36.
Während sie ihre Spuren zurückverfolgten, blieb Mary die ganze Zeit in Leóns Nähe. Sie betrachtete sein seltsam tätowiertes Gesicht, das so wenig Raum für Deutungen ließ. Als die anderen es nicht hören konnten, flüsterte sie leise: »Danke, dass du gekommen bist.«
León reagierte jedoch nicht auf ihre Worte, mit gesenktem Kopf schritt er aus und beachtete sie nicht einmal.
Mary blickte zurück und bemerkte, wie Kathy sie unfreundlich anstarrte. Verbissen stapfte sie neben den anderen her.
Dir wäre es lieber gewesen, ihr hättet mich nicht gefunden, dachte Mary. Schnell richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder nach vorn, doch sie spürte Kathys Blick in ihrem Rücken. Soll ich den anderen doch von Kathys Messer erzählen? Werden sie mir glauben? Kathy wird alles abstreiten – und ich hätte ab sofort keinen ruhigen Moment mehr, wenn sie in der Nähe ist.
Mary verschob die Entscheidung auf später. Sie war zum Umfallen müde und hungrig. Noch einmal schaute sie zu León.
Und ich dachte, du kannst mich nicht leiden.
Mischa tauchte neben ihr auf. Seine zerzausten blonden Haare lugten unter der Fellmütze hervor. Sein typisches Lächeln war verschwunden.
»Mary? Der Typ, der dir gefolgt ist, wie sah er aus?«
Sie zögerte, nur widerwillig rief sie das Bild aus ihrer Erinnerung hervor. »Er war groß, dunkel gekleidet. Er hatte einen Bart und…« Mary kam ins Stocken. Wenn sie es aussprach, würde er wirklicher werden. Dabei dachte sie, sie sei ihm längst entkommen. »...ich wusste, dass er nur wegen mir hier ist. Erinnerst du dich an Jebs Zettel?«
»Wie könnte ich den vergessen…« Mischa lächelte sie müde an.
»Vor nichts habe ich mehr Angst als vor diesem Mann. Besser kann ich es nicht erklären.«
Mischa schob seine Hand unter die Mütze und kratzte sich. »Ich glaube, ich weiß, was du meinst. Das gleiche Gefühl hatte ich auf der Ebene. Und trotzdem scheint es mir hier anders zu sein. Wir haben von unseren Verfolgern auf der Ebene nie ein Zeichen gesehen, schon gar keine Fußspuren.«
Mary sah überrascht auf, schwieg aber.
Mischa fuhr fort: »Ich bin echt froh, dass ich hier nicht allein bin. Wir sind eine starke Truppe geworden, finde ich… na ja, mit Ausnahme von Kathy vielleicht…«
Wenn du wüsstest.
»…aber wir alle sind in der gleichen Situation. Und dank euch weiß ich, dass ich nicht allein sterben werde.«
»Und was bringt dir das? Jedes Überleben von einem von uns kostet einem anderen den Tod. Ich finde, das ist schwer zu ertragen.«
Mischas Lächeln wirkte traurig. »Ich weiß. Aber sollen wir uns deshalb wie Bestien benehmen? Einfach einander töten?«
»Ich weiß nicht«, sagte Mary.
»Dann bleibt uns nichts, kein Funken Würde. Wer immer hinter alldem steckt, er hat uns alles genommen. Unser Leben, unsere Erinnerungen und sogar unsere Zukunft, und ich lasse mir nicht auch noch meine Würde nehmen.«
León, der neben ihnen schweigend zugehört hatte, mischte sich nun ein. »Das ist für dich Würde?« Er stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Deine Vorstellung ist was für Schwächlinge. Sieger kriegen die Beute, Schwächlinge behalten ihre Würde und sonst nichts. Sie hilft dir einen Scheißdreck, wenn dir jemand mit einer Waffe gegenübersteht und dich töten will. Nein, so was wie Würde gibt es nicht. Leben oder Sterben. Du oder ich. Wer ist schneller? Wer ist stärker? Darum geht es… vergiss deine Würde.«
Mary konnte ihren Blick nicht von León wenden. Nicht wegen Leóns krasser Aussage, sondern wegen der Tatsache, dass er seine Ansichten überhaupt mit ihnen teilte. Außerdem hatte sie ihn noch nie so viel reden hören. Normalerweise bestanden seine Äußerungen nur aus knappen Befehlen.
Mischa fühlte sich anscheinend nicht provoziert, er sah León nur nachdenklich an. »Du musst früher ein hartes Leben geführt haben, wenn du so denkst.«
León spuckte in den Schnee. »Keine Ahnung, aber ich glaube, so viel anders als diese Scheiße hier war es auch nicht.«
Schwächlingen wie mir hast du in deinem bisherigen Leben sicher keine Chance gegeben.
Mary wusste nicht, ob sie diesen tätowierten Kämpfer hassen oder bewundern sollte. León blieb für sie ein Rätsel.
León blieb stehen. Suchte in der Dämmerung mit den Blicken den Schnee ab. Kathy und Jeb kamen heran.
»Hier haben wir uns von Jenna getrennt, dorthin ist sie abgebogen.« Er deutete auf die Umrisse zweier hoher Gebäude, die sich vor ihnen aus dem Schnee erhoben. An der Fassade eines der Häuser hing ein großes Schild mit riesigen Buchstaben. León konnte den fast zugewehten Schriftzug nicht entziffern, aber das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass Jennas Fußspuren deutlich darauf zuliefen und es keine anderen Abdrücke im Schnee gab. Niemand war ihr gefolgt.
Sie scheint so schwach, aber wenigstens kann sie auf sich aufpassen.
Gemeinsam stapften sie auf die Gebäude zu. Jenna hatte sich für das linke Haus ohne Schriftzug entschieden. Ihre Abdrücke endeten vor einer Glastür, die sich leicht nach innen aufschieben ließ. Das Glas war nur verschmutzt, aber nicht zerbrochen, das wiederum bedeutete ausreichend Schutz vor der Witterung in der kommenden Nacht.
Nacheinander traten sie in die fahle Düsternis ein. Nur wenig Licht fiel durch die Glastür, aber sie entdeckten sofort Jenna, die vorsichtig hinter einer Holzwand hervortrat und erleichtert lächelnd auf sie zukam.
Jeb ging ihr entgegen und legte seine Hand auf Jennas Schulter. »Alles okay?«
León war sich inzwischen sicher, dass zwischen den beiden etwas Besonderes war. Vielleicht gestanden sie es sich nicht einmal selbst ein, aber für ihn war die Zusammengehörigkeit der beiden nicht mehr zu übersehen.
»Ja, aber unheimlich war es trotzdem. Alles ist so still und jetzt, wenn das Licht langsam verschwindet, sieht jeder Schatten gruselig aus.« Jenna blickte zu Mary. »Ist bei dir alles in Ordnung?«
»Geht schon… Hast du jemanden gesehen, Jenna?« León bemerkte, dass Marys Stimme leicht zitterte. Was auch kein Wunder war, schließlich war sie die Einzige, die bisher jemandem aus dieser Stadt begegnet war.
»Nein, keine Menschenseele.«
»Gut«, meinte Jeb. »Aber durch die Schneespuren wissen wir, dass es einen oder sogar zwei Männer in der Nähe gibt. Männer, von denen Mary und Kathy glauben, dass sie uns nicht gerade freundlich gesinnt sind. Mary hat einen von ihnen gesehen, er hatte einen großen Hund dabei und schien sie zu bedrohen, aber er ist verschwunden, als wir aufgetaucht sind. Wir müssen also vorsichtig sein. Ich schlage vor, wir ziehen uns tiefer in dieses Gebäude zurück und stellen Wachen auf. Wir sollten ein wenig schlafen und ich möchte heute Nacht keine bösen Überraschungen erleben.« León wechselte mit Jeb einen Blick und nickte. »Wenn wir Glück haben, klart es in der Nacht auf. Um Mitternacht sollte sich der Stern zeigen, dann beginnt der Countdown und wir müssen die Tore finden.«
Zustimmendes Gemurmel kam auf, auch León zeigte durch eine Handbewegung, dass er mit dem Plan einverstanden war, und forderte Jeb auf weiterzureden. Dieser schien wie immer seine Schritte vorauszudenken und das gefiel León, auch wenn ihm das Gehabe manchmal gehörig auf den Geist ging. Jeb fuhr fort: »Wir schlagen am besten in den unteren Stockwerken unser Lager auf. Dort können wir ein Feuer machen, ohne dass uns der Lichtschein verrät. Einer von uns bleibt hier oben im Erdgeschoss und bewacht die Tür. Die Wache wird mehrfach abgelöst, sodass jeder ausreichend Schlaf bekommt.«
Jeb reichte Mischa seinen Rucksack. »Während ihr nach Brennmaterial sucht, gehe ich hinaus, um unsere Spuren zu verwischen.«