33.

Mary wirbelte herum. Den Rucksack hielt sie schützend vor ihren Körper.

Ihre Augen suchten fieberhaft das Dunkel ab. War da etwas? Woher war das Geräusch gekommen?

Dort neben den Kleiderständern. Bewegt sich da was?

Ihre Blicke bohrten sich in die Düsternis.

Wenn es einer der anderen ist, warum sagt er nichts?

Kathy?!

»Wer ist da?«, rief Mary. »Kathy, bist du das? Komm raus, ich hab dich gesehen!«

Doch Kathy hatte keine gelben Augen und sie knurrte nicht. Mary erschrak bis ins Mark, als sie erkannte, was da in der Finsternis lauerte.

Es war ein Tier, dessen schemenhafte Gestalt jetzt auszumachen war. Große schmutzig gelbe Zähne blitzten hinter speichelgetränkten Lefzen auf.

Ein Hund. Verzweifelt und hungrig. Bereit, mich jeden Moment anzufallen.

Sie wusste für einen Moment nicht, wie sie sich verhalten sollte. Weder der Hund noch sie machten eine Bewegung.

Mary ließ langsam die Hand sinken und schob sie in den Rucksack. Sie tastete mit den Fingern nach dem Trockenfleisch, zog es vorsichtig heraus.

»Ich habe etwas für dich«, flüsterte Mary.

Der Hund knurrte, gleichzeitig wedelte er mit dem Schwanz. Schließlich siegte der Hunger. Zögerlich schnuppernd kam er auf Mary zu. Nun erkannte sie erst, wie riesig dieses Tier tatsächlich war. Obwohl an dem ausgemergelten Körper die Rippen hervorstachen, strotzte der Hund vor Kraft und Wildheit.

Mary warf ihm ihre Essensration hin und zog sich vorsichtig drei Schritte zurück. Der Hund stürzte nach vorn und verschlang in gierigen Bissen das angebotene Fressen. Währenddessen betrachtete Mary ihn genauer.

Das Fell des Tieres war völlig zerzaust, ein Teil des Schwanzes fehlte und jetzt entdeckte sie auch, dass aus einer offenen Wunde an der Pfote Blut hervorsickerte. Anscheinend hatte er sich verletzt. Ihr Blick wanderte weiter zu einer kahlen Stelle am Hinterlauf. Ebenfalls Blut. Diesmal drei blutige Schnitte, wie von einer Kralle.

Oder von einem Messer.

Kathy war von den Fußabdrücken im Schnee wie gebannt. Ihr Verstand war eingefroren, nur langsam sickerte die Erkenntnis durch, dass jemand vor Kurzem hier gestanden haben musste. Und es war nicht Mary gewesen. Dafür waren die Abdrücke zu groß.

Ein Mann hat sich hier aufgehalten. Die Abdrücke sind tief.

Kathy betrachtete die Spuren, die genau vor ihren Füßen endeten und in Richtung der hohen Gebäude führten.

Er ist von dort gekommen und hier stehen geblieben. Dann hat er kehrtgemacht und ist hastig zurückgelaufen.

Die unterschiedlich großen Abstände zwischen den einzelnen Fußabdrücken verrieten ihr das.

Hat er uns gesehen? Warum hat er nicht auf sich aufmerksam gemacht? Warum ist er wieder weggerannt?

Die Antwort war simpel. Er war allein, sie zu fünft. Er war zufällig auf sie gestoßen, hatte nicht erwartet, hier jemandem zu begegnen. Das bedeutete, Menschen waren etwas Ungewöhnliches in dieser trostlosen Einsamkeit. Aber es gab sie.

Warum bist du zurückgegangen?

Du hast Angst vor uns!

Menschen sind in dieser Welt keine Freunde, sondern Feinde, vor allem, wenn sie fremd sind.

Du warst allein. Warum?

Du jagst etwas. Keine Tiere, sonst wären noch andere Spuren im Schnee zu finden.

Nein, du hast es auf Größeres abgesehen.

Menschen.

Und du bist zurückgelaufen, um Verstärkung zu holen.

Der letzte Gedanke traf sie mit voller Wucht. Ohne Zeit zu verlieren, rannte sie zu den anderen zurück.

León hatte weite Kreise gezogen, um Mary zu finden. Unermüdlich stapfte er durch den Schnee und hielt Ausschau nach ihr. In regelmäßigen Abständen blieb er stehen, legte eine Hand schützend über die Augen und blickte konzentriert in die Umgebung.

Nichts. Keine Spuren.

Verwirrt runzelte er die Stirn und schaute zum Himmel. Alles grau in grau. Kathy hatte recht, wie sollte man bei dem Scheißwetter den Stern ausmachen. Sie wussten nicht, wo sich die Tore befanden, ahnten nicht einmal, wie weit sie entfernt waren oder geschweige denn, wie viel Zeit inzwischen vergangen war.

Und jetzt war auch noch Mary verschwunden.

Eine Tatsache, die ihn in Aufregung versetzte. Und das wiederum überraschte ihn. Er war ein Einzelkämpfer, es sollte ihm egal sein. Doch er spürte, dass sie in Gefahr war. Und nicht zu wissen, wo sie sich befand und wie er ihr helfen konnte, machte ihn unruhig.

Also suchte er weiter.

Dann endlich entdeckte er ihre Fußabdrücke im Schnee. Hier war sie in der Welt aufgetaucht, dort drüben hatte ihr Rucksack gelegen und er konnte auch den Weg verfolgen, den sie genommen hatte. Zum Glück hatte der Schneefall nachgelassen, sonst wären ihre Abdrücke längst wieder zugeschneit gewesen. Sie war genau in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Er ballte triumphierend die Faust. Er hatte sich gerade umgedreht, um die anderen zu holen, als Kathy mit schreckverzerrtem Gesicht auf ihn zurannte. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

Kathy war ein kaltblütiges Biest, er hatte nicht damit gerechnet, dass etwas sie derart in Angst versetzen konnte.

Als Kathy keuchend und stammelnd vor ihm stand, packte er sie an den Schultern. »Langsam! Was ist?«

»Ich habe… Spuren gefunden…«

»Ich auch. Mary ist…«

»Nein«, unterbrach sie ihn heftig. »Nicht Mary. Ein Mann hat uns… beobachtet. Als wir angekommen sind. Er hat es auf uns abgesehen… holt Verstärkung.« Sie schnappte nach Luft.

Ein Mann, der Jagd auf sie machte? Anscheinend hatte sie nur Spuren eines Fremden im Schnee entdeckt, aber woher wollte sie dann wissen, dass er ihnen feindlich gesinnt war?

»Hast du ihn gesehen?«, fragte er.

»Nein, ich bin so schnell wie möglich zurückgelaufen. Jenna, Jeb und Mischa sind irgendwo dort drüben.«

»Ich habe Marys Fußabdrücke gefunden«, sagte León. Er deutete auf den Schnee.

Kathy beachtete ihn gar nicht, sondern versuchte, ihn in die andere Richtung zu ziehen. »Lass uns die anderen holen, wir müssen fliehen.«

Nur widerstrebend drehte sich León um. Kathy hatte recht. Sie mussten die anderen warnen und dann zusammen Mary finden.

Jeb, Mischa und Jenna waren nach erfolgloser Suche zum Ausgangspunkt zurückgekehrt, als León und Kathy ihnen entgegengelaufen kamen.

León blieb heftig atmend vor ihnen stehen. Neben ihm keuchte Kathy weiße Atemwolken aus.

»Ich habe Marys Spuren gefunden. Sie scheint sich im Schneetreiben verirrt zu haben und ist tiefer in die Stadt hineingelaufen. Weit ist sie hoffentlich noch nicht gekommen. Wir werden sie finden.«

»Das ist gut.«

»...aber leider nicht alles. Kathy hat ebenfalls Spuren entdeckt, die eines Mannes. Er hat uns wohl beobachtet und ist wahrscheinlich nicht so scharf auf unsere Anwesenheit.«

Jeb sah Kathy fragend an und sie berichtete von ihrem Fund. Als sie damit fertig war, blieben alle stumm, bis Jeb sich zutraute, seine Zweifel zu äußern: »Meinst du nicht, Kathy, dass du übertreibst? Vielleicht hat der Mann einfach nur Angst vor uns gehabt. Wer weiß, wie wir auf ihn wirken. Vielleicht sehen die Menschen hier ganz anders aus als wir. Außerdem war er allein, da wird er uns natürlich erst einmal aus dem Weg gehen.«

»Und warum hat er sich dann bitte so beeilt?« Kathy stemmte die Hände in die Hüften.

»Vielleicht ist er einfach nur vor uns geflohen?«

»Aber wir haben ihn doch nicht mal entdeckt. Normalerweise zieht man sich dann vorsichtig zurück. Dieser Mann hatte es aber definitiv eilig. Für mich sind die Zeichen klar. Wir sind in Gefahr.«

Jeb sah sie nachdenklich an. An Kathys Argumenten war etwas dran, aber er dachte auch an die Waldbewohner, die Jenna und ihm geholfen und sie durch den Wald geführt hatten.

»Was meint ihr?«, wandte er sich an Jenna und Mischa.

Jennas Gesicht verriet nicht, was sie dachte oder empfand, aber ihre Antwort war eindeutig. »Wir können es uns nicht leisten, ein Risiko einzugehen. Wenn Kathy falschliegt, spielt es für uns keine Rolle, wenn sie aber recht hat, schweben wir in großer Gefahr.«

»Mischa?«

»Ich glaube, dass Kathy recht hat. Lieber ein bisschen mehr auf der Hut sein, als uns unnötig Gefahren auszusetzen.«

»Ist ja gut, dann sind wir ab sofort extra vorsichtig. Und jetzt lasst uns endlich Mary suchen«, sagte León ungeduldig.

Jeb nickte und alle marschierten in die Richtung, in die Mary verschwunden war.