40.
Kathy bewegte sich rasch und sicher durch das Gebäude. Es war ein hohes Bürohaus, an dessen bleiche Hauswände der schmutzige Schnee Botschaften des Winters geschrieben hatte. Schwarze Schlieren rannen unablässig am Mauerwerk herunter, schufen ein groteskes Farbenspiel aus Grau und Schwarz in allen Schattierungen.
Innen war es besser. Kathy war aus dem Schnee geflüchtet, den sie nicht mehr ertragen konnte. Viele Fenster waren noch intakt und so hatten Schnee und Witterung nicht allzu viel Zerstörung anrichten können. In den weitläufigen Räumen, die Kathy durchquerte, standen Möbel. Wahrscheinlich war hier früher gearbeitet worden. Viereckige Kästen mit schwarzen Glasaugen verfolgten ihren Weg.
Computer, dachte sie. Das sind Computer.
Doch dieses Wort erzeugte keinen Widerhall in ihren Gedanken. Irgendwo steckten alle Bilder ihres bisherigen Lebens, aber jetzt war Kathy auch nicht in der Stimmung, danach zu suchen. Sie schnaubte vor Wut und Zorn. Und da war Hass. Ihr Körper war zum Zerreißen gespannt, mit kraftvollen Schritten durchmaß sie die Räume und kannte nur ein Ziel. Sie würde die anderen verfolgen und Mary töten. Dann, und erst dann, würde sie sich auf den Weg zu den Toren machen. Wenn diese kleine Schlampe Mischa, Jeb, Jenna und León nicht mehr so um den Finger wickeln konnte, würden diese erkennen, was für eine großartige Kämpferin sie war. Dass sie Kathy brauchten, um zu überleben. Ja! Sie würden endlich verstehen, dass sie Tian nur für das Überleben der Gruppe getötet hatte.
Kathy lächelte. Alles würde gut werden. Vielleicht würde sie Jeb auch noch mal eine Chance geben. Im Gegensatz zu Jenna hatte sie einiges mehr zu bieten. Jeb hatte bewiesen, dass er auf ihre körperlichen Reize reagierte.
Kathy schlüpfte durch eine weitere unverschlossene Tür und hastete zu der großen Fensterfront an der rechten Seite des Raumes. Das Glas war zerbrochen und der Wind trieb Schneeflocken herein, aber sie konnte sich hinter dem breiten Rahmen verbergen und hinunter auf die Straße blicken.
Da! Da sind sie!
Aus dem Schneegestöber schälten sich fünf Gestalten heraus. Die Köpfe gegen den Wind gesenkt, stapften sie nebeneinander die Straße entlang.
Mary hing etwas zurück. Wie immer.
Ich kriege dich noch.
Der Gedanke ließ Kathy aufjauchzen.
Catch the little butterfly,
butterfly is flittering around,
catch it, put it on your hand
– butterfly is standing still–
til you set it free again.
Nein, Mary würde nie wieder fliegen. Mit bloßen Händen würde sie ihr die Flügel ausreißen.
Kathy hatte Durst. Sie schaufelte etwas Schnee von der Fensterbank und steckte ihn sich in den Mund. Er schmeckte bitter. Nach Asche.
Was ist das nur für eine beschissene Welt?
Noch einmal schaute sie auf die Gruppe hinab. Niemand hob den Kopf, niemand sah sie.
Ihr seid so ahnungslos! Wie Kinder.
Vielleicht sollte sie doch alle töten. Kathy wusste, dass sie dazu in der Lage war.
Mach dir nichts vor, Kat. Du kriegst Jeb nicht und León schneidet dir die Kehle durch, sobald er die Gelegenheit dazu bekommt. Okay, Mischa ist in Ordnung. Harmlos. Ein Schaf unter Wölfen. Und Jenna? Auch dieses Problem wird sich leicht lösen.
Kathy kicherte. Die Tore in den kommenden Welten würden allein ihr gehören. Sie würde den Preis erringen und überleben.
Sie würden ihre gerechte Strafe bekommen. Sie hatten kein Mitleid mit ihr gezeigt und sie verstoßen. Nein, wenn es so weit war, würde sie kein Bedauern empfinden.
Plötzlich riss ein Geräusch Kathy aus ihren Gedanken. Sie wirbelte herum. Nichts. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Tür und spähte in den Büroraum. Auch da war niemand.
Trotzdem spürte Kathy es. Sie war nicht mehr allein.
»Bist du sicher, dass die Richtung stimmt?«, brach Mischa das Schweigen und Jeb sah auf.
Die Augenbrauen und die unter der Mütze herauslugenden Haare waren mit Schnee bedeckt. Ebenso die Jacke. Unablässig fielen die dicken Flocken herab, begruben alles unter sich.
Da ihnen der Wind entgegenwehte, kamen sie nur mühsam voran. Das Schneegestöber war so dicht, dass sie kaum etwas sehen konnten und die Augen zusammenkneifen mussten, damit sie nicht permanent tränten. Es war still in dieser Stadt. Unheimlich. Kein Geräusch drang an ihre Ohren. Nur das Knirschen des Schnees unter ihren Füßen.
Obwohl die Straße schnurstracks geradeaus lief, fiel der Weg immer wieder stark ab. Schon zweimal war Jeb an Stellen, an denen der Wind den Schnee aufgehäuft hatte, bis zu den Hüften eingesunken und es hatte ihn einige Mühe gekostet, sich wieder zu befreien. Nun war seine Hose nass und die Kälte kroch seine Beine hoch, er merkte, dass er das eine Bein leicht nachzog, aber er spürte keine Schmerzen. Eine frühere Verletzung? Auf jeden Fall nichts, woran er sich erinnerte. Es lag sicher an der Kälte. Er musste in Bewegung bleiben, denn sobald er anhielt, begann er zu frösteln.
»Wir haben den Stern letzte Nacht gesehen. Die Straße führt in seine Richtung. Solange wir nicht abbiegen, liegen wir richtig«, versicherte Jeb.
»Als würde man durch eine Schlucht laufen, rechts und links nichts als Häuser in Grau und Weiß. Ich kann es nicht mehr sehen, erst die endlose gelbe Steppe, jetzt der ewige Schnee«, haderte Mischa.
»Meinst du etwa, das ist Absicht? Ist das eine weitere Prüfung, ein Test, ob wir verrückt werden in dieser Eintönigkeit?« Jeb war ganz aufgeregt. Hatte Mischa gerade einen weiteren Hinweis entschlüsselt?
»Verfolgt, verrückt oder tot! Was macht das schon?«, fragte Mischa resigniert zurück.
Jeb fiel keine aufmunternde Antwort darauf ein und blieb stehen, um auf die anderen zu warten.
León kam heran. Danach Jenna und Mary. »Lasst uns eine Pause einlegen. Etwas essen und trinken«, sagte der Tätowierte. Die Feuchtigkeit ließ die Linien und Muster in seinem Gesicht glänzen und Jeb fragte sich zum wiederholten Mal, was Leóns Tätowierungen erzählten. Niemand konnte sie verstehen, nicht mal León selbst? Es war ein Rätsel, dessen Lösung nicht einmal annähernd in Reichweite lag.
Jeb blickte auf Jenna und Mary, sie wirkten müde und machten beide einen verlorenen Eindruck. »Okay. Lasst uns Unterschlupf in einem der Häuser suchen und etwas ausruhen.«
Die Türen der nächsten Häuser waren alle verbarrikadiert oder abgesperrt. Mary schimpfte leise. Sie fror, konnte kaum noch das Zittern in ihren Armen und Beinen unterdrücken und war unendlich erschöpft.
Vor ihnen tauchte ein kleiner, merkwürdig geformter Hügel auf. Von Schnee bedeckt wie alles andere, wirkte er dennoch seltsam gleichmäßig und rund. Mary beobachtete, wie Jeb hinüberging und den Hügel absuchte, bevor er mit der Hand ein Loch in den Schnee grub und hineinschaute.
»Das ist ein Auto«, rief er den anderen überrascht zu. Mary stutzte.
Ein Auto! Ja, sie war schon mit einem Auto gefahren, viele Male. In eine Schule voller Mädchen, die alle so gekleidet waren wie sie. Dunkelblaue Jacke, weiße Bluse, dunkelblau karierter Rock, weiße Strümpfe und glänzende schwarze Schuhe. Alle sahen sie gleich aus, nur dass sich unter ihrer Kleidung ein Körper verbarg, für den sie sich schämte.
Jeb hatte noch mehr Schnee zur Seite geschaufelt und versuchte nun, die Tür des Autos zu öffnen, aber es gelang ihm nicht. Die Fahrzeugtür war entweder verschlossen oder – viel wahrscheinlicher – zugefroren. Trotzdem lächelte er.
»Ist das nicht toll?«, fragte er die anderen. »Ich habe das Gefühl, wir kommen unserem bisherigen Leben ein Stück näher. Alles hier, die Häuser, die Straße, die Schriftzüge überall und nun das Auto, das wirkt so vertraut. Ich bin sogar schon mal Auto gefahren, ich erinnere mich genau.«
Sein aufgeregter Atem quoll in kleinen Wolken aus seinem Mund.
»Toll«, meinte Mischa und in Marys Ohren klang es fürchterlich ironisch. »Ein Auto. Kenne ich auch und was bringt uns das jetzt?«
»Darum geht es nicht. Diese Umgebung ist der Welt, aus der wir kommen, ähnlich. Das bedeutet, wir nähern uns einem Ziel. Unserem wahren Leben.«
»Aber die nächste Welt kann schon wieder ganz anders aussehen«, beharrte Mischa düster.
Mary sah, wie die Zuversicht aus Jebs Gesicht verschwand. Mischa hatte recht und alle wussten es. Jenna schaute betreten zu Boden, León stand abseits, nestelte an seinem Rucksack herum.
Ach Mischa, Jeb wollte uns doch nur ein kleines Stückchen Hoffnung geben. Er wollte glauben, dass es vorangeht.
»Wahrscheinlich stimmt das«, meinte Jeb düster. Er blickte noch einmal zu dem eingeschneiten Auto hinüber.
»Jeb, sorry, aber…«, fing Mischa an. Doch Jeb hatte sich bereits abgewandt und ging weiter die Straße entlang.
Gratulation, Mischa. Der Einzige, der uns Kraft und Zuversicht geben konnte, ist nun ebenso frustriert wie alle anderen.
»Er fängt sich schon wieder«, murmelte Jenna neben ihr.
Mary seufzte und wischte mit dem Ärmel über ihre laufende Nase. »Glaubst du?«
»Ich bin mir sicher. Jeb ist…« Jenna verstummte.
»Wenn Jeb nämlich aufgibt, sieht es schlecht für uns aus. Ohne ihn sind wir verloren.«
»Im Augenblick ist er frustriert, aber bald wird sein Kampfgeist wieder erwachen.« Jenna legte Mary eine Hand auf die Schulter. »Er wird nicht aufgeben. Nicht Jeb.«