube, dahinten zieht Regen auf«, sagte sie plötzlich. Jeb wäre beinahe gestolpert, so überrascht war er. Er wandte den Kopf. Ja, am Horizont wurde es dunkel, aber ob das Regenwolken waren, vermochte er nicht zu sagen.

Regen wäre wunderbar, dachte er, versuchte aber, nicht darauf zu hoffen.

Der Wald. Der Wald ist alles, was zählt, dort finden wir Schutz und Wasser.

Bei seinem Anblick spürte er, dass er noch Kraft hatte, Jenna weiterzuschleppen. Nein, er würde nicht aufgeben.

»Keine Ahnung, ob das Regen ist«, erwiderte er.

»Ich glaube, dein Trick hat funktioniert.« In ihrer Stimme schwang Hoffnung mit.

»Ja, denke schon.« Er sagte ihr nicht, dass es ebenso gut sein konnte, dass sich die Jäger getrennt hatten und nun vielleicht in zwei Gruppen jagten. Und doch hatte er ein gutes Gefühl. Sie würden es in den Wald schaffen, danach würden sie weitersehen.

»Geht es noch bei dir? Sollen wir lieber eine Pause machen?«, fragte Jenna.

»Ist schon okay. Wir rasten nachher im Wald, hier ist es zu heiß. Wie fühlst du dich?«

»Der Fuß tut ein bisschen weh, aber sonst ist alles okay.«

Er ging davon aus, dass sie maßlos untertrieb, um ihm nicht noch mehr Probleme zu bereiten. Er war froh, dass Jenna bei ihm war, trotz allem.

»Jenna? Kannst du dich an irgendetwas erinnern, was vor deiner Zeit im Labyrinth liegt?«

Jenna schwieg einen Moment, als müsste sie nachdenken.

»Nicht… nicht so richtig. Es sind nur vereinzelte Bilder, die kommen und wieder verschwinden. Ich weiß, sie haben mit mir zu tun, aber so richtig einordnen kann ich sie nicht.«

»Bitte erzähl mir davon«, sagte Jeb. Er hoffte, mehr über sie zu erfahren. Und vielleicht würde es ihn ein wenig von den Strapazen ablenken.

»Wie gesagt, manchmal tauchen Bilder auf. Ich sehe mich selbst auf einem Pferd reiten. Es ist ein großes schönes Tier. Wir sind in irgendeinem Wettbewerb und die Zuschauer feuern mich an. Wenn ich versuche, mich auf dieses Bild zu konzentrieren, verschwimmt es und vor mir steht eine Frau. Sie trägt ein weißes Kleid, die blonden Haare sind streng nach hinten gebunden. Sie sieht auf mich herab und sagt etwas, aber ich höre ihre Stimme nicht. Alles was sie sagt, bleibt ein dumpfes, sinnloses Gemurmel. Dann verschwindet diese Szene und ich liege auf dem Rücken, starre auf nacktes Weiß. Nichts als Weiß. Keine Linien, keine Formen. Ich verliere mich in dem Weiß. Schließlich taucht dein Gesicht über mir auf. Du beugst dich zu mir herab und sagst deinen Namen und es ist… es ist so, als würde ich dich schon lange kennen.«

Mir ging es ähnlich mit dir, dachte Jeb, aber er sprach die Worte nicht aus. Die Gefühle der Vergangenheit waren ohne Bedeutung, nur die augenblickliche Situation zählte.

Und dennoch, er erinnerte sich an jedes Detail dieser ersten Begegnung. Wie schutzlos sie dagelegen hatte. Ihr Anblick hatte ihn tief berührt und tat es immer noch.

»Und du hast keine Ahnung, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Jeb, um sich von diesem Gedanken abzulenken.

»Nicht den leisesten Schimmer. Das Reiten kann ich mir noch erklären, aber was es mit der alten Frau auf sich hat, keine Ahnung. Die Szene ist irgendwie beunruhigend.«

»Das glaub ich.« Jeb war froh, dass er Jenna das Reden überlassen konnte. Er mochte ihre Stimme, sie begleitete seine mühsamen Tritte auf dem flirrenden Gras, und dass er nicht allein war, beruhigte ihn.

»Weißt du, ich fühle mich so, als wäre ich irgendwie aus der Zeit gefallen. Und ich bin überzeugt, dass ich zurückkehren kann, in diese andere Zeit. Dass auch du zurückkehren kannst. Du musst nur durchhalten – aber anstatt dass ich… dass wir uns gegenseitig dabei helfen durchzuhalten, schleppst du ein viel zu großes und schweres Mädchen, ungeachtet aller Gefahr, durch eine fremde Welt und versuchst das Unmögliche. Weißt du, was, Jeb?«

»Was?«

»Ich mag dich.«

Als er begriff, was sie ihm gerade gesagt hatte, begann sein Gesicht zu glühen, nur hatte es dieses Mal nichts mit der Hitze der Luft zu tun.

Jenna hatte ausgesprochen, was er die ganze Zeit gefühlt, aber sich nicht getraut hatte auszusprechen. Doch nun, da die Worte zwischen ihnen hingen, wurde er nachdenklich.

Sie waren in einer fremden Welt. Aus der Zeit gefallen, wie Jenna es genannt hatte. Sie wurden gejagt. Jenna war verletzt und es war mehr als unwahrscheinlich, dass sie die Tore rechtzeitig erreichen würden. Wenn kein Wunder geschah, würden sie sterben.

Wie sollte er darauf reagieren? Sagen, dass er sie auch mochte? Sich in ihrer Nähe wohlfühlte und…

Nein, es gab kein »und«, durfte es nicht geben.

»Ich mag dich auch, Jenna.« Jeb wunderte sich über seine Worte, die wie von selbst über seine Lippen kamen.

»Ich weiß«, flüsterte sie leise zurück.

Bis sie den Wald erreicht hatten, schwiegen sie.